Dezember-Thesen anlässlich des 10. Jahrestages der Massenproteste in der Ukraine


Vor zehn Jahren begannen in der Ukraine Massenproteste.

„Es schweigt in allen Sprachen, doch es gedeiht.“

Doch zu Beginn des Jahres 2000 kündigte nichts den Sturm an. Im Zuge der Umwälzungen im parlamentarischen System installierte Präsident Kutschma neben der Führung der Rada ihm gefügige Leute. Im März fand das Referendum „Für eine Volksinitiative“ statt.

Und obwohl die Opposition behauptete, dass an der Willensäußerung nur insgesamt 30% der Ukrainer teilgenommen hatten, stimmten 90% von ihnen für das Recht des Präsidenten das Parlament aufzulösen und für die Abschaffung der Immunität der Abgeordneten.

Im Juni „implementierte“ die Oberste Rada bei der ersten Verlesung die Resultate des Referendums. Dazu ist zu sagen, dass für die „Implementierung“ auch Abgeordnete stimmten – Anhänger von Premier Juschtschenko und Vize-Premier Timoschenko.

Kutschma blieb nur noch die nächste Legislaturperiode abzuwarten, um die außerordentlichen, diktatorischen Vollmachten anzunehmen.

Somit befand sich alles in Händen des Präsidenten. Die Mehrheit der Medien riskierte es nicht, die Staatsmacht zu kritisieren, und Internet-Medien wie die „Ukrajinska Prawda“ hatten durch die Unterentwicklung des Netzes nicht genügend Publikum.

Die „Adler“ des Ministers für innere Angelegenheiten Krawtschenko waren bereit, jeden beliebigen Auftrag des Präsidenten zu erfüllen. Mit gigantischen Schritten gingen im Land die Marktreformen voran, in deren Folge eine geringe Anzahl von Kapitalisten, die der Administration des Präsidenten und der Regierung nahe standen, reich wurde.

Das Verschwinden eines Journalisten

Am 16. September verschwindet der Gründer der „Ukrajinska Prawda“ Georgi Gongadse. Georgi war nicht der erste, und leider auch nicht der letzte Journalist, der seit der ukrainischen Unabhängigkeit verschwand oder ums Leben kam. Dieser Fall hatte jedoch eine bedeutende Resonanz, in erster Linie unter den Mitgliedern der Journalisten.

Am 28. November veröffentlicht der Führer der Sozialisten Oleksandr Moros die „Tonbandaufnahmen des Major Melnytschenko“, auf denen der Name Gongadse von den Stimmen Kutschmas, Krawtschenkos und dem Vorsitzenden der präsidialen Administration Lytwyn genannt wird. Moros beschuldigt den Präsidenten des Auftrages zur Beseitigung des Journalisten.

An dieser Stelle, wie es schien, endet alles.

Etwas muss getan werden

Am 11. Dezember hatte Michail Swistowitsch Geburtstag. Er und Oleh Lewytzky sowie Andrij Pidpali gingen am Büro des Institutes „Die Republik“ auf der Gorki-Straße vorbei. Sie feierten nicht viel, dafür sagten sie aber, dass „etwas getan werden muss.“

Die Worte Michails: „Wenn wir nicht die ukrainische Demokratie retten, retten wir wenigstens ihre Ehre“, waren nicht im Mindesten pathetisch. Zumindest wurden sie nicht wie Pathos aufgenommen. Sie entschieden, dass man auf den Maidan gehen müsse und Zelte aufstellen – wie zur Zeit des studentischen Hungerstreiks von 1990.

Sie rechneten damit, dass sie 100-150 Freunde animieren könnten. Noch in der Nacht rief Michail Swistowitsch den Presse-Sekretär Morosows Juri Luzenko an. Schnell wurde offensichtlich, dass man sich auch unter den Sozialisten mit dem Gedanken trug, dass „etwas getan werden muss“. Mit solchen Gedanken lief der Verleger der Zeitung „Hrani“ Saschko Potajenko durch die sozialistische Partei. Die gleiche Einstellung hatte auch die sozialistische Jugend – SKM. Doch weiter als bis zu Gedanken und Äußerungen reichte die Arbeit nicht.

Der Tag der Freiheit

Sie gingen am 15ten raus. Genau an demselben Tag schloss Kutschma offiziell das Atomkraftwerk in Tschernobyl und in Kiew waren viele ausländische Journalisten. Es kamen natürlich nicht 150, sondern nur 50. Zelte konnten nur aufgestellt werden, weil die Abgeordneten der Sozialisten vor der Miliz schützten.

Die ersten Forderungen waren – Untersuchung der „Sache Gongadse“ und der Rücktritt Kutschmas und ebenso der „Mächtigen“ – Krawtschenko, Derkatsch (Vorsitzender des Geheimdienstes) und Potebenko (Generalstaatsanwalt).

