Der entpersonalisierte Donbass
Der Märtyrerkalender der Söldner im Donbass wächst in einem solchen Tempo, dass schwer mit ihm Schritt zu halten ist. Bendow, Ischtschenko, Wosnik, Mosgowoj, Drjomow, Schilin, Pawlow, Bolotow – man könnte noch viel mehr aufzählen, aber wofür? In der Mehrzahl haben alle öffentlichen Hauptpersonen der russischen Invasion diese Erde verlassen. Vor diesem Hintergrund erscheinen Igor Strelkow und Alexander Borodaj als zufällige Glückspilze. Sie schafften es, nicht nur den Krieg zu überleben, sondern auch den eigenen Rücktritt. Mit Gewissheit kann keiner sagen, ob hinter ihrem Schicksal schon ein Punkt gesetzt ist.
Der Mord an Michael „Giwi“ Tolstych war nicht einfach nur ein weiteres Glied in dieser Kette. Er setzte auch einen Strich unter den Mythos „des letzten Aufgebots des Donbass“. Jenes Mythos, der so unnachgiebig der Motor der russischen Propaganda-Maschine im Laufe der vergangenen drei Jahre war. Und es ist das ist, wenn man ehrlich ist, was einen beunruhigen muss.
Gebrauchsanleitung
Der ganze Krieg im Donbass war vom ersten Tag an eine Geschichte der Instrumentalisierung. Und alle seine „Helden“ waren genau so handgemacht worden. Wir wissen praktisch nichts über die Vergangenheit der Feld-Kommandanten. Irgendetwas in der Art wie „Motorola“ hat Autos gewaschen, „Giwi“ war Lastenträger, nach Gerüchten hat Sachartschenko mit Vögeln gehandelt. Der April 2014 war der Zeitpunkt, das Alte auf Null zu setzen und etwas Neues zu schaffen. In dem Moment, als Moskau sich entschied, einen Pantheon der „heldenhaften Kämpfer für Neurussland“ zu schaffen, haben sie für all diesen Leute Biografien angefertigt.
Im Übrigen haben sie sie unterhaltsam und animierend gestaltet. Eben diese Motorola und Giwi sollten nach dem Willen des Autoren als direktes Rollenmodell für die Angehörigen „unten aus dem Volke“ dienen. Ein total erfolgreiches Modell: Gestern warst du ein Niemand, heute bist du alles. Der Traum des Revolutionärs: Im Kampf kommst du zu deinem Recht. Um ein paar Schulterklappen zu bekommen, eine Wohnung, Auto und Ruhm ist nicht viel nötig – du musst dich gleichsam nur von der Couch erheben und dich, den Rufen des Fernsehers folgend, in den Donbass begeben. Sozialer Aufstieg mit der Kalaschnikow. So waren Giwi und Motorola das Urbild für verschiedene Interessensgruppe. Der Einwohner der Republik Komi Arsen Pawlow war das Modell des russischen Freiwilligen aus der tiefsten Provinz.
Der gebürtige Ilowajsker Michael Tolstych – der Anhaltspunkt für ukrainische Bürger aus den besetzten Gebieten. Die Bereitschaft mit der Ukraine zu kämpfen war wie der Zauberhecht, der Iwan-Dummkopf in Iwan-Zarewitsch verwandelte. Brüderschaft der Völker im Schützengraben, Interbrigaden (= internationale Brigaden aus ausländischen Freiwilligen) und die übrige fast vergessene sowjetische Agitprop.
Aber heutzutage ist das alles schon Vergangenheit. Der Tod der Beiden setzte einen Punkt unter die neue „Truman-Show“. Und die, die schreiben, dass ihr Tod ihnen ein Denkmal setzt, irren sich. Die Geschichte schreiben in allen Zeiten die Sieger – und wer auch siegen möge, in dessen Zukunft findet sich kein Platz für die„Feldkommandanten Neurusslands“.
