EU und Russland im Jahr 2030: vier Szenarien von europäischen Experten
Vor zwei Jahren hat niemand in der Ukraine die Entwicklungen der nahen Zukunft kommen sehen – die Revolution der Würde, die Krim-Annexion, der Krieg mit Russland sowie der zwar noch nicht erklärte, aber de facto eingetretene Staatsbankrott haben nicht nur die Ukraine, sondern auch das gesamte Europa verändert. Diese Ereignisse stellten nicht nur die Grundlagen auf denen die Ostpolitik der EU errichtet wurde infrage, sondern auch die Fähigkeit des Westens auf einen Aggressor zu reagieren und diejenigen vor ihm zu schützen, die er im Austausch für den Verzicht auf Atomwaffen zu verteidigen sich verpflichtete.
Die Ukraine-Krise hat die EU-Mitgliedsstaaten in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite stehen Länder, die aufgrund einer größeren wirtschaftlichen Abhängigkeit von Russland zur Vorsicht in der ukrainischen Frage mahnen. Auf der anderen Seite sind Befürworter einer schärferen Konfrontation.
Den weiteren Verlauf der Ereignisse kann niemand mit Sicherheit vorhersagen. Eine Prognose über die Entwicklung der europäischen Krise sowie die möglichen Lösungsansätze haben jedoch 20 Experten aus 12 Ländern gewagt, die vor kurzem am Projekt „The EU and the East in 2030“ teilgenommen haben.
Auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung haben europäische Wissenschaftler als Teil einer internationalen Gruppe vier Grundsatzszenarien entwickelt, die das Miteinander der Länder im Zeitraum von 2015 bis 2030 sowie die Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU, Russland und ihren Nachbarn darstellen.
Bei einem Runden Tisch in Kiew hat INSIDER Notizen über mögliche Zukunftsaussichten gemacht.
Szenario 1: Mehrparteienhaus
Während der ersten Phase, die bis Mitte 2020er Jahre anhält, wird kein bedeutender Durchbruch in den EU-Russland-Beziehungen erzielt.
Offene Konfrontation wird eine ernsthafte Gefahr darstellen. Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation und den westlichen Sanktionen versucht Russland, seinen Einfluss in den Nachbarländern auszuweiten.
Bei der Präsidentschaftswahl 2018 wird Wladimir Putin wiedergewählt. Die russische Wirtschaft stürzt dennoch in eine tiefere Krise. Obwohl die Weltmarktpreise für Öl, vor allem aufgrund der steigenden Anfrage seitens der ostasiatischen Länder, hoch sein werden, wird Russland davon nicht in vollem Umfang profitieren können. Das steigende Verkaufsvolumen von Flüssiggas und die Weiterentwicklung der Spotmärkte führen dazu, dass die Berechnung der Erdölpreise ohne Berücksichtigung der Gaspreise erfolgt.
Gleichzeitig beschleunigt die Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens zwischen der EU und Russland die Diversifikation der Gaslieferungen nach Europa und fördert den Ausbau der erneuerbaren Energien in einzelnen Ländern.
Im Bereich der Renten- und Sozialleistungen, der für die Zuneigung des russischen Volkes zu ihrem Präsidenten ausschlaggebend ist, wird sich die Situation dramatisch verschlechtern. Die Kreml-Propaganda verliert an Gewicht, was zu einem Machtwechsel im Jahr 2024 führt.
Der neue Thronfolger wird zwar am Anfang seiner Präsidentschaft keine außenpolitische Wende vorantreiben, nimmt aber den langersehnten Dialog zwischen der EU und Russland auf. Erst das Ende der Ära Putin macht auch die Aufhebung der geltenden Sanktionen denkbar, was früher oder später von Russland geschätzt wird. Die ersten Anzeichen der realen Umsetzung russischer Gerichtsreform steigern das Vertrauen der EU.
De facto gibt es keine Änderung des politischen Kurses Russlands. Dennoch werden die gegenseitigen Zugeständnisse wie ein Moratorium auf eine NATO-Erweiterung oder die Reduzierung der russischen Militärpräsenz in Transnistrien und Abchasien eine Lösung der allgemeinen Probleme begünstigen. Beide Seiten konzentrieren sich dann beispielsweise auf solche Themen wie Abbau von Handelsschranken, Erweiterung der Austauschprogramme im Bildungsbereich sowie vorläufige Verhandlungen über Visaliberalisierung.