Wie von selbst tauchte die Losung „Ukraine ohne Kutschma“ auf. Es ging hier nicht um Kutschma im Besonderen, sondern um das System, das in seiner Regierungszeit erschaffen worden war. Ein autoritäres System, das zum unbestraften Verschwinden und dem Tod von Journalisten und Bürgern, die nicht Journalisten waren, geführt hatte.

Ein genauer Plan oder eine Strategie existierten nicht. Man dachte, dass das Zeltstädtchen in der Nacht weggetragen werden würde. Damals war es im Unterschied zu den späteren Protesten, insbesondere von 2004, wirklich gefährlich. Aber die, die sich damals auf dem Maidan versammelt hatten, begriffen, dass sie freie Bürger geworden waren. Am 15. Dezember 2001 entschieden die Teilnehmer der Aktion Ukraine ohne Kutschma (UBK) diesen Tag den Tag der Freiheit zu nennen.

Eine quasipolitische Zusammenkunft

Auf einmal begannen sich Menschen dazuzugesellen. Angehörige der Ukrainischen Volksselbstverteidigung (UNSO) kamen organisiert. Sie schützten das Zeltlager. Es erschien auch die Ukrainische Volkspartei „Sobor“. Jewhen Schowtjak erschien mit seiner Kiewer Organisation Ruch (Bewegung) – ungeachtet der Position der Führung seiner Partei.

Es kam die Führung der Administration des Schewtschenko-Stadtteils der regierungstreuen SDPU (Sozialdemokratische Partei der Ukraine) und teilte mit, dass sie die Politik ihrer Führung nicht unterstützt. Es wurde vereinbart, dass niemand seine Parteisymbolik nutzen solle.

Swystowitsch schrieb eine Internet-Botschaft an die unter Führung von Markian Iwaschtschischin im studentischen Hungerstreik stehenden Kollegen in Lwiw. Als Antwort darauf organisierten diese das Komitee „Für die Wahrheit“ (Sa prawdu) und eine Anzahl von Aktionen in Lwiw und fuhren nach Kiew zur Unterstützung des Zeltstädtchens.

Dennoch wäre der „quasipolitischen Zusammenkunft“ eine schnelle Niederlage beigebracht worden, wenn nicht das Volk auf die Straße gegangen wäre. Am 19. Dezember gingen, nach den vorsichtigsten Schätzungen, 20.000 Bürger zur Rada (Parlamentsgebäude). Das war ein Vielfaches der Zahl derer, die sich auf dem Maidan versammelt hatten.

Keine Partei, kein Politiker hätten damals eine solche Anzahl von Menschen mobilisieren können. Allein soziale Motive konnten sie mobilisieren.

Das Volk geht auf den Maidan

In dem Dokumentarfilm „Gesichter des Protestes“ treten als Helden auch Bauern auf, die entgegen dem Willen ihrer ländlichen Vorgesetzten die Teilnehmer des Marsches UBK (Ukraine ohne Kutschma) von Schytomyr nach Kiew im Februar 2001 aufnahmen.

Sie riskierten in der Tat viel, indem sie den „Aufrührern“ im eigenen Dorf Obdach gaben. Sie wussten kaum, wer Gongadse ist. Auch die politischen Pläne in Kiew beschäftigten sie kaum. Doch sie traten der Bewegung UBK zahlreich bei. Ihr Leben nötigte sie dazu beizutreten.

In der Tat wurde der Gang einer Gruppe von Menschen auf den Maidan zum Streichholz, das man zu einem Fass mit Pulver gebracht hat. Pulver, das sich während der äußerlich ruhigen autoritären Regierung Kutschmas mit seinen explosiven Eigenschaften angereichert hatte. Im Dezember 2000 fanden die sozialen Widersprüche der ukrainischen Gesellschaft Ausgang auf den Straßen von Kiew und vielen anderen ukrainischen Städten.

Die Forderungen der Teilnehmer der Proteste gingen über die „Sache Gongadse“ hinaus. Sie reichten nicht nur bis zum Rücktritt Kutschmas und zum Sturz des Systems des präsidialen Autoritarismus, sondern auch an die Veränderung der sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse. Diese Forderung – die Forderung nach Veränderung des Systems – wurde damals zum ersten Mal in der Ukraine artikuliert.

Die UBK, an der sich Studenten, Arbeiter, Bauern, die Intelligenz und Kleinunternehmer beteiligten, wurde tatsächlich zu einer sozialen Bewegung. Sie war die erste Massenbewegung für Bürgerrechte, Demokratie und gegen das System des Oligarchen-Kapitalismus in der unabhängigen Ukraine.

„Ukraine ohne Kutschma“ war eine Aktion von Bürgern. Keine politische Partei vermochte es damals, die Proteste zu lenken. Und die Forderungen der Protestanten beschränkten sich nicht auf den Austausch des Präsidenten durch einen anderen. Ihre Forderungen gingen viel weiter.

Als man uns fragte: „Ukraine ohne Kutschma? Aber mit wem dann?“, antworteten wir: „Mit uns und mit Ihnen!“ Darin bestand mit Sicherheit der größte Sieg der UBK – die Ukrainer sagten sich vom Autoritarismus mit Führern und „gütigen Zaren“ los. Sowie 2004 gesagt entschieden worden war, mit wem, erlitt die Bewegung eine Niederlage. An der Aktion „Ukraine ohne Kutschma“ beteiligten sich Bürger aus dem Osten und dem Westen, dem Norden und dem Süden des Landes. Damals wurde auch die Losung „Osten und Westen gemeinsam!“ ins Leben gerufen. An der Aktion UBK beteiligten sich gemeinsam Menschen, die sich selbst entweder als „links“ oder als „rechts“ positionierten, mit Ausnahme von bekennenden Nazis. Für alle war die demokratische Ordnung in der Ukraine das Hauptziel.

Alles Gute zum neuen Jahr, Maidan!

Vor dem Neujahr verließ die UBK den Maidan, ließ ein symbolisches Zelt zurück, neben dem Aktivisten und Abgeordnete ständig wachten. Das neue Jahr begrüßte man ebenfalls neben dem Zelt, indem man direkt in die Ohren des Präsidenten rief: „Kutschma – fort!“ Die Sprecherin der UNSO, Tetjana Tschornowil, übergoss ihn mit Champagner.

Die Aktion wurde nach den Weihnachtsfeiertagen wiederbelebt, doch die Kiewer Stadtverwaltung ließ den Maidan für eine Rekonstruktion umgraben (dank dieser „Rekonstruktion“ haben wir den Maidan nun in der Ansicht, wie er sich heute darstellt). Bauarbeiter umgaben die Zelte mit einem Zaun und Walentina Semenjuk schlug mit einem Hammer Löcher in diesen Zaun, damit man herausgehen konnte. Der Maidan war also umzäunt worden, die Zelte waren entlang dem „Chreschtschatyk“ (Straße in Kiew) angeordnet.

Im Januar erneuerten sich die Massenaktionen. Und als die Zeit herangerückt war, die Resultate des Referendums von Kutschma in der zweiten Lesung zu „implementieren“, stimmten unter der Begleitung der Proteste lediglich 169 Abgeordnete dafür (nötig sind 300). Die Pläne Kutschmas alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren, wurden nicht realisiert. Zu dieser Zeit begann der Verfall des Kutschma-Regimes.

Das Verhältnis der Politiker zum Maidan

Mit Beginn des Jahres 2001 aktivieren sich die Politiker, die im Dezember 2000 noch abwarteten und sich bedeckt hielten – die Proteste hören auf. Im Januar entlässt Kutschma Timoschenko vom Posten des Vize-Premiers und sie initiiert die Stiftung eines Forums der nationalen Rettung, um die Proteste unter ihre Kontrolle zu bringen. Allerdings gelang die Lenkung nicht – es gelang die Desorganisation. Juschtschenko blieb Kutschma bis zu seiner eigenen Entlassung im April treu. Und nach seiner Entlassung trat er einige Zeit lang nicht in der Opposition in Erscheinung. Am 13. Februar bezeichnete Juschtschenko zusammen mit Kutschma und dem Parlamentssprecher Pljuschtsch in der bekannten „Erklärung der drei“ die Teilnehmer der UBK als National-Sozialisten. Desweiteren weigerte sich der Premier Juschtschenko gegenüber dem Präsidenten die Entlassungen Krawtschenkos und Derkatschs zu unterzeichnen. Demzufolge entließ Kutschma sie selbst.

Der 9. März

Am 1. März 2001 räumte die Miliz das Zeltstädtchen am Chreschtschatyk. Und am 9. März erstickte das Regime die erste Massenprotestbewegung in der unabhängigen Ukraine. 18 Teilnehmer, Angehörige der UNSO, kamen ins Gefängnis.

Leider ist bis heute die Rolle der damaligen Staatsführung sowie einiger Vertreter der politischen Opposition bei den Ereignissen des 9. März – massenhafte Zusammenstöße von Vertretern der UBK und der Miliz – unklar. Und in der Zeit der „orangenen Revolution“ fand die Staatsmacht auch keine Antwort auf die Frage: Wer provozierte die Zusammenstöße? Die Staatsmacht zur Zeit der „orangenen Revolution“ tat selbst auch nichts für die Rehabilitation der politischen Gefangenen.

„Die Sache des 9. März“, das ist ein besonderes Thema. Aber so oder so waren die Ereignisse für die Teilnehmer der UBK nicht nutzbringend. Denn mit diesem Tag begann der Rückgang der Protestaktivitäten.

Niederlagen und Siege

„Ukraine ohne Kutschma“ erreichte nicht ihr Primärziel – den Rücktritt Kutschmas – und auch nicht ihr Hauptziel – die Veränderung des politischen und sozialen Systems. Unter konkreten Erfolgen kann man nur die Entlassung des Innenministers und des Vorsitzenden des SBU (Geheimdienst) nennen.

Aber wesentlich ist ein anderer Sieg. Ein Sieg, den man nicht materiell wahrnehmen kann: nach der UBK veränderte sich die Ukraine im Inneren.

Schon im Mai 2001, nur ein Jahr nach dem Referendum Kutschmas, fanden Soziologen heraus, dass die Mehrheit der Ukrainer nicht die Präsidialrepublik, sondern die parlamentarische Republik unterstützen. Und was noch wichtiger ist, die Ukrainer haben verstanden, dass man für seine Rechte kämpfen kann und muss. Die Ukrainer fingen an, an ihre Kraft zu glauben. Und sie haben verstanden, dass Rechte nicht gegeben, sondern genommen werden.

Die äußere Niederlage wurde zu einem inneren Sieg.

Dank der UBK kam es zu der Aktion „Steh‘ auf, Ukraine!“ und den Ereignissen des Jahres 2004. Aber im Unterschied zur UBK wurden diese von Politikern geführt, deren Hauptziel nicht die Veränderung des Systems, sondern die Macht war. Und diejenigen, die 2004 auf der Bühne des Maidan standen, beschränkten die sozialen Bestrebungen der Menschen in einer einzigen Losung: „Juschtschenko – Ja!“ damals wurde ein äußerlicher Sieg errungen – Juschtschenko wurde Präsident. Aber mit der Zeit entstand innere Enttäuschung. Der äußere Sieg verwandelte sich in eine innere Niederlage.

Die Revolution geht weiter

Das System hatte sich erneut nicht geändert. Es begann sich Autoritarismus zu entwickeln. 2010 wurde der einheitliche systemische Änderungsprozess, der 2004 begonnen hatte, eingestellt – die Verfassungsreform. Die Marktreformen, die die damals „Orangenen“ und nun die „Blau-weißen“ durchgeführt haben, verstärken die sozialen Widersprüche weiter.

Und diese sozialen Widersprüche werden die Ukrainer erneut auf die Straße führen. Der Journalist der französischen Zeitung „Figaro“ Saint-Exupery (Enkel des Bruders von Antoine de Saint-Exupery), der 2001 nach Kiew kam, um über die Prozesse im Land zu schreiben, charakterisierte diese sehr kurz. „Revolution continues.“ (die Revolution geht weiter)

Heutzutage protestieren Studenten gegen kostenpflichtige Bildung, die unabhängigen Gewerkschaften gegen den Gesetzesentwurf des Arbeitsgesetzbuches, Unternehmer gegen das Steuergesetzbuch.

Und diese Proteste sind denen der UBK sehr ähnlich. Vor allem durch ihren sozialen und bürgerlichen Charakter (ohne führende und lenkende Rolle der politischen Opposition). Die Bürger haben erneut ihre Kraft gezeigt, so ist es der Staatsmacht denn nicht gelungen, eine ihrer „reformerischen“ Initiativen auf gesetzlichem Wege umzusetzen. Darin ist, wie das Jahr 2010 gezeigt hat, nur der Anfang zu sehen. Noch sind ebenso keine sozialen Ursachen für Proteste aufgetaucht, wie auch sich die soziale Natur der Staatsmacht nicht geändert hat. Der Staatsmacht des Großkapitals.

Der Kampf geht weiter. Und er wird weitergehen, solange bis die sozialen Widersprüche in der ukrainischen Gesellschaft nicht gelöst sein werden, bis sich Arbeiter, Studenten und Kleinunternehmer zu einem Strom zusammenschließen und die Hauptforderung stellen – die Veränderung des sozialen Systems.

Solange, bis sie die Hungerlöhne der Staatsmacht und der politischen Opposition nicht abwerfen und die Macht selbst in die Hände nehmen.

Solange, bis sich die soziale und demokratische Revolution vollendet, die am 15. Dezember 2000 begonnen hat.

15. Dezember 2010 // Wolodimir Tschemeris, Co-Koordinator der Aktion „Ukraine ohne Kutschma“

Quelle: Ukrajinska Prawda

Übersetzer:   Alexander Hering  — Wörter: 2255

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