Der Euromaidan als Inkubator einer „neuen Realität“


Was ist der Euromaidan und worin liegt sein Sinn? In den letzten Tagen konnte man viel darüber lesen und viele Antworten auf diese wichtige Frage hören. In der Regel beziehen sich mehr oder wenige ernsthafte Erklärungen auf die knifflige politische Prognose und die komplizierten sozialen und ökonomischen Berechnungen. Solche Kalkulationen zeigen plausibel, dass der studentische Enthusiasmus eine Sache ist und die Realität eine andere. Beide haben so gut wie nichts miteinander zu tun. Dieser Meinung sind die Herren – diese ernsthaften Analytiker. Aber sie irren sich gründlich!

Die ehrenwerten ökonomisch-politischen Überlegungen gehen über die Wirklichkeit hinaus, die uns gerade umgibt. Meiner Meinung nach besteht der Sinn des Euromaidan genau darin, dass er imstande ist, diese Wirklichkeit zu verändern. Wie? Indem er zuerst die Menschen ändert.

Der Sinn und die Bedeutung des Euromaidan liegt weder in den richtig gewählten Aktionsplänen noch in realistisch gestellten Aufgaben. Sein Wesen ist in ihm selbst. Er ist ein Wert an sich, dessen Vorhandensein imstande ist, die uns umgebende Welt zu verändern. Erinnern wir uns an die studentische Bewegung des Jahres 1968. Hatten sie irgendeine konkrete ökonomisch-politische Auswirkung? Wie die Historiker belegen, gab es eher Niederlagen. Nach der Begeisterung kam die Reaktion. Jedoch verstehen wir erst heute, dass der Wert der damaligen Ereignisse darin besteht, dass die Welt danach nicht mehr ist wie sie früher war. Wenige Studenten der Sorbonne veränderten die Realität. Die Unterdrückung blieb, jedoch die Autoritäten fielen. Man konnte freier atmen. Und in dieser neuen Luft entstanden ganz andere Menschen. Das ist das Hauptresultat der Maiereignisse des Jahrs 1968.

Was die Autoritäten betrifft, denke ich, geht es auf dem ukrainischen Maidan auch heute noch um sie. Genauer gesagt, geht es um die Abschied von ihnen. Ich meine nicht nur die personalen Autoritäten, sondern auch die Autorität der Unterdrückung, d. h. die bestimmter Werte, bestimmter Verletzungen, bestimmter unsichtbarer Banalitäten.

Janukowytsch konnte nicht mehr zum Lachen reizen, als sich in der Rolle des „Vaters des Volkes“ an die Ukrainer zu wenden. Aber in dramaturgischer Hinsicht ist das relativ gut gelungen: Einerseits gibt es „den Vater“ in der Uschanka (Pelzmütze mit Ohrenklappen), andererseits gibt es den „Rotzjungen“ mit Fahnen und Tanz. Wer wird in dieser Situation auf die „Rotzjungen“ setzen? Tatsache ist, dass diese „Rotzjungen“ nur auf sich selbst setzen. Sie brauchen keine Leitung. Wenn sie auf dem Maidan auftreten, werden sie die Rotznasigkeit los, indem sie mit einer dialektischen Methode den „Vater Janukowytsch“ auf der evolutionär überholten postsowjetischen Stufe der Entwicklung zurücklassen. Und das ist wunderbar!

Euromaidan ist ein sogenannter Brauch der Initiative für die, die es schon müde sind, über sich den lähmenden Schatten der postsowjetischen, paternalistischen Figürchen zu haben. Ja, genau: den postsowjetischen Schatten, weil der sowjetische nicht mehr existiert. Das ist keine UdSSR mehr, sondern die Post-UdSSR. Euromaidan ist ein gedankenloses Abenteuer, ein episches Quest, nach dessen Abschluss du nicht mehr sein wirst, wie du vorher warst. Du änderst dich. Das ist eine Begebenheit, die nur einmal im Leben passieren kann. Danach wirst du das sein, was du bis zu deinem Tode sein wirst. Ein Ereignis ist vorbei – der Verfall der Sowjetunion. Sie hat eine Menge post-sowjetischer Länder erzeugt, die man schon nicht verändern konnte. Und jetzt endlich (!) ergeben sich post-post-sowjetische Länder. Obwohl: wozu brauchen wir solche komplizierten „post-post“ Konstruktionen? Es wäre besser so: „Neue Ukrainer“!

Während man sich gedankenlos in die große Politik, in die große Ökonomie einmischt, indem man auf dem Maidan mit (seien wir ehrlich) trivialen Losungen auftritt, verändern die „Rotzjungen“ langsam ihren Verstand und ihren Körper. Wie in fantastischen Filmen finden bei ihnen unwiederbringliche Transformationen statt – entsteht das Rückgrat eines neuen, festeren Stoffes als früher, in den Kopf wurden neue Programme geladen, die das vorherige, vorsintflutliche Windows umformatieren. Stellen wir uns ein neues großes Nest vor, wo unbekannte Wesen auszuschlüpfen beginnen – nämlich die „Neuen Ukrainer“. Noch sind sie weder sehr rational, noch weise, noch sehr weitblickend. Aber sie sind neu. Der Instinkt des Kriechens fehlt ihnen. Nicht allen. Aber je mehr Maidan existiert, desto mehr wird sich die Anzahl der Transformierten, d. h. „Neuen“ vermehren. Darin liegt der Wert des Maidan. Es ist die Geburt einer neuen Realität, die man mit den Methoden der Extrapolation nicht vorberechnen kann.

Wir, diejenigen anderen, alle post-sowjetischen, die früher ausgeschlüpft sind, sollen uns auch auf die gedankenlose Hilfe dieses neu Erschaffenen stürzen. Ohne viele Fragen zu stellen. Einfach helfen, womit man kann. Uns wird ihr Euromaidan schon nicht ändern. Aber man soll es nicht für sich selbst machen. Sondern für die Werte, die am Anfang der 1990er Jahre für kurze Zeit in der Luft aufblitzten, für Freiheit, Vielfalt, Unendlichkeit, Aufruf, Ablehnung – und die wir erfolgreich versiebten. Die Stafette weiterzugeben ist das, was wir jetzt tun können. Und nicht sich etwas in den Bart zu murmeln, passiv zu bleiben und sich unter dem Gewicht der Erfahrungen zu krümmen. Es gibt nichts zu verheimlichen, unsere Erfahrungen sind einfach Scheiße! Das kurze Aufblitzen der utopischen Illusionen in der Dunkelheit des alltäglichen Sumpfs. Das sind keine Erfahrungen, das ist Humus. Aber darauf kann etwas wachsen.

Das ist unsere Chance. Darin liegt der Sinn genau für uns, die Postsowjetmenschen. Und was der Maidan für sie, für die „neuen Rotzjungen“ bedeutet, werden wir kaum erleben und verstehen.

9. Dezember 2013 // Andrej Bondarenko

Quelle: Lb.ua

Übersetzerin:   Anna Deikun  — Wörter: 875

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