Rede Iwan Malkowytschs1 bei der Zeremonie der Verleihung des Schewtschenko-National-Preises am 9. März 2017.
Mitte der 80er Jahre gab es unter einigen jungen Dichtern beliebte Spielchen, insbesondere folgendes: wir zitierten einem der „Uneingeweihten“ einige bedeutende Zeilen und baten ihn zu erraten, wer sie geschrieben hat.
So zum Beispiel: „Durch den Regen verschwammen die Worte … Und nicht durch den Regen, und nicht die Worte …“ Die Leute nannten Winhranowskyj und noch jemanden, die Beleseneren vermuteten, es sei Eliot oder Saint-John Perse … Wie zerfloss es uns im Munde ihnen zu eröffnen, es sei Schewtschenko! Und ebenso das „Wir sind Gefallene auch wenn wir ein Tröpfchen nach dem Bild Gottes sind“ oder etwa „Fertig! Die Segel sind gesetzt…“ genauso von Schewtschenko sind.
Wir rühmten Schewtschenko wie in dem altukrainischen religiösen Cantus: „Und Dich, lieber Gott, rühmen wir immerdar.“ Wie sehr wollten wir der ganzen Welt nahebringen, dass Schewtschenko modern und aktuell sei, wo man ihn immer nur mit Bauernromantik und Abstempelung von Herren in Verbindung brachte und das Bild des Nationalgenies herunterdrückte auf die Figur eines armen Kobsars, der traurig die Saiten der Kobsa oder der Bandura zupft. Also „Lasst uns lesen ‚Dienstmädchen“ und die ‚Linde’ und vergessen ‚Die Toten und die Lebenden’, wie ein zeitgenössischer Dichter scharfzüngig witzelte.2
Das Problem ist, dass in weiten Kreisen von Schülern und Studenten noch weiter dieses Bild Schewtschenkos vorherrscht – ein Leibeigener und bäuerlicher Dichter und Märtyrer.
„Nehmen Sie Schewtschenko die Mütze ab. Und diese blöde Jacke. Öffnen Sie in ihm den großen Gelehrten. Mehr noch den, der wacker neue Wege sucht“ – forderten Dratsch und viele andere Dichter seit einhundert Jahren. Unsere ukrainische Natur aber kreist weiter um das Bild des Märtyrers und verdunkelt so das wahre Bild des Dichters Schewtschenko, dessen „Kobsar“ – insbesondere in Zeiten der Staatenlosigkeit – noch bis heute als wichtigster Grundsatztext des Geistes der Nation galt. Viele Dichter haben gelitten und sind umgekommen, aber nur wenige gaben einer ganzen Nation Zuflucht im Wort.
Nicht zufällig starb in unseren dramatischen Tagen der tapfere Sohn des alten armenischen Volkes Serhij Nikojan im Zentrum Kiews für die Ideale der Würde gerade mit den Worten Schewtschenkos auf den Lippen: „Kämpft – und Ihr werdet siegen!“
Nicht zufällig stand, jenes unvergessliche Protestgebrüll der wachsenden Schar des Schlachtfeldes übertönend, eine junge ukrainische Schriftstellerin auf dem Gipfel einer Barrikade an der Hruschewskyj-Straße, deutete mit dem Finger auf die Janitscharen und zitierte mit tödlicher Kraft Schewtschenkos: „In Judäa, in jenen Tage, zur Zeit des Kaisers Herodes … beschmutzten die römischen betrunkenen Legionen…“3
Die Gedanken Schewtschenkos klingen in vielen seiner Werken nämlich wie schwerer, tiefer Rock und nicht wie träufelnder Pop.
Ich träume davon es noch zu erleben, dass man in der Schule den Kindern nicht mehr mit Tränen in den Augen von dem unglücklichen Leibeigenen erzählt, der rechtlos und sprachlos als Knecht bei Herren diente, sondern dass man das Muster ändert und beschwingt von dem unglaublichen Knaben spricht, der so sehr vor Talent glühte, der ohne Vater und Mutter und scheinbar ohne jegliche Chance auf Glück sich selber verwirklichte.
Sein Glühen sahen alle – auch jener rechthaberische betrunkene ältere Mann, mit dem der kleine Taras den Psalter für die Toten las – aber er las von allen Gleichaltrigen am besten – und selbst der eigensinnige Pawlo Engelhardt, zu dem der Jüngling ging und den er um Erlaubnis bat, bei einem Maler im Dorf Chlypniwka zu malen, denn er mochte es seit Kindheit an Soldaten und Pferde zu malen, es war seine größte Leidenschaft, und er suchte hartnäckig einen Lehrer.