Ein Trauergeiger wird nicht benötigt
Denn Neurussland wird es nicht geben. In erster Linie weil Moskau so etwas nicht braucht. Der Kreml braucht kein neues Transnistrien, sondern eine gehorsame Ukraine. Und deshalb geht es nur darum, unter welchen Bedingungen sich der okkupierte Donbass wieder in die Ukraine eingliedert. Moskau träumt davon, den Donbass in das Gegenmittel zur Unabhängigkeit zu verwandeln, in einen Impfstoff gegen ukrainische Souveränität. Dafür ist nur eines nötig: einen eigenen Status für die Region, eine Amnesie für die Kämpfer und später ihre Legalisierung durch Wahlen.
Um den bereits legalisierten Kämpfern die Kontrolle über die Grenze zu übertragen. Jede mögliche dieser Varianten ruft allerdings in der ukrainischen Gesellschaft eine allergische Reaktion hervor – und zwar nicht zuletzt wegen der Personen, die sich selbst ihre Biografie durch den Kampf mit Kiew geschaffen haben. Um der Ukraine den Donbass wieder zu füttern, muss Moskau die Gespräche über „unüberwindbare Gegensätze“ wieder auf Null setzen.
Motorola und „Giwi“ und die anderen ähnlichen Gestalten waren die ultimativen Aufreger für die nicht besetzten Gebiete des Landes. In den letzten drei Jahren der Kampfhandlungen sind sie zur Verkörperung des Bösen geworden, zur Personalisierung der bewaffneten Ukrainophobie. Genau die Geschichte, wenn sich eine Erscheinung in Personen auflöst und der Feind aus dem Systemisch-Abstrakten konkret in Erscheinung tritt.
„Frieden um jeden Preis“ erschien ihnen unzumutbar, weil „Motorola und Giwi in der Rada sitzen werden“. Aber das werden sie jetzt nicht. Für niemanden. Der emotional-logische Verbund wurde nur logisch. Und schon ist man nicht so stark gezwungen, die Fäuste zu ballen.
Und schon ist es nicht mehr zu wichtig, wer und was der Grund für die Abschaffung der Feldkommandeure im Donbass war. Früher oder später wird Moskau ohnehin nicht umhin kommen, sich damit zu beschäftigen. Um der Ukraine den Donass zu „impfen“ ist es notwendig, unnötige Irritationen auszuräumen. Motorola und „Giwi“ waren nötig, um Freiwillige zu rekrutieren. Aber jetzt hat sich die Situation geändert. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Ihrer Ablösung wird man schon keine Biografien mehr machen.
Wert und Preisschild
Und genau das ist das Allerwichtigste bei der ganzen Geschichte. Der Jubel über den Tod der Feldkommandeure kann nur als Beweis dafür dienen, wie stark jeglicher Krieg personifiziert wird. Doch die letzten drei Jahre hat die Ukraine nicht mit Motorola und Giwi gekämpft, nicht mit Mosgowoj und Drjomow. Auf dieser Seite des Grabens sitzt der Kreml. Und es wäre der allergrößte Fehler, einen Krieg für Werte mit einem Krieg gegen Personen zu verwechseln.
Es ist unwichtig, wieviele Feldkommandeure noch den Märtyerkatalog auffüllen. Ihre Namen sind völlig unbedeutend. Sachartschenko, Plotnizkij, Chodakowskij: alle diese Leute erfüllen ihre Rolle wie Handpuppen auf dem Jahrmarkt, fest geführt von den Fingern des Puppenspielers. Aber wenn ihnen bei einem Szenenwechsel plötzlich entzückende Leute mit einem frischen Lächeln nachfolgen – bedeutet das, dass die Ukraine den Sieg errungen hat?
Die ganze Geschichte der heutigen Auseinandersetzung ist nicht nur ein Kampf um Unabhängigkeit und Souveränität. Es ist der Zusammenprall der Vergangenheit und der Zukunft. Des Pro-Sowjetischen und des Nicht-Sowjetischen. Der Autokratie und der Freiheit. Der Versuch, das verlorene Jahr 1918 neu zu spielen. Der Kampf für das Recht zu leben, ohne zurückschauen zu müssen in ein ehemaliges Mutterland. Der mentale Kampf zwischen Ukrainern und Kleinrussen.
Und der allergrößte Fehler wäre es, dies zu vergessen.
10.2.2017 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda