Voice of America: Wie bewerten Sie das Strafverfahren gegen Julia Tymoschenko? Was versucht die Regierung Ihrer Meinung nach mit diesem Prozess zu erreichen und welche erwartbaren und unerwartbaren Folgen wird das mit sich bringen?
Andreas Umland: Ich bin erstaunt über die Entwicklungen im Strafverfahren gegen Tymoschenko. Vor einem Jahr, nach den Präsidentschaftswahlen, sah es so aus, als ob Tymoschenko faktisch zu einer Politikerin geworden war, deren Zeit abgelaufen ist. Nach den Wahlen sank ihre Popularität rapide. Sie hatte die Wahlen verloren.
Es gab ebenfalls Probleme in der Fraktion von „Batkiwschtschyna/Vaterland“ in der Werchowna Rada. Es sah so aus, als ob Tymoschenko in die Geschichte als Politikerin eingehen würde, die ihre Rolle während der Zeit der Orangen Revolution und im Verlaufe ihrer zweimaligen Regierungszeit als Ministerpräsidentin gespielt hat.
Doch das Gerichtsverfahren gegen sie, besonders die Festnahme, haben sie ins aktuelle politische Spiel zurückgebracht. Es entsteht der Eindruck, dass die Präsidialadministration am Image von Tymoschenko arbeitet.
Insgesamt betreibt die Regierung Janukowytsch in gewisser Hinsicht mit diesem Strafverfahren ihre eigene Abschaffung. Sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik schafft die Verhaftung Tymoschenkos mehr Probleme für Janukowytsch, als sie löst.
Die Inhaftierung Tymoschenkos richtete die Aufmerksamkeit des Westens auf die Situation in der Ukraine, was an und für sich ein positiver Faktor sein könnte. Bislang findet noch die gedankliche Vorbereitung möglicher Reaktionen des Westens statt. Die europäischen Akteure entscheiden noch, wie sich die Inhaftierung Tymoschenkos auf die Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen, einschließlich des Freihandelsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine und der Frage der Liberalisierung des Visaregimes zwischen der Ukraine und der EU auswirken wird.
Ich denke, dass in den westlichen Hauptstädten unter den Experten ein Konsens darüber erreicht wurde, dass die Strafsache Tymoschenko ein politischer Prozess ist. Und je länger dieser Prozess dauert, je länger sie in Haft bleibt, um so schärfer wird die Reaktion der westlichen Regierungen ausfallen. Es wird eine Situation geschaffen, in der die ukrainische Regierung gezwungen sein wird, ihre Aufmerksamkeit darauf zu richten, was man in Europa, insbesondere was die Führung der EU, in Bezug auf die Verhandlungen über die Assoziierung und Schaffung einer Freihandelszone denkt. Falls das Gerichtsverfahren gegen Tymoschenko fortgesetzt wird, wenn sie weiter hinter Gittern bleibt, wird dies zu einem Halt in der Bewegung der Ukraine in Richtung EU führen.
Diesbezüglich muss man insbesondere die Tatsache im Auge behalten, dass, während das Freihandelsabkommen nur im Europäischen Parlament ratifiziert werden muss, das Assoziierungsabkommen eine Ratifizierung in den Parlamenten aller 27 Mitgliedsstaaten der EU erfordert. Hier werden, sogar wenn man in Brüssel ungeachtet der inneren Prozesse in der Ukraine das Abkommen unterstützt, einige gegenüber dem Verhalten der ukrainischen Führung kritisch eingestellte Länder dieses in ihren Parlamenten blockieren.
V.o.A.: Halten Sie ein EU-Einreiseverbot für ukrainische hochgestellte Persönlichkeiten in Verbindung mit dem Prozess gegen Tymoschenko ähnlich dem Fall mit Russland beim Verfahren gegen Magnizkij seitens der USA für möglich?
A.U.: Dies wäre ein radikaler Schritt, der zu einer Abkühlung der Beziehungen zwischen der ukrainischen Regierung und der EU führen würde. Ich bin aus zwei Gründen nicht überzeugt davon, dass die EU dazu übergeht. Erstens: dieser Schritt würde eine weitaus dramatischere Entwicklung der Ereignisse vorraussetzen, beispielsweise den Tod in der Haft, wie dies bei Magnizkij der Fall war. Zweitens: im Unterschied zu Russland verfügt die EU bezüglich der Ukraine über mehr Einflussmöglichkeiten, von denen die wichtigsten die derzeitigen Verhandlungen über den Freihandel und die Assoziierung sind. Daher erwarte ich nichts derartiges.
V.o.A.: In Expertenkreisen in Washington kursiert die Meinung, dass die EU sich mit der Ukraine beschäftigen sollte und Washington alle notwendige Unterstützung gewährt. Ist diese „Aufteilung der Pflichten“ Ihrer Meinung nach angebracht?