Engelhardt wurde schnell klar, dass er einen wahren Schatz in den Händen hielt, denn Taras war sehr niedlich, sehr klug, und er machte alles spielerisch, voller Talent – einen besseren konnte er nicht finden! Und er nahm den Jüngling zunächst mit nach Wilna und dann in die Hauptstadt.
Schewtschenko durchlief dabei eine große Schule in der Malerei, sein künstlerisches Auge erfasst alles. Es zeigte sich, dass das Leben eines Herrn auch seine Widersprüche hat. In jedem gesellschaftlichen Status gibt es eigene Ungereimtheiten und Turbulenzen. Und trotz des klaren Klassengegensatzes schreibt Schewtschenko dann nieder, wie wir oft zitieren:
Beneide nicht den Reichen:
Der Reiche kennt nicht
weder Freundschaft noch Liebe -
Er bestellt dies alles…
Der praktisch veranlagte Nachkomme einer schweizerischen Familie hat seine Pläne für den talentierten jungen Mann, er gibt ihn in eine vierjährige Lehre an den Maler Schyrjajew, denn er möchte seinen eigenen Haus- und Hofmaler haben. Der Herr würde aber den jungen Mann nie in die Lehre geben, wenn der Jüngling nicht so heftig danach gedrängt hätte, wenn er nicht danach gebrannt hätte…
Nun stellen Sie sich vor, was für ein gewaltiges und leuchtendes Talent er haben musste, dass sich um seinen Freikauf aus der Leibeigenschaft und seinen Eintritt in die Akademie so bedeutende Leute wie Schukowskyj, Brjulow und viele andere verwickelt waren. Das war eine irgendwie irreale Geschichte! … Eine wirkliche Erfolgsgeschichte. Gleichwohl muss man klar anerkennen: wenn die Mehrzahl jener Menschen gewusst hätte, dass sie vor allem einem Dichter helfen, wäre das möglicherweise nicht geschehen.
Kindern und Studenten gegenüber also soll man betonen, dass ein starker und tüchtiger Traum uns alle Wege öffnet, selbst bei scheinbar ungünstigsten Umständen, und dafür muss man hartnäckig und stur arbeiten. Auch das Beispiel Schewtschenkos soll sie beflügeln, und sie nicht in Hoffnungslosigkeit fallen lassen.
Die Silber-Medaille der Akademie, Akademiker für Stiche, Ausmalung des Bolschoj-Theaters, ein hochgebildeter junger Mann, der die Gelegenheit hat, seine Ausbildung in Rom fortzusetzen, so einer ist Schewtschenko. Ihn erwartet ein magisches Leben – er sah, wie die höheren sozialen Schichten leben, er hätte ein Dandy werden können, war beliebt in der fröhlichen schöpferischen Gemeinschaft – denn er war nicht nur ein Künstler, sondern singt auch wundervoll und dichtet mit leichter Hand…
Aber es stellt sich heraus, dass das, was seine innere Glut ausmacht, nichts weniger als ein Schirm ist, es ist das Feuer der Wahrheit. Nicht für einen Moment vergisst er seine Wurzeln und diese Nicht-Wahrheit, die in seiner Heimat herrscht.
Schewtschenko hat den Mut, sich nicht in die Reihen derer, die den russischen Zaren rühmen, einzureihen, der vielleicht „etwas verkehrt angezogen“, doch auch an seiner Freilassung aus der Leibeigenschaft beteiligt war. Für den Genius stand die Wahrheit über allem.
Und Schewtschenko gießt seine Wahrheit in Poesie, und seine Worte strömen in einer solchen göttlichen Reihenfolge, dass sie miteinander verbunden, uns die unendliche und unvergängliche Energie des ukrainischen Geistes geben.
Schewtschenko versteht, wie diese Wahrheit auf sein Leben Einfluss haben kann, er weiß, was man mit denen macht, die entgegen laufen – mit Wort und Tat, wie es Rylejew gemacht hat (nach dessen Namen man unsere Straßen benennen sollte – wir müssten bloß an fast jeder Straße die ukrainischen Namen der Werke Rylejews lesen – „Wojnarowskyj, Masepa, Nalywajko, Bohdan Chmelnyzkyj – einen größeren Ukrainophilen unter den russischen Schriftstellern gab es nicht und wird es wahrscheinlich nicht geben.
Allerdings kann und will Schewtschenko nicht die Wahrheit zu etwas verdrehen, wo gerechter Zorn und Traum von einer idealen, beinahe mythischen Ukraine siedend blubbern.
Und nun schämen sich seine Landsleute nicht, den Leuten zu zeigen: Schaut her, es gibt uns, denn in den Zeiten, als über die Slawen Gott der Schöpfer hinwegflog und den Samen der Genies aussäte, der in Polen 1898 mit Mickiewicz, in Moskowien 1799 mit Puschkin, da hat er 1814 die Ukraine nicht vergessen, auch wir sind im Plan des Gottes, des Allmächtigen, vorhanden.
Daher ist es gemeinsam mit Euch unsere heilige Pflicht, die Wahrheit zu bezeugen. Und die Wahrheit ist heute die, dass unser Staat sich fast nicht um die ukrainische Sprache kümmert, dass beinahe alles mit großsprecherischen aber leeren Phrasen beginnt und endet.
Uns, die Vertreter der ukrainischen Sprache, behandeln noch heute viele unserer Mitbürger wie exzentrische Eingeborene. Noch jetzt drehen wir wie die Sonnenblume zur Sonne die Köpfe, wenn wir ein ukrainisches Wort hören. Bis jetzt ist das notorische Kiwalow-Gesetz (gemeint ist das Regionalsprachengesetz von 2012, nachdem Minderheitensprachen der Amtssprache gleich gesetzt werden können, A.d.R.) nicht aufgehoben, das eine Schande für die gesamte Nation ist.
Nicht selten kommen in unseren russifizierten Städten auf der Straße Leute auf mich zu und danken mir auf Russisch für ein Buch. Aber meine Bücher sind ukrainisch. Das heißt die Leute geben auf diese Weise zu verstehen, dass sie dafür sind, dass ihre Kinder auf Ukrainisch lesen und lernen. Ihnen gelang das aus verschiedenen Gründen nicht, aber ihre Kinder sollen sie kennen und schätzen.
Es sollte endlich ein Gesetz geben, dass das Recht eines jeden Ukrainers schützt, alle Dienstleistungen in ukrainischer Sprache zu erhalten – vom Geschäft und den öffentlichen Institutionen bis zu den Hochglanz-Magazinen, den Radiostationen und zum Fernsehen, wo alle ohne Ausnahme die Talk-Shows und Programme in der Staatssprache abhalten sollten (mit genau bestimmten Ausnahmen für die Krimtataren und wenige andere nationale Minderheiten, die hier dichtgedrängt leben.
Man sollte die Schilder, die in der Sprache des Aggressors geschrieben sind, vor allem jene mit spöttelnden Namen der Art „Warjenitschnaja Katjuscha“4 – so wie dieser Moskal täglich und stündlich unsere unglückliche Katharina besudelt – auf ein vernünftiges Minimum reduzieren.5
Man sagt, das Sprachgesetz könnte jemanden verletzen, aber das ist nicht wahr. Sein Fehlen schadet. Stellen Sie sich vor, wie viele wunderbare moderne ukrainische Lieder wir für uns entdeckt haben, seitdem das Gesetz über die Musik-Quote rechtskräftig wurde.
Einmal hat der immer junge Nasar Hontschar sehr geschickt Schewtschenko paraphrasiert. Als er über „Werwölfe im Holunder“ schrieb, beendete er sein Gedicht mit der Zeile Schewtschenkos, aber leicht verändert: „Und die Nachtigall ist nicht für diese“.6 Und in der Tat ist die Nachtigall nicht für sie.
Es ist bekannt, dass die Sprache Schlüsselmarker der nationalen Selbstidentifizierung ist. An die Stelle kann auch treten die Nationalfahne, das Wappen und selbst zu unserem sehr großen Bedauern, das Territorium, aber wie Lesja Ukrainka die Worte des Iren Thomas Davis zitierte „Eine Nation muss ihre Sprache stärker verteidigen als ihr Territorium … Die eigene Sprache zu verlieren und die eines Fremden zu lernen … das ist das schlimmste Zeichen der Unterwerfung.7
Als Churchill während des Zweiten Weltkrieges mit seinen Beamten über das den Staatshaushalt beriet und diese die Kulturausgaben zugunsten der Armee kürzen wollten, war Churchill empört. „Aber was werden wir dann verteidigen?“, fragte er.