Spätestens im Jahr 2030 initiieren russische Eliten wegen des “verlorenen Jahrzehnts” wirtschaftliche Reformen, während sich die EU-Staaten endgültig dazu erklären, die Zusammenarbeit mit Moskau wiederaufzunehmen, nicht zuletzt um die stagnierende europäische Wirtschaft zu fördern.
In Osteuropa trägt die Durchführung umfassender Reformen in Georgien und Moldau nicht nur zur Sicherung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit bei, sondern veranlasst auch die Vereinfachung der EU-Gesetzgebung. Außerdem wird die Integration von Armenien und Belarus in die Eurasische Wirtschaftsunion vertieft. Russland und Kasachstan spielen eine beträchtliche Rolle für die Wirtschaft dieser Länder. Das neue Handelsabkommen ermöglicht aber auch Investitionen und Export in die EU.
Die Experten betonen, dass eine Wiederherstellung des Vertrauens zwischen der EU und Russland neue Horizonte für die Entwicklung der Ukraine eröffnen wird, die lange Zeit aufgrund von vielen internen und externen Faktoren nicht erschlossen werden konnten.
Im Endeffekt wird eine pragmatische Einstellung die Oberhand gewinnen: EU und Russland lenken Ihre Bemühungen auf die Sicherung gemeinsamer Interessen und eine sachliche Zusammenarbeit, was in der Unterzeichnung eines Freihandelsabkommens resultiert.
Szenario 2: Gemeinsames Haus
Den Experten zufolge ist dieses Szenario das vorteilhafteste für die Ukraine. Damit es allerdings eintritt, müssen in Russland demokratische Veränderungen, z. B. als Folge wirtschaftlicher Stagnation, herbeigeführt werden.
Bei einem solchen Verlauf der Ereignisse würde bei der Präsidentschaftswahl 2018 ebenfalls Wladimir Putin gewinnen, indem er seine politische Kampagne auf dem Versprechen aufbaut, Russland einen Platz unter den führenden Weltmächten zu gewähren. Jedoch stellen die wirtschaftlichen Probleme schon in den ersten Jahren diese Losungen infrage und führen zur zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
Der neue russische Präsident, der 2024 an die Macht kommt, wird die nachfolgenden sechs Jahre seiner Präsidentschaft dazu nutzen, die negativen Tendenzen in den EU-Russland-Beziehungen umzukehren. Die wirtschaftliche Lage verbessert sich. Das russische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf erreicht den EU-Durchschnitt.
Die Europäische Union versucht in dieser Zeit durch den weiteren Ausbau der Beziehungen zu Russland neue Stimuli für Wirtschaftswachstum und die Entwicklung einer innovativen Wirtschaft zu finden. Die Wiederwahl des russischen Präsidenten bestätigt der Erfolg des eingeschlagenen politischen Kurses.
Es wird ein Abkommen über die Visafreiheit zwischen der EU, den Ländern der Östlichen Partnerschaft, Russland, Kasachstan und Kirgistan unterzeichnet. Obwohl die Staaten der Östlichen Partnerschaft erfolgreiche Reformen durchführen, die u. a. die Wirtschaft stärken, erfolgt kein EU-Beitritt.
Durch die Konfliktsituation in Transnistrien, Abchasien, Südossetien, Bergkarabach und auf der Krim, bleibt die Lage weiterhin international angespannt. Dank erster Anzeichen der stufenweisen Beilegung der Krise können dennoch die Beziehungen auf dem europäischen Kontinent gegenseitig vorteilhaft gestaltet werden.
Szenario 3: Ruiniertes Haus
Im Donbass-Konflikt wird keine kurzfristige Lösung in Sicht sein. Die Region bleibt weiterhin unter der Kontrolle der Separatisten. In Osteuropa wird ein Rüstungswettlauf aufgenommen.
Die Konfrontation zwischen der EU und Russland hält aufgrund des ungelösten Ukraine-Konflikts bis 2030 an.
Teilerfolge einer mit autoritären Methoden durchgeführten Modernisierung in Russland und die Energiewende in Europa erlauben beiden Seiten, unabhängig voneinander zu agieren.
