Emigrationsannexion: Damit die Ukraine auch für ihre eigenen Bürger attraktiver wird



Nach der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbas hat die Ukraine etwa fünf Millionen ihrer Bürger verloren. Weitere fünf Millionen unserer Bürger arbeiten im Ausland, und 35 Prozent der Bevölkerung wollen die Ukraine für immer verlassen. Und wenn es für die Rückkehr des Donbas wenigstens den Minsker Plan gibt, denkt niemand nach, wie man die Arbeitsmigranten zurückbringt und die Auswanderung aus der Ukraine stoppt und das zu Unrecht. Denn in der modernen Welt verlieren Staaten ihre eigene Bevölkerung auch ohne Annexion und damit Entwicklungspotenzial und letztendlich die Zukunft.

Ukrainischer Exodus

Das Ausmaß des Problems in der Ukraine ist mehr als ernst. Nach Angaben des Staatlichen Statistikamtes trat das Land in das Jahr 2017 mit mehr als 17 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter ein. Zur gleichen Zeit arbeiten nach den Berechnungen des Staatlichen Dienstes für Beschäftigung fünf Millionen arbeitsfähige Ukrainer im Ausland. Die Zahl der Ukrainer, die im Ausland studieren, wird auf 25.000 geschätzt. Nun wollen nach den letzten Umfragen 35 Prozent der Bevölkerung die Ukraine für immer verlassen, und ihre Zahl nimmt ständig zu. Insgesamt haben in den letzten 15 Jahren 5,8 Millionen Bürger die Ukraine endgültig verlassen.

Es geht nicht um die fehlende Liebe zum Vaterland: Die meisten potenziellen Emigranten, das heißt 41 Prozent, sind in den „patriotischen“ westlichen Regionen des Landes und nicht im „unbewussten“ Osten – 33 Prozent. Sowohl im Osten als auch im Westen sind die Motive rein pragmatisch: In einem fremden Land hofft man, die Lebensbedingungen für sich und seine Kinder zu verbessern, bessere Arbeit zu finden, eine qualitativere Ausbildung zu bekommen usw. Und worauf kann man sonst noch hoffen, wenn in der Heimat die Hälfte der Bevölkerung gezwungen ist, in der Schattenwirtschaft zu arbeiten, die Beschäftigung nicht vor Armut rettet und die Arbeitslosigkeit zehn Prozent erreicht?

Visumfreie Reisen in die EU, biometrische Reisepässe, die Einführung internationaler Standards im Bildungs- und in anderen Bereichen – all das hilft der Ukraine, sich zu verändern und in der Perspektive ein erfolgreicheres Land zu werden. Aber dabei erleichtert die Integration in die euroatlantische Welt eine Flucht aus der Ukraine. Eine Sache ist, wenn die Emigranten den „Eisernen Vorhang“ durchbrechen, über die Berliner Mauer klettern oder mit einem Schlauchboot über das Meer fahren müssen, und ganz anders ist es, wenn man die Annehmlichkeiten der globalisierten Welt nutzen kann.

Und die Bürger der EU-Länder nutzen sie bereits aktiv. Bereits im Jahr 2012 arbeiteten fast 6,6 Millionen Bürger der EU-Staaten nicht in ihren eigenen Ländern. Zum Beispiel ist die Bevölkerung Lettlands im Zeitraum 2000-2011 um 13 Prozent zurückgegangen, und der Hauptgrund lag nach natürlichen demografischen Veränderungen in der Massenemigration. Ungefähr im gleichen Zeitraum verlor Bulgarien fast sieben Prozent der Bevölkerung, davon ein Drittel – auch aufgrund der Auswanderung. Seit dem EU-Beitritt im Jahr 2004 sind mehr als zwei Millionen Menschen aus Polen ausgewandert. Wenn für Ukrainer die vorrangige Richtung der Arbeitsmigration Polen ist, werden die Einwohner Süd- und Osteuropas vor allem von Deutschland und Großbritannien angezogen. Selbst das neblige Albion hat über eine Million Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern übernommen, ohne Einwanderer aus anderen Ländern zu rechnen.