Leider sind unsere Beamten weit von Churchill. Sie (und nicht nur sie) verstehen nicht, dass nur hier, zwischen diesem Himmel und dieser Erde, solche Worte geboren werden wie schyto (Roggen), Dnipro, tschowenze (Kahn), mrija (Traum) und viel andere schöne Worte. Und dass hier alles nur dann ok wird, wenn wir die ukrainische Sprache überall vernehmen werden, wenn wir im Ozean der Muttersprache sein werden.
Vielleicht bin ich ein Utopist, aber solch eine Idee wird in unserer Medienwelt überall ausgesprochen: Wenn es hier die ukrainische Sprache geben wird, das wird’s bei uns ok, wenn aber nicht, dann wird hier der ewige Putin sein, welchen Namen er auch immer trägt.
Denn es ist gesagt: Am Anfang war das Wort, das, wie man weiß, das Bewusstsein formt. Und mit diesem Wort kehren wir notwendigerweise zu uns selber zurück und tauchen schließlich vollblütig / höchst lebendig auf der kulturellen Landkarte der Welt auf.
In meinem bescheidenen kleinen Büchlein, das heute zu so hohen Ehren gekommen ist, gibt es ein Gedicht über die staunenswerte Besonderheit des ukrainischen Alphabetes, das mit Anhel [Engel] beginnt und mit Janhol [Engel] endet, sie beide schützen gleichsam unser Alphabet von A bis Ja – Anhel und Janhol.8
Dies gibt es in keiner anderen Sprache. Aber manchmal ist auch ihr Schutz leider nicht genug, denn diesen Schutz muss auch der ukrainische Staat garantieren. Und wenn wir einen anständigen Schutz auch der Sprache haben werden, und des Staates, dann endlich…
…wird geschlagen
der von den Zaren gesäte Roggen!
Und Menschen wachsen hervor. Sterben werden
die noch ungezeugten Zarenkinderlein …
Und im erneuerten / wiedergeborenen Land
wird es keinen Feind geben und keinen Annektierer / Gegner.
Und es wird einen Sohn geben, und es wird eine Mutter sein,
Und es werden Menschen auf der Erde sein.
9. März 2017 // Iwan Malkowytsch
Quelle: Zaxid.net, Zbruc und andere.
1 Iwan Malkowytsch ist Musiker, Dichter und Verleger – Verlag A-BA-BA-HA-LA-MA-HA – und quer durch die Ukraine angesehen und geschätzt. Dies drückte sich auch in der umfassenden Zustimmung aus, dass der wichtigste ukrainische Kultur-Preis, der letztes Jahr nicht vergeben wurde, dieses Jahr an Malkowytsch ging.
2 Die Bemerkung zu den beiden Balladen und der Epistel stammt von Dmytro Pawlytschko.
3 Irena Karpa, nun in der Kulturabteilung der ukrainischen Botschaft in Paris tätig, zitierte im Januar 2014 diese Verse aus dem Kobsar.
4 „Katjuscha“, ungefähr „Kleine Warenyky-Katja“ – eine Kette von Schnellrestaurants.
5 „Katerina“ ist ein Gedicht (1838) und Gemälde Schewtschenkos (1842).
6 Indem Hontschar, der 2009 nur 45-jährig verstarb, „sa tych“ trennt, wird aus dem Schweigen der Nachtigall – „verstummte nicht“ – eine Positionierung, ein Wortspiel, das viele der anwesenden Kiewer Journalisten nicht verstanden.
7 Thomas Davis, 1814-1845, schrieb, publiziert in seinen „The memoires of an irish patriot“ 1840-1846, London 1890: „A nation should guard its language more than its territories … To ‚loose’ your native tongue, and to learn that of an alien, is the worst badge of conquest – it is the chain on the soul.”
8 Im Deutschen müsste man „A bis Z“ übersetzen, „Ja“ ist der letzte Buchstabe des ukrainischen Alphabets und könnte nachahmend (kaum mehr bekannte) Namen von Engeln einsetzen, etwa „von Ariel bis Zachariel“. – Das Gedicht „Anhel i Janhol“ findet sich in dem schönen Bändchen „Podoroschnyk s novymy virschamy“ (Fahrtenbuch mit neuen Versen). Kiew 2016, Seite 245.
Den ersten Kommentar im Forum schreiben