So endet ein Staat


Es ist unmöglich den Kreschtschatik entlangzulaufen, ohne dass man um Geld gebeten wird. Für eine Heilbehandlung, Brot, Medikamente, für eine Fahrkarte oder einen Jeton für die Metro. Es fragen Alte und Junge, Kranke und Gesunde. Es wurde auch früher gebettelt, doch nicht so wie jetzt. Das einst entspannte, teil glamouröse Kiew balanciert auf der Kante, die «Bangkokisierung» der Stadt und des gesamten Landes nimmt Formen an, wenn eine «Cola einen Dollar» kostet und es «no money, no honey» heißt. Die Ukraine ist ein Land mit einem hinreichend hohen Niveau an Steuern und dabei ein Land mit schwachen sozialen Instituten. Mickrige Renten und Stipendien bei einer hohen kumulierten Steuerbelastung führen zum Wachstum des Schattensektors, der in der Ukraine mal auf 40, mal auf 60 Prozent geschätzt wird. Dieser Wirtschaftsbereich hat ebenfalls eine Existenzberechtigung. Doch er ist für die Funktion des Staates nicht notwendig.

In Thailand, wo der Schattensektor 70 Prozent beträgt, ist der Staat faktisch demontiert worden. Vor kurzem hat die Militärregierung, welche die Macht im Ergebnis eines langen Konflikts zwischen Ministerpräsident und Opposition erlangte, Waffen an die Bewohner der südlichen Provinzen zum Schutz vor den Islamisten ausgegeben. Damit hat Bangkok die Unfähigkeit eine der Hauptaufgaben des Staates zu erfüllen unterschrieben – den Schutz der Bevölkerung. Doch bis dahin hat die Wirtschaft Thailands lange Zeit vollständig erfolgreich als Kompromiss zwischen dem Staat und der Gesellschaft existiert. Dem Staat, der die Last der sozialen Verpflichtungen nicht tragen konnte, und der Gesellschaft, die im Austausch solche «Wohltaten» wie illegale Arbeit, Drogenbusiness und Prostitution genutzt hat, deren einzelne Gewichtung im Bruttoinlandsprodukt des Landes zweistellige Ziffern erreichte.

Der Schattensektor tritt als Kompensator für den handlungsunfähigen Staat auf. In der Ukraine ist es das Gleiche. Wir mieten Wohnungen ohne den Staat, verkaufen und kaufen Dinge über das Internet, zahlen für medizinische Dienste in bar, erwerben gestohlene Mobiltelefone auf Märkten und erhalten den Lohn in der Tüte. Aus dem Geld aus den Tüten unterhalten wir die Armee, helfen Kranken und legen für Bestechungsgeld zusammen. Die Wirtschaft weist zu niedrige Gewinne aus, hält Devisen, zahlt keine Steuern. Das Regime Janukowitschs ist gefallen, weil es den unausgesprochenen Vertrag mit der Gesellschaft verletzte: wir stehlen und ihr versorgt euch selbst. Der Appetit des Staatsapparats stieg, als die Krise die Ressourcenbasis für die Fütterung der Beamtenarmee vernichtete. Verbreitung fand der gefährlichste Stamm der Korruption – Diebstahl aus den Verlusten. Der Druck stieg, es kam zum Ausbruch – der Maidan. Das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union war lediglich ein Anlass.

Im Land hat sich die Regierung geändert, doch der Staatsapparat blieb der gleiche und der Druck im System ließ nicht nach. Die Staatseinkäufe werden mit einem Schmiergeldkoeffizienten gestohlen, dessen Höhe einzig vom Adrenalingehalt im Blut des Staatsangestellten abhängt. Die Regierung erlässt Gesetze, die nicht eingehalten werden. Zwei Basisfunktionen des Staates – der Zwang und die Verteilung von Wohltaten – laufen ins Leere. Wir möchten keinen ineffektiven Staatsapparat unterhalten, der Staatsapparat will sich nicht selbst kürzen. Das Virus des ökonomischen Egoismus verbreitet sich mit kolossaler Geschwindigkeit in der Ukraine.

Die Hausbewohner hören auf für den unaufgeräumten Eingang zu zahlen, die Unternehmer stellen die Steuerzahlungen ein, diese in Bestechung umwandelnd. Anstelle von sozialen Leistungen – Bettelei, anstelle von staatlichen Ausgaben für die Armee, das Gesundheitswesen und die Bildung – Freiwillige und Wohltätigkeit, Bestechungsgelder anstelle von Steuern. Doch in Momenten ernsthafter ökonomischer Erschütterungen wird es sogar unvorteilhaft, Bestechungen zu zahlen.

Und dann bricht der Staat zusammen. Die Selbstorganisation außerhalb des staatlichen Rahmens ist die Demontage des letzteren. Beispiele gibt es viele: Sudan, Tadschikistan, Myanmar, Somalia. Zuerst häufige Regierungswechsel, danach der Zusammenbruch des Staates, von dem nur noch der Name bleibt. So wird es in der Ukraine kommen, wenn der Selbsterhaltungstrieb das staatliche Skelett nicht dazu bringt, sich noch einmal zu sammeln. Der Krieg ist dafür nur ein Anreiz und kein Hindernis. In beinahe acht Monaten hat die Regierung keine strukturellen Reformen begonnen. Wenn das nicht in nächster Zeit beginnt, wird das Volk die Regierung gemeinsam mit dem löchrigen Staatskörper beseitigen.

7. November 2014 // Gleb Prostakow

Quelle: Westi Reportjor

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 657

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