Und obgleich mächtige Migrationsströme sozioökonomische Institutionen destabilisieren können, gibt es durch sie mehr Vorteile als Schaden. Deswegen wird in vielen Ländern der Zustrom von Migranten nicht nur toleriert, sondern auch direkt stimuliert. Im Jahr 2015 arbeiteten etwa eine Million Ukrainer in Polen, 2016 wurden für sie mehr als eine Million Arbeitsvisa erteilt, weitere Million – in diesem Jahr. Die Tschechische Republik, die 220.000 ukrainische Arbeitnehmer beschäftigt, wird weitere 140.000 freie Stellen und Ungarn – 50.000 anbieten usw. Und hinter diesen Maßnahmen, wie hinter der Migrationsstatistik, versteckt sich eine neue Realität, in welcher die Ukraine sich einleben muss.

Konkurrenz um das Volk

Vor relativ kurzer Zeit war die Bevölkerung für die Staaten dieselbe bewegungsarme Ressource wie Böden, Wälder, Flüsse – der Wohnort des Menschen wurde ein für alle Mal vom Geburtsort bestimmt. Jahrtausende lang veränderten die Menschen das Land nur dann, wenn ihr Land unter die Macht eines benachbarten Monarchen überging, und die massive Umsiedlung der Völker war so etwas wie eine seltene Naturkatastrophe. Mit dem Aufkommen der Globalisierung, der zivilen und wirtschaftlichen Freiheiten bekamen die Menschen jedoch breite Möglichkeit zu entscheiden, wo sie studieren, sich behandeln lassen, arbeiten und im Allgemeinen leben wollen. Nun können die Staaten ihre demografischen Ressourcen ohne Kriege und Annexionen wieder auffüllen.

Und die Nachfrage besteht jetzt nicht nur für hochgebildetes Personal – aus den weniger wohlständigen Ländern verschwinden jetzt nicht nur die „Gehirne“, sondern auch Millionen von Arbeitshänden. Angesichts der negativen demografischen Entwicklung in Westeuropa wird die Frage jedoch breiter gestellt: Migranten werden häufig nicht nur als Arbeitnehmer, sondern auch als demografische Ressource betrachtet. Und in diesem Sinne sind Ukrainer eine viel attraktivere Ressource als kulturell und geistig weit entfernte Einwanderer aus Asien, Afrika und anderen entlegenen Ecken der Welt. Daher ist es sehr wahrscheinlich, dass die Ukraine kein Rohstoff-, sondern ein demografisches Anhängsel der weiter entwickelten Länder des Westens werden kann.

Wenn man es will, kann dies als eine Art Aggression, als Eingriff in die Humanressourcen interpretiert werden. Aber in Wirklichkeit ist es nur eine Konkurrenz um eine knappe Ressource, auf welche die Nationalstaaten kein Monopolrecht haben, weil jede Person das Recht hat, die besten Bedingungen für ihr Leben zu wählen. Die Konsequenzen für die Verliererstaaten können jedoch katastrophal sein, da die Massenauswanderung zu einem echten Hindernis für die sozioökonomische Entwicklung werden kann. Theoretisch können Zuwanderer durch Einwanderer ersetzt werden, wie es Polen auf die gleiche Weise tut. Aber wenn Warschau mit Ukrainern rechnen kann, auf wenn soll dann Kyjiw hoffen? Es ist wahrscheinlich, dass die Ukraine für Chinesen oder Flüchtlinge aus den arabischen Ländern attraktiv sein könnte, aber was werden die Folgen eines solchen Austauschs sein?

Deshalb sollten die ukrainischen Regierungen nicht nur um die Sympathie von Investoren kämpfen, sondern auch dafür, dass die Ukraine für ihre eigenen Bürger attraktiver wird. Andernfalls laufen wir Gefahr, die leistungsfähigsten, aktivsten und ambitioniertesten Bürger zu verlieren – diejenigen, die der Motor für wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftspolitische Veränderungen sind. Es ist wahrscheinlich, dass sie unsere nationale Kultur mit großartigen Beispielen zeitgenössischer Emigrantenlieder bereichern werden. Aber es wird kaum eine ausreichende Kompensation für das soziale Ausbluten des Landes darstellen.

26. Oktober 2017 // Olexandr Fomenko

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Roksoliana Stasenko  — Wörter: 1037

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