A. U.: Ja, zwischen den USA und der EU existiert eine gewisse „Arbeitsteilung“. Die USA sind mehr mit den Beziehungen zu Russland beschäftigt, der Politik des sog. „Neustarts“. Die Ukraine ist stärker in den Fokus der EU gerückt. Die Strafsache gegen Tymoschenko verstärkt, wie ich denke, diese Tendenz, da in den politischen Positionen der USA und der EU in dieser Frage nur wenige Differenzen bestehen.
Es gibt einen zweiten Effekt des Prozesses gegen Tymoschenko: für die linke Parteienallianz im Europäischen Parlament wird es schwieriger werden, Beziehungen zu ukrainischen Regierungsparteien aufrechtzuerhalten. Bislang unterhält die Sozialistische Fraktion des Europäischen Parlaments politische Beziehungen mit der Partei der Regionen. Nach der Verhaftung Tymoschenkos dürften diese Beziehungen ihre Berechtigung verlieren.
V.o.A.: Und wie bewerten Sie die Position Russlands, das sich in bekanntem Maße für die Verteidigung Julia Tymoschenkos eingesetzt hat?
A.U.: Soweit es um ein Gasabkommen geht, das für Russland äußerst vorteilhaft ist, wird ein Gerichtsverfahren, welches dieses Abkommen unter Zweifel stellt, schlecht für die russischen Interessen sein.
Es gibt hier auch noch eine weitere Interpretation, die wesentlich zynischer ist. Russland könnte an einer Erhöhung der sozialen Spannungen in der Ukraine interessiert sein. Der Prozess gegen Tymoschenko könnte für Russland insofern von Vorteil sein, als dieser die Ukraine weiter polarisiert. Ich hoffe, dass dies nicht tatsächlich der Fall ist und ich hier allzu schwarz sehe, doch der Verdacht bleibt bestehen. Man kann eine ähnliche Politik – je schlechter, desto besser – gerade in Belarus beobachten. Ich denke, dass es in Moskau Leute gibt, die gern eine derartige Situation in der Ukraine sehen würden. Diese Politik wird über Jahre geführt, doch war sie bislang erfreulicherweise erfolglos.
V.o.A.: Sie sind Experte für rechtsradikale Bewegungen im postsowjetischen Raum. Wie bewerten Sie die Situation in Bezug auf Toleranz und rechtsradikale Bewegungen in der modernen Ukraine?
A.U.: Wenn Sie die Ukraine nicht nur mit Russland, sondern mit den anderen osteuropäischen und sogar einigen westeuropäischen Ländern vergleichen, so ist der Ultranationalismus als organisierte politische Kraft hier erstaunlich schwach. Das ist ein großer Vorteil der Ukraine. Hier gab es nie eine politische rechtsradikale Organisation, die es als solche in die Werchowna Rada geschafft hat.
Wir hatten nur einige einzelne Abgeordnete, die bei Wahlen punkten konnten, doch diese hatten nur eine begrenzte Popularität. Es gab bisher noch keinen ukrainischen Schirinowski oder ukrainischen Le Pen.
Allerdings hat in den letzten zwei Jahren eine Organisation – die sog. Allukrainische Vereinigung „Swoboda/Freiheit“ – besonders in Galizien an Popularität gewonnen und beeindruckende Wahlergebnisse in dieser Region eingefahren. Doch in anderen Oblasten/Gebieten – sogar im Westen der Ukraine – ist „Swoboda“ weniger populär und mir scheint, dass „Swoboda“ immer eine Regionalpartei bleiben wird. Möglich ist, dass sie sich ausbreitet und eine größere Unterstützung im Westen und im Zentrum der Ukraine erfährt, doch in den südlichen und östlichen Teilen des Landes wird sie immer eine marginale Kraft bleiben.
Obgleich „Swoboda“ sich als eine „allukrainische“ Organisation bezeichnet, kann sie zu einer Gefahr für die Einheit der Ukraine werden – aufgrund ihrer stark regionalen Verwurzelung und ihrer eigenwilligen Sichtweise der jüngsten Geschichte, ein Geschichtsbild, das in anderen Regionen nicht angenommen wird. Wenn es in der Ukraine zu einer Eskalation von Spannungen kommt, könnte „Swoboda“ die derzeit ohnehin wachsenden Spaltungstendenzen in der Ukraine weiter verstärken.
Andererseits ist erwähnenswert, dass, wenn man die Ergebnisse der letzten drei Wahlen in der Ukraine betrachtet, und die für europäische Standards niedrige Eingangsbarriere zum Parlament der letzten Jahre (3-4 Prozent) berücksichtigt, es keine rechtsradikale Partei vermochte, selbständig mit einer eigenen Fraktion in die Werchowna Rada einzuziehen.
Warum ist dies so? Das ist schwer zu beantworten. Bei solch einer niedrigen Barriere könnte sogar eine regional konzentrierte Partei in das Parlament gewählt werden. Die Ukraine kann man bezüglich der ethnischen und sprachlichen Teilung der Bevölkerung in gewisser Hinsicht mit Belgien vergleichen, doch hat die Ukraine, im Unterschied zu Belgien, wo der rechtsradikale Vlaams Belang eine relativ große Rolle spielt, keine starke ultranationalistische Bewegung.
Ich denke, dass die Gründe in der politischen Kultur, der Geschichte der Ukraine liegen, die immer innerhalb ihrer Grenzen unterschiedliche Ethnien vereint hat. Möglicherweise ist ein Grund dafür auch das Verständnis der ukrainischen politischen Elite dafür, dass Ultranationalismus gefährlich für die ukrainische Staatlichkeit ist. Ich hoffe, dass diese Weitsicht auch weiter herrschen wird und die Rechtsradikalen politisch marginalisiert bleiben.
V.o.A.: Ich denke, dass dabei die demographische Situation eine große Rolle spielt. In der Ukraine gibt es nicht so viele Leute nichtslawischer Herkunft. Zudem schrumpft die Bevölkerung.
A.U.: Zweifellos. Ich fürchte, dass sich in der Ukraine in Zukunft ethnische Spannungen verstärken könnten. Je stärker die Ukraine ökonomisch wird, um so attraktiver wird sie für Einwanderer und das wird Spannungen hervorrufen. Doch die letzten 20 Jahre lassen hoffen, dass die Ukraine vielleicht ein positives Beispiel für die Abwesenheit von Konflikten auf ethnischer Grundlage bleibt und dass die Gesellschaft die künftigen Einwanderer integrieren kann.
Für die Ukraine sind Immigranten wegen der schrumpfenden Bevölkerung nötig. Die Industrie und der Dienstleistungssektor werden Arbeitskräfte benötigen. Die Ukraine wird anderen europäischen Ländern auch darin ähnlicher werden, als dass hier eine größere Zahl von Menschen aus Entwicklungsländern leben wird. In 20 Jahren wird Kiew anders aussehen. Heute ist Kiew eine relativ monoethnische Stadt, die Menschen sehen ähnlich aus und haben eine vergleichbare Herkunft. In 20 Jahren wird die Stadt anders aussehen – eher wie Berlin, London oder Paris, wo man auf den Straßen z.B. häufig Frauen im Sari oder mit Hidschab sehen kann.
V.o.A.: Wie bewerten Sie die 20 Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit? Kann die Ukraine auf etwas stolz sein?
A.U.: Die Mehrheit der Ukrainer meint sicherlich, dass die Ukraine kaum etwas erreicht hat, außer der Unabhängigkeit selbst. Wenn man jedoch den Vergleich mit anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion zieht, so ist die Ukraine trotzdem ein Erfolgsbeispiel. Bestimmte Länder, wie die Republik Moldau und Georgien, besitzen keine vollständige Souveränität innerhalb ihrer eigenen Grenzen.
Andere Länder erlebten Bürgerkriege – Russland (Tschetschenien), Tadschikistan, Aserbaidschan und Armenien. Nicht wenige Länder sind wieder in Diktaturen verwandelt worden – die zentralasiatischen Staaten, Belarus, Aserbaidschan. Die Ukraine hat dies alles vermieden. Der Staat ist vollständig, es gab und gibt keine bewaffneten Konflikte und – bislang noch – keine Diktatur. Es sind autoritäre Tendenzen zu beobachten, doch sind wir noch weit von Belarus und sogar von Russland entfernt. Im postsowjetischen Kontext ist das ein Erfolg, und die Ukraine kann stolz darauf sein.
Ebenso führt die Ukraine Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen und ein Abkommen über die Schaffung einer Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und der Ukraine, was, mit Ausnahme der baltischen Staaten, einzigartig für postsowjetische Staaten ist.
V.o.A.: Sie haben im Westen, in Russland und jetzt in der Ukraine gelehrt. Was ist Ihrer Meinung nach für eine Verbesserung der ukrainischen Hochschulbildung erforderlich?
A.U.: Leider gibt es sogar in einer fortschrittlichen Lehreinrichtung wie der Kiewer Mohyla-Akademie eine Regulierung des Lehrprozesses. Es gibt hier eine beschränkte Auswahl an Fächern für die Studenten und die Studenten verbringen eine Menge Zeit in Vorlesungen, haben viele Prüfungen und nicht wenig Zeit des Lernprozesses ist auf das Auswendiglernen von Materialien ausgerichtet und es gibt sehr wenig eigenständige Forschungsarbeit.
Das ist typisch für alle postsowjetischen Universitäten. Das sollte sich ändern. Die Studenten sollten mehr Möglichkeiten haben ihre eigenen wissenschaftlichen Interessen zu wählen, an schriftlichen Arbeiten und selbstständigen Forschungen zu arbeiten.
15. August 2011 // Tetjana Woroshko
Quelle: Voice of America
"Viel Feind - viel Ehr".
Hier im Westen kommt wenig von den Segnungen der neuen Regierung an. Besser gesagt nichts.
Einzig und allein bescheinigt eine wenig glückliche Personalpolitik die dünne Decke mit vielen Löchern in dieser Frage. Sichtbar ist das an unserem Bürgermeister. Wegen Vorteilsnahme aus der Polizei entfernt, mit 39 Jahren in Rente und mit 40 Jahren Bürgermeister der PR.
Natürlich vergleichen die Leute. Wären morgen Wahlen...
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