Russland reagiert offensiv auf die NATO-Pläne, ihre Sicherheitsgarantien gegenüber osteuropäischen Staaten auszuweiten. Ins Gebiet Kaliningrad und in andere grenznahe Regionen wird mehr Militärgerät verlegt. Außerdem wird eine neue Militärdoktrin der Russischen Föderation verabschiedet, in der die Bereitschaft eines nuklearen Gegenschlags im Fall eines Angriffs mit konventionellen Waffen erklärt wird.
Des Weiteren werden Maßnahmen zur Diversifikation der Handelsbeziehungen Russlands mit weiteren Staaten ergriffen, unter anderem durch die Anwerbung von Investitionen aus dem Fernen Osten und Asien.
Das Volumen der chinesischen Investitionen in die russische Agrarwirtschaft steigt, unter anderem durch die steigende Anfrage nach Fleisch- und Milchprodukten unter der wachsenden chinesischen Mittelklasse. Langfristig gesehen gelingt es Russland, seine autoritären Modernisierungspläne verhältnismäßig erfolgreich zu realisieren.
Die Angst, des Beistands für Russland beschuldigt zu werden, wird immer mehr westliche Unternehmen von Investitionen abhalten. In Russland wiederum wird ein Investitionsverbot für die EU verhängt.
Länder, die zwischen der EU und Russland liegen, werden zum Objekt einer Konfrontation. Die östlichen Gebiete der Ukraine bleiben weiterhin unter Kontrolle der prorussischen Separatisten.
Aus Angst, Russland würde im Fall einer NATO-Annäherung zu militärischen Mittel greifen, wahrt Moldau Neutralität. Der Status von Transnistrien sowie die Lage in Georgien bleiben unverändert.
Szenario 4: Getrennte Häuser
Das Inkrafttreten von Abkommen zwischen der Ukraine und der EU wird ständig aufgrund von Druck aus Russland verschoben. Dies könnte sogar 2017 zu einem neuen Maidan und einer neuen Revolution führen. Die Beziehungen zwischen der EU und Russland bleiben weiterhin angespannt. Nur dank der gegenseitigen Wirtschafts- und Energieabhängigkeit wird eine weitere Verschlechterung der Beziehungen verhindert. Aufgrund von fehlendem Vertrauen und immer größer werdenden Differenzen in Grundsatzfragen gibt es aber auch keine Aussicht auf ihre Verbesserung.
Die Länder der Östlichen Partnerschaft werden ständig zwischen Ost und West schwanken. Ihre wirtschaftliche und politische Entwicklung wird durch die Teilnahme an zwei gegensätzlichen Integrationsprojekten zurückgehalten: die Europäische Union und die Eurasische Union.
Unter den Bedingungen des “Kalten Friedens” wird kein wirtschaftlicher oder politischer Wandel möglich sein.
In der Ukraine-Krise wird keine sichere und gegenseitig vorteilhafte Lösung gefunden, was die politische und wirtschaftliche Instabilität in der Region weiter vertieft und die Beziehungen zwischen Russland, der EU und den USA voller Widersprüche macht.
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Anhand von diesen Szenarien sieht man, dass eine Verbesserung der Lage nur nach dem Abgang des russischen Präsidenten Wladimir Putin möglich ist.
Dabei enthält keines der Szenarien Lösungsansätze für den Donbass-Konflikt und für die Krim-Rückgabe.
Wie die Experten aber selbst betonen, handelt es sich bei ihren Annahmen um keine Prophezeiungen. Deswegen müssen sie nicht für eine unabwendbare Realität gehalten werden.
“Wir behaupten nicht, dass es genauso kommen wird. Unsere Szenarien sind nur ein Anlass, über unsere Zukunft nachzudenken und sie zu bestimmen”, so Felix Hett, Leiter des Referats Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung, bei der Projektvorstellung.
Die Gründerin von Geopole Europe Florence Mardirossian ist überzeugt, dass wenn den Ukrainern mögliche Optionen für den weiteren Verlauf der Ereignisse vorliegen, können sie ihre Entscheidung für den EU-Beitritt oder für den Krieg mit Russland treffen.
“Wenn die Ukrainer beweisen, dass sie kein Objekt, sondern ein Subjekt ihrer Innenpolitik sind, können sie auch zum Subjekt innerhalb der internationalen Gemeinschaft werden”, so Mardirossian.
24. November 2015 // Olha Karetnikowa
Quelle: INSIDER