„Der Euromajdan sollte nicht gewinnen“ - Jaroslaw Hryzak über die Paradoxe der „Generation ohne Zukunft“



Den Lwiwer Historiker Jaroslaw Hryzak zu hören ist vielleicht deshalb interessant, weil er stets umfassendere Erklärungen sucht. Er ist einer der wenigen Historiker, der oft die aktuellen Entwicklungen in dem Land aus einer Perspektive analysiert, was im globalen Kontext geschieht.

Am Donnerstag, den 10. September stellte Jaroslaw Hryzak an der Ukrainischen Katholischen Universität sein neues Buch vor „Wohin wird sich die Welt bewegen“. Vor den Studenten hielt er dort einen Vortrag über moderne Revolutionen, eine Generation ohne Zukunft und den Nutzen der Geschichte für die Beruhigung der Nerven.

ZAXID.NET veröffentlicht die interessantesten Abschnitte aus dem Vortrag des Historikers.

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Wir haben heute sehr wenig Zeit. Aber was fehlte den Menschen früher? Essen. Etwa 90 Prozent der Menschen in der Welt erlebten Hunger und alle damit verbundenen Krankheiten. Am besten beschreibt alle die Änderungen, die bis in unsere Gegenwart sich vollzogen haben, die Kurzformel „mehr, mehr, mehr, schneller, schneller, schneller.“

Früher änderte sich die Generationen alle 25 Jahre. Jetzt kommt alle zwei oder drei Jahre eine neue Generation des iPhone oder etwas anderes heraus. Verstehen Sie, was das bedeutet? Wir leben in einer Zeit, für die die Geschwindigkeit der Änderungen so gewaltig ist, dass man sie nicht bewältigen kann.

Sie lesen Texte bereits nicht länger als 15 Sekunden. Und auf Webseiten lesen Sie nur die ersten paar Absätze

Zygmunt Bauman, der das Buch „Flüchtige Zeiten“ schrieb, zitiert ein interessantes Beispiel. Heute enthält eine Ausgabe der New York Times weitaus mehr Informationen als die Menschen im 18. Jahrhundert kannten. Wir verstehen, dass wir nicht imstande sind, diese gesamte Information zu beherrschen, das einzige, wozu wir imstande sind, ist es, fragmentarisch zu überfliegen, es in der Facebook-Chronik oder einem anderen Unsinn anzusehen, um dort irgendeine Erkenntnis zu gewinnen. Wenn Sie all das lesen, dann wird das Ihnen das Bewusstsein und Gedächtnis fragmentarisch zerstückeln. Denn heute lesen Sie Texte nicht länger als 15 Sekunden. Wenn Sie aber auf die Ukrajinska Prawda oder irgendeine andere Seite schauen, dann lesen Sie nur die ersten paar Absätze.

Das bedeutet, dass wir heutzutage eine fragmentierte Welt haben und unser Bewusstsein auch fragmentarisch ist. So stellt sich die Frage, was man mit alledem tun soll, wie man das alles lesen soll. Ich beneide die zukünftigen Historiker nicht, ich weiß nicht, wie sie die Geschichte der Welt schreiben werden. Heutzutage ist bei uns alles einfach, Du gehst ins Archiv, liest Zeitungen, denn mehr gibt es nicht. Aber wie wird ein Historiker in Zukunft all unsere E-Mails oder unsere Tweets lesen?

Trotzdem hat Geschichte ihre Vorzüge, denn bei all diesen unterschiedlichen Ängsten, die uns umgeben, kann sie die Rolle eines sicheren Kompasses ausfüllen. Obwohl auch der Kompass nur eine ungefähre Richtung angibt. Deshalb ist die Beschäftigung mit Geschichte sehr nützlich. Sie werden nicht alle Historiker, selbst die Mehrheit von denen, die in die historischen Fakultäten eintreten, werden nicht Historiker. Aber das bedeutet nicht, dass Sie davon befreit sind, Geschichtsbücher zu lesen.

Es gibt eine Studie, die sich damit beschäftigt herauszufinden, welchem Berufszweig das eine Prozent der reichsten Amerikanern angehört. Sie werden es nicht glauben, aber an fünfter Stelle stehen Historiker. Heute spricht man sehr oft davon, wenn Sie ein guter Businessman oder Jurist werden wollen, dann hilft es sehr, wenn Sie während Ihrer Studien Geschichtskurse belegen. Geschichte gibt das Gefühl für das Fließen, in dieser Fragmentiertheit und Schnelligkeit ist es wert, etwas mehr zu spüren. Eine Strömung, die länger und tiefer ist. Damit Sie an irgendeinem Punkt dieser Strömung sich selbst sehen können und verstehen, wohin sie Sie trägt. Daher wird meines Erachtens mit zunehmenden Veränderungen und Belastungen Geschichte immer wichtiger. Sie ist ein psychologisches Gegenmittel, das beruhigt. Historiker sind in der Regel ruhige Menschen (bitte schauen Sie nicht auf mich!).

Es gibt das sogenannte „Hummel-Paradoxon“, wonach die Hummel nach allen Gesetzen der Aerodynamik nicht fliegen dürfte, aber fliegt. Ebenso auch die Ukraine.

Auf die Frage „Wohin bewegt sich die Welt“ gibt es keine Antwort. Mein Standpunkt ist allerdings, wenn Du verstehen willst, was geschieht, musst Du solch eine Frage stellen. Du musst Fragen stellen, die ohne Antwort sind.

Ich gebe Ihnen einen 100.000-Dollar-Rat: Wenn Sie nicht verstehen, was mit Ihnen geschieht, versuchen Sie den Kontext zu erweitern/auszuweiten. Wenn Sie ein Problem sehen, versuchen Sie den Kontext auszuweiten. Es mag territorial, geografisch sein, schauen Sie, wer noch solch ein Problem hat. Suchen Sie und finden Sie unbedingt, denn gewiss hatte bereits jemand solch ein Problem gehabt.

Und zweitens versuchen Sie, es in einem historischen Kontext zu betrachten. Wenn Sie etwas Komplexeres in dieser Welt verstehen wollen, müssen Sie eine spezielle Art von Geschichte, die bei uns in der Ukraine leider sehr wenig verbreitet, aber heutzutage immer mehr bestätigt wird, schaffen. Das geschieht, wenn Sie den Kontext maximal auszuweiten. Sie müssen für eine globale Geschichte bereit sein. Sich nicht mit Russland oder dem gegenwärtigen Polen vergleichen, sondern sich neben Korea oder beispielsweise die Südafrikanische Republik stellen.

Wenn wir die Situation global analysieren wollen, dann müssen wir auch gute Fragen stellen. Die erste Frage ist klar – das ist: „Was geschieht mit uns?“, „Wohin bewegt sich die Welt?“. Wenn wir fragen „was geschieht mit uns?“, dann müssen wir bei der Antwort auf ein gewisses Paradox stoßen. Sie kennen sicherlich das Hummel-Paradoxon, wonach die Hummel nach allen Gesetzen der Aerodynamik nicht fliegen dürfte, aber fliegt. In ähnlicher Weise sollte nach allen Einschätzungen und Prognosen der Politologen die Ukraine nicht existieren als ein stabiler Staat, aber sie existiert.

Wenn Sie etwas so sehen, wenn Sie auf ein Paradox stoßen, dann beginnen Sie eine wirkliche und richtige Frage zu stellen. Worin besteht also unser Paradox? Wir leben heute in einer Zeit des Krieges und der Revolution. Wenn wir aber von Revolution sprechen, mit welchem Punkt in der Geschichte haben wir uns dann zu vergleichen? In diesem Teil der Welt vergleicht man normalerweise, wenn man von Revolution spricht, diese mit der Revolution von 1917, denn so hat man es uns beigebracht. Klügere Historiker vergleichen diese Vorgänge mit der Revolution von 1789, weil sie wissen, dass die Revolution von 1917 genau nach diesem Modell entworfen war.

Diese sogenannten „großen Revolutionen“, die reich an schönen Ereignissen sind, wirken auf einen großen Raum, nicht nur in Frankreich oder Russland. Und vor allem waren diese Revolutionen blutig. Sie begannen schön, endeten aber mit Guillotine oder NKWD.

Unsere Revolutionen beginnen nicht, wenn es schlimmer wird, sondern dann, wenn es besser wird – denn es gibt höhere Erwartungen

Als die Orangene Revolution stattfand, sagte Janukowytsch: „Was für eine Revolution ist das schon?“. Was für eine Revolution, wenn alles friedlich war, wenn die Wirtschaftslage dabei war, sich zu verbessern? Denn nach allen Theorien beginnt eine Revolution dann, wenn es schlimmer wird, und nicht, wenn es besser wird. Diese Revolution lässt sich nicht unter den Merkmalen der Revolutionen von 1917, 1789 und anderen fassen, die mit der Guillotine endeten. Janukowytsch enthüllte im Grunde ein Paradox: das, was im Jahr 2004 passierte, steht nicht im Einklang mit dem, was wir uns als Revolution vorgestellt haben.

Ich kann Ihnen berichten, wann ich das erste Mal die Prognose hörte, in der Ukraine könnte es eine Orangene Revolution geben. Ich erinnere mich genau an das Datum – es war der 12. September 2001. Es war der Tag nach dem Terroranschlag in New York. Bei uns hielt Jewhen Holowacha seine Vorlesung, einer der klügsten Soziologen der Ukraine –er rechnet nämlich nicht, er denkt. Damals sagte er, in der ukrainischen Gesellschaft habe etwas äußerst Wichtiges stattgefunden. Als stellvertretender Direktor des Instituts für Soziologie der Akademie der Wissenschaften hatte er sich von Anbeginn der Unabhängigkeit beständig mit der Erfassung der ukrainischen öffentlichen Meinung beschäftigt. Während der Vorlesung berichtete er, dass sich die damalige Situation sehr stark verändert habe.

Holowacha sagte, wenn man die Ukrainer fragte, wie sich ihre ökonomische Situation im Vergleich zu den vorangehenden Jahren geändert habe, dann antworteten sie von Jahr zu Jahr, es sei schlimmer geworden, schlimmer und schlimmer – Ukrainer lieben es, sich zu beklagen. Zugleich hätten sie auf die Frage, ob sie im vergangenen Jahr ein Auto, einen Computer gekauft hätten, ans Meer gefahren seien, dann hätten sie gesagt „ja“, „ja“ und nochmals „ja“. Holowacha sagte: das bedeute nicht, dass die Leute im einen Fall die Wahrheit sagten, im anderen lügen. Sie sagen in beiden Fällen die Wahrheit. Die Reisen zum Meer, der Kauf von Wohnungen oder Autos wurde bereits nicht mehr als Reichtum angesehen, sondern als Normalität.

Unsere Armut ist relativ – wir vergleichen uns mit denen, die noch etwas mehr haben. Mit erfolgreichen Nachbarn, Klassenkameraden. Und dies ist ein Zeichen für die Gesellschaft, in der wir leben, immer schneller, schneller und schneller, und wir wollen mehr, mehr und mehr. Wenn hier ein Priester wäre, würde er wohl sagen, das ist sehr schlecht – wir denken nicht an Gott und all das andere. Aber Holowacha sagte nein, vom Standpunkt der Gesellschaft ist das gut. Das bedeutet, bei uns ist eine Schicht von Leuten entstanden, bei denen die Grundbedürfnisse erfüllt sind, und nun sind bei ihnen hohe Erwartungen aufgetaucht. Sie denken nicht daran, wie man von einem Tag auf den nächsten überlebt, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, sie denken bereits ein, zwei fünf Jahre weit. Der Horizont ist aufgetaucht für eine lange Planung, eine strategische und keine taktische.

Und dann sagte Holowacha eine sehr wichtige Sache. Sobald Sie die Entstehung einer solchen Gruppe sehen und sie ist zahlreich genug, im Land ist zu dieser Zeit aber ein autoritäres Regime, dann reißt sie diesem Regime den Kopf ab. Er sagte: deshalb geht die Ukraine auf eine Revolution zu. Damals hörten wir mit Skepsis zu, aber es stellte sich heraus, dass er mehr oder weniger recht hatte.

So haben wir dieses Paradox, das darin besteht, dass wir die modernen Revolutionen nicht mehr mit den Revolutionen von 1917 und 1789 vergleichen können. Es handelt sich um einen neuen Typ von Revolution. Unsere Revolutionen beginnen nicht mehr dann, wenn es schlimmer wird, sondern wenn es besser wird. Denn die Erwartungen sind gestiegen. Wenn in der Ukraine die Situation schlecht ist, erwarten Sie keine Revolution, denn die Menschen sind damit beschäftigt zu überleben. Dagegen wird die Lage revolutionär, wenn es für die Mittelschicht besser wird. Das bedeutet außerdem, dass die Revolutionen bei uns jetzt mit der Mittelschicht verbunden sind. Der größte revolutionäre Teil der Gesellschaft sind Menschen, die Autos, Computer und alles andere haben.

In den alten Revolutionen ging es um Interessen. Jetzt aber sind an die Stelle von Interessen Werte getreten

Ein Muster für diesen Typ von Revolution ist eine andere französische Revolution, die von 1968. Ihr größtes Symbol waren die Vorgänge in Paris an der Sorbonne. Die Studenten hatten damals wunderschöne Parolen, wie beispielsweise „Verbote verbieten“, „unter dem Pflaster liegt der Strand“… Es gab aber etwas sehr wichtiges und erstaunliches: sie alle traten unter einer linken Ideologie auf. Ihre Hauptideologen waren die drei „M“: Marx, Marcuse und Mao Zedong.

Auffällig war, dass keiner von ihnen Proletarier war, alle gehörten sie zur Mittelschicht – es war ein Aufstand von Kindern der Mittel-, ja sogar der oberen Mittelschicht, die aus irgendeinem Grund linke Ideologie nutzten. Umgekehrt haben sich die, die wir das Proletariat nennen, die Arbeiter, in jener Zeit nicht mit ihnen solidarisiert, sondern standen an der Seite des Hauptgegners jener Revolutionäre, Charles de Gaulle. Sie solidarisierten sich mit einem bürgerlichen Präsidenten. Etwas stimmt nicht, so geht nicht eine Revolution, ein Paradox. Wie soll man das erklären? Dieses Paradox ist eines der Hauptsymbole unserer Zeit.

Der amerikanische Soziologe Ronald Inglehart, der sich darangemacht hat, eine Dissertation über Paris und diese Studentenunruhen zu schreiben, verstand, dass es nicht stimmte. Während die Mittelschicht mit marxistischen Parolen den Aufstand probt, solidarisiert sich umgekehrt das Proletariat nicht mit den Revolutionären, sondern mit dem Staat. Und da stellte Inglehart eine sehr wichtige Hypothese auf, es geht in der Tat nicht um Interessen.

Diese alten Revolutionen gingen um Interessen. Aber jetzt geschah etwas ganz anderes, anstelle der Interessen traten Werte. In dieser Generation waren die Grundbedürfnisse befriedigt, sie hatten das Glück, nach dem Krieg geboren zu sein, sie wuchsen in den 50er und 60er Jahren auf, die die besten ökonomischen Jahre in der Geschichte waren. In diesen tauchten anstelle der Grundbedürfnisse, bei denen es um das Überleben geht, Werte der Selbstentfaltung. Sie mussten gegen alles revoltieren.

Dann formulierte Inglehart die Hypothese: wenn Du den Sinn von Veränderungen verstehen willst, dann schaue auf die Werte. Versuche zu verstehen, was diese Menschen motiviert. Sie wissen, die Eltern sagen immer: „Ihr seid jetzt so jung, wartet, bis ihr so alt seid wie wir…“ Das bedeutet, wenn Ihr so alt sein werdet wie wir, dann wird es sich ändern. Inglehart sagt aber nein, es wird sich nicht ändern, denn die Werte werden für ein und allemal gebildet. Ihr mögt Euch die Haare färben, Telefone austauschen und etwas anderes machen, aber die Werte bleiben die gleichen.

Wenn Ihr wissen wollt, was mit Eurer Generation wird, dann solltet Ihr fragen, was mit Euch passiert ist, als Ihr Jugendliche wart. Was ist mit Euch geschehen, mit solchen wie Euch, und was ist für Eure Generation das gemeinsame Verbindende. Ich bin beinahe sicher, dass die Mehrheit von Ihnen „Harry Potter“ gelesen hat. Ich weiß nicht, ob Euch das aufgefallen ist, aber „Harry Potter“ ist vielleicht das einzige Buch, dass Ihr bis zum Ende gelesen haben, Eure Generation liest keine Bücher zu Ende.

Inglehart sagt, dass Geschichte jetzt nicht durch Klassen, nicht von Interessen gemacht wird, sondern durch den Wechsel der Generationen. Deshalb weil jede Generation bestimmte Werte trägt, und der Wert das ist, was Menschen motiviert. Sie können verschiedenen Schulen, verschiedenen Ländern, unterschiedlichen Klassen angehören, aber sie haben eine gemeinsame Motivation. Und diese Motivation hilft zu verstehen, wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten werden.

Ich will Euch keine schlechte Nachricht sagen, aber Ihr werdet so sterben, wie Ihr geboren wurdet

Wenn wir wissen wollen, wohin die Welt geht, dann müssen wir wirklich über Euch sprechen. Deshalb, weil es wirklich um Eure Generation geht. Und die These, die ich vertrete, ist folgende: Man kann den letzten Majdan nicht verstehen, wenn man ihn mit den vorangehenden vergleicht. Die Statistik zeigt, dass annähernd 40 Prozent der Menschen, die am letzten Majdan teilnahmen, nicht am ersten teilgenommen haben. Und man versteht auch weshalb, denn viele von ihnen waren noch Kinder.

Aber auch dies ist nicht so wichtig. Der alte Majdan war der eine Explosion des Protests der Zivilgesellschaft, für die die Führer sehr wichtig waren. Auf diesem Majdan verhielt man sich Führern gegenüber skeptisch. Am Anfang liebten sie nicht Janukowytsch, dann Putin, schließlich aber liebten sie die „Trojka“ nicht (gemeint sind Arsenij Jazenjuk, Witalij Klytschko und Oleh Tjahnybok, A.d.R.). Es gab überhaupt keinen Respekt gegenüber den Führern. Und das nicht deshalb, weil sie schlechtere Führer waren als Juschtschenko oder Tymoschenko, sie waren genauso. Aber etwas äußerst Charakteristisches hatte sich geändert. Verändert hat sich wesentlich das, worüber wir jetzt sprechen werden. Eure Generation akzeptiert keine Hierarchie, sie ist eine Generation horizontaler Aktionen, nicht vertikaler.

Es gibt einige objektive Züge, die Sie untereinander verbinden. Erstens soziale. Wer von Euch ist in einem Dorf geboren? Die Minderheit, ein Viertel. In unserer Generation war es die Mehrheit. Eine wichtige Änderung hat sich vollzogen: in den letzten zehn Jahren wurden die meisten Kinder in der Ukraine Städter. Die Ukraine hat aufgehört, eine ländliche Nation zu sein, sie wurde städtisch.

Meine Karriere ist eine Karriere sozialen Aufstiegs. Ich bin in einem Dorf geboren und wurde Professor an der Ukrainischen Katholischen Universität. Kutschma wurde Präsident – er stammt auch vom Dorf, Krawtschuk, Juschtschenko… Janukowytsch ist der erste, der nicht vom Dorf stammt, aber das hilft ihm nicht viel. Poroschenko ist bereits gewiss nicht vom Dorf. Wir waren eine Generation sozialen Aufstiegs. Wir sind alle angelangt an Stellen jenseits des Geburtsorts und des sozialen Status, den wir hatten. Das bedeutet etwas, es erklärt, weshalb Sie uns nicht wirklich glauben.

Die Ukraine hat aufgehört eine dörflich-bäuerliche Nation zu sein und wurde eine städtische

Jene Generationen, die soziale Aufstiege hatten, neigten stärker zu Utopien. Weil ihre Art zu denken ihre Biografie wiederholt, wollen sie Großes, neigen sie dazu kleine Dinge mit großen Namen zu bezeichnen, apathisch und pathetisch zu sein, wir glauben an die Utopie, für uns ist der „ismus“ sehr wichtig, – wir glauben alle daran.

Eure Generation ist bereits nicht mehr eine Generation der sozialen Aufstiege. Für Euch haben die Aufstiege aufgehört, sie finden nicht statt. Ich will Euch keine schlechte Nachricht überbringen, aber Ihr werdet sterben. Ihr werdet so sterben, wie Ihr geboren seid. Ich sage nicht, dass Ihr nicht Präsident werdet oder etwas anderes, aber Ihr werdet in der Gruppe sein, in der Ihr geboren seid. Das bedeutet, Ihr werdet pragmatischer orientiert sein und Euch werden die Dinge weniger interessieren, die uns interessiert haben, jene großen Worte.

Ein Zweites: Ihr seid alle Studenten. Wie viele von Euren Klassenkameraden haben sich nicht aufgemacht, an Hochschulen zu studieren? Das gleiche wie mit Dorf und Stadt. Nach verschiedenen Berechnungen setzen heute 70-80 Prozent der Schuldabsolventen ihre Ausbildung fort, es sind nicht mehr einzelne. Dies bedeutet, dass die Ukraine nicht nur eine städtische Nation, sondern eine Nation der Hochschulausbildung wurde. Die Bedingungen haben sich geändert, jetzt gibt es eine neue Motivation, es wurde unzureichend, nur eine mittlere Ausbildung zu haben. Die Hochschulbildung wurde zur Norm. Ich sage nicht, dass die Ausbildung bei uns gut ist – Gott bewahre, und ich sage nicht, dass die Universität irgendein einzigartiges Wissen vermittelt.

Jewhen Hlibowyzkyj, der das Unternehmen pro.mova leitet, führte im Auftrag der Edinburgh Business School, die herausfinden wollte, wie Studenten angelockt werden, Untersuchungen durch. Auf irgendeine witzige Empfehlung hin stellten sie vor dem roten Hauptgebäude der Kyjiwer Schewtschenko-National-Universität ein Plakat auf, auf dem in kyrillischer Schrift stand: „Нав вен ю хев е діплома, вот ар ю гоінг ту ду?“ (Now, when you have a diploma, what are you going to do?, A.d.R.) Genau das ist ein Symbol für die ukrainische Bildung.

Die Kinder gehen zur Hochschule vor allem deshalb, weil es ihnen ihre Eltern so sagen. Zweitens versteht Ihr irgendwie bewusst oder unbewusst, dass Ihr es tun müsst, weil alle das tun. Drittens habt Ihr nicht das Bewusstsein, aber im Grunde versteckt Ihr Euch für fünf, manchmal für zehn Jahre vor der Arbeitslosigkeit. Und das nicht nur in der Ukraine, so in der gesamten Welt: Die Universität wird babysitter: sie behütet Kinder, damit sie nicht auf die Straße gehen, denn dort ist es gefährlich. Heute hat die Hochschulbildung völlig andere Funktionen, einst aber war sie nur für ein Zehntel zugänglich und gab damals eine Perspektive, einen gewissen Status.

In der Tat, was bringt Ihnen das Diplom? Nichts. Das bedeutet, Ihr seid eine Generation ohne Zukunft. Genauer eine Generation ohne unsere Zukunft. Es gibt den Begriff „Prekariat“. Vor zehn Jahren hat ihn Guy Standing geprägt. Prekariat – das ist eine neue Klasse, eine neue Gruppe von Menschen, die keine bestimmte Zukunft hat. Bei uns war es sehr einfach: wir haben die Universität mit 25 Jahren beendet und wussten ungefähr, wie unsere nächsten 40 Jahren sein werden.

Nach Eurer Einstellung seid Ihr Mittelschicht, nach Eurer Stellung aber näher zum Proletariat. Ihr könnt nicht glänzen, denn Ihr seid zu viele

Bei Euch ist das nicht mehr so, Für Euch gibt es keine Gewissheiten mehr. Ihr seid eine unklare Schicht in unklaren Zeiten. Weil die Mehrheit von Euch eine Hochschulausbildung hat und Ihr untereinander konkurriert. Dies gibt für Euch keinerlei Vorteile. Außerdem – das ist eine lange Geschichte – leben wir in Zeiten des Neoliberalismus. Das ist so ein wilder Kapitalismus, Chicago School, das ist Saakaschwili. Ein leichtsinniger Kapitalismus, der dafür errichtet wurde, um schnell und viel Geld zu machen, ändert schnell das Land, sorgt sich aber nicht um die Armen und kaum Abgesicherten. Sein Slogan ist reich oder stirb. Bei uns aber hat er die wildeste Form angenommen, denn bei uns herrschte zuvor ein wilder Kommunismus. Bei uns herrscht die Chicago School russisch-ukrainischer Machart, das aber bedeutet, für Euch gibt es noch weniger Chancen.

So ist die Kurzformel also einfach: nach Eurer Einstellung seid Ihr Mittelschicht, nach Eurer Stellung aber seid ihr näher zum Proletariat. Ihr könnt nicht glänzen. Denn Ihr seid zu viele. Es ist das Prekariat – eine gesellschaftliche Schicht ohne eine große Zukunft. Jetzt sagt man so: sag mir, in welchem Jahr Du geboren bist und ich sage, wie arm Du wirst. Denkt nicht, dass Ihr Ausnahmen seid, das ist jetzt weltweit so.

Ich habe Artikel gesehen, in denen der Begriff lächerlich gemacht wurde, aber redet über das Prekariat mit Polen. Wisst Ihr, was in Polen passiert ist? Komorowski verlor die Wahl, weil die Jugend für den Rock-Sänger Kukiz gestimmt hat. Sie stimmte gegen Komorowski, weil sie für jemanden von der Art stimmen wollten, der ihre Ansichten zum Ausdruck bringt. Daher sagt man zurecht, Konmorowski habe durch das Prekariat verloren, er bemerkte nicht das Aufkommen einer neuen Schicht, er dachte, alles bleibt so, wie es war.

Der Euromajdan wurde die einzige Revolution einer kreativen Schicht, die siegte

Der Euromajdan ist die Revolution des Prekariats. Ich sage nicht, nicht nur des Prekariats, aber eben diese Gruppe gab dem Euromajdan andere Qualitäten. In diesem Sinne glich der Euromajdan eher der Bewegung Occupy als Protesten auf dem Taksim-Platz in Instanbul, obgleich dort auch viele Jugendliche revoltierten, wohlsituierte Menschen aus der Mittelschicht. Ebenso war es auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, wo die schöpferische Schicht revoltierte. Der einzige Unterschied all dieser anderen Revolutionen der schöpferischen Schicht ist, dass sie die einzige siegreiche Revolution war. Weil das Prekariat sich nicht so sehr darum kümmerte zu siegen, kümmerte es sich darum schön zu revoltieren. Es war ein kreatives Happening, bei der kreative Selbstdarstellung sehr wichtig war. Das ist sehr nett anzusehen, aber Happenings siegen nicht.

Wir haben wieder Paradox auf Paradox. Es gibt eine Revolution, die verlieren sollte, aber gewann. Und was hat das mit Euch zu tun? Man nennt Euch die Generation mit dem Daumen, Ihr seid die digitalisierte Generation. Vielleicht gibt es unter Euch noch Klassenkameraden, die noch nicht zum Studium zugelassen sind, aber es gibt wohl kaum einen, denke ich, der keinen Computer daheim hat oder irgendwo einen Twitteraccount. Das bedeutet, dass Euer Leben wesentlich im Internet stattfindet. Aber dort ist es hauptsächlich egalitär und gleich. Dort kann man nicht höher oder niedriger sein, dort sind alle gleich. Um so mehr, weil sehr häufig diese Gleichheit durch Anonymität gesichert wird.

Eure Generation mag es nicht zu Abstimmungen zu gehen und tritt Parteien nicht bei. Eure Generation lehnt die alten Wege Politik zu machen ab. Und deshalb ist die Parole sehr wichtig „klaut der Oma den Pass“ [um so zu verhindern, dass sie wählen gehen kann, Anm. d. Ü.]. Denn sie gehen häufiger wählen, eben sie bestimmen die Ergebnisse der Wahlen. Eure Generation geht nicht zu Wahlen, Ihr seid sogenannte „Dauerprotestler“, die gegen alles sind. Ihr seht nicht, auf wem man seine Interessen und Wünsche projizieren kann, und wer Euer Symbol ist.

Wenn wir darüber sprechen, so leben wir jetzt wirklich in einer sehr wichtigen Zeit. In Zeiten, in denen wir uns durch Geschichte gefestigt werden können. Ihr habt Euch bereits als Generation geformt, habt eine gewisse Menge von Werten, es sind dies die Werte der Selbstentfaltung.

„Jetzt in der Ukraine haben wir eine Kluft zwischen den Generationen – die gleiche, die es in Frankreich, Polen und Deutschland in den 60er Jahren gab“

Ihr kommt in das Alter, wo Ihr für Euch ob Ihr wollt oder nicht eine Entscheidung trefft. Mit 40 bis 50 Jahren wird jede Generation regieren. Eigentlich regiert in Europa jetzt die Generation der Studenten von 1968, sie haben diese Welt geschaffen. Wenn Ihr ihre Logik verstehen wollt, schaut, was mit ihnen 1968 geschehen ist.

Ihr werdet die Leute, die Poroschenko und alle anderen ersetzen, aber das bedeutet keine einfache Sache. Wenn das stattfindet, werden wir ein völlig anderes Land haben. Jetzt aber haben wir in der Ukraine eine Kluft zwischen den Generationen, das Gleiche, was in Frankreich, Polen und Deutschland in den 60er Jahren war. Eure Generation gleicht den Werten nach mehr Euren gleichaltrigen Europäern als unserer Generation. Ihr seid eine globale Generation.

Wir haben große Angst gehabt, dass der Krieg und die Wirtschaftskrise zu einem Zurücksetzen der Werte Eurer Generation führt. Wenn solche Dinge passieren, beginnen die Menschen sich um das Überleben zu kümmern und nicht um Selbstverwirklichung. Wenn das geschieht, sind Veränderungen bereits nicht mehr möglich. Im Mai 2015 haben wir eine Befragung durchgeführt, die aufzeigte, dass ein Zurückdrehen wirklich nicht stattgefunden hat. Ihr seid nirgendwohin verschwunden, das aber bedeutet, das Land wird unter zwei Bedingungen anders.

Erstens – wenn Ihr nicht von hier fortgeht, aber der Wunsch und die Versuchung fortzugehen sehr stark werden. Zweitens – wenn Ihr nicht zulasst, korrupt zu werden und „Poroschenkos“ und „Luzenkos“ werdet, ich sage noch nicht einmal „Janukowytsche“. Ich denke, die zweite Gefahr ist geringer, die erste bleibt aber sehr real. Das bedeutet, man muss eine Plattform und Institutionen aufbauen, wo Ihr bleiben könnt, wo Ihr Euch selbst realisieren könnt.

Und noch wichtiger – man muss Euch Ideen geben, man muss Euch helfen, Ideen zu suchen. Ihr wisst genau, was Ihr nicht wollt, aber Ihr wisst nicht, was Ihr wollt. Das ist ein Effekt unserer Zeit. Wir leben heute in einer großen Krise, eine Krise des Verlusts von Sicherheit, eine ökologische Krise, eine Krise der Ungleichkeit.

Aber lasst uns diese Krise als eine Chance betrachten, schaut vor allem auf diese Krise als Chance, denn dies sind Eure großen Zeiten.

11. September 2015 // Jaroslaw Hryzak

Quelle: Zaxid.net

Hryzak veröffentlicht seit längerem für ein breiteres Publikum Aufsätze in der Zeitschrift Kraina, sein Buch erschien in Kiew, Куди рухається світ. Кiew, Грані-Т, 2015.- 192 S.

Übersetzer:    — Wörter: 4242

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