Ich bin selten in der Nähe der Sophienkathedrale. Sehr selten. Jetzt entschloss ich mich vorbeizuschauen. Nicht beim Tomos, sondern beim Grab des alten Strafgefangenen Wassilij Romanjuk, der durch die Macht des Schicksals nur kurz ukrainischer Patriarch wurde; der erste.
Wir haben uns nicht im Lager getroffen. Er verbüßte seine Strafe in Mordwinien, ich im Ural. Wir lernten uns erst hier kennen, in Kiew, in den ersten Jahren unserer Unabhängigkeit. Jewgenij Alexandrowitsch Swerstjuk [ukrainischer Dissident und Schriftsteller 1928-2014, A.d.R] stellte uns einander vor. Wir schafften es, gemeinsame Bekannte in sowjetischen Straflagern auszumachen. Ein längeres Gespräch kam wegen der Fülle seiner Verehrer und Freunde rundum nicht zustande. Die Menschen wollten zur nächsten Versammlung gehen…
Ich bin kein Kirchenhistoriker. Vielleicht kenne ich die Einzelheiten nicht. Das Wichtigste ist: der ehemalige Strafgefangene Romanjuk wurde zum Patriarchen gewählt. Obwohl sich jemand anderes für diesen Posten vorbereitet hatte, ein obrigkeitshöriger ehemaliger Offizier des KGB, der sich mit dem höheren Moskauer Kirchengesinde plötzlich überworfen hatte [Glusman meint hier den nunmehrigen „Ehrenpatriarchen“ der Orthodoxen Kirche der Ukraine Filaret (Michail Denissenko), der jahrelang die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats leitete, A.d.R.]. Darüber schrieb man, darüber sprach man, so waren die Zeiten.
Heute denke ich, dass der Zweite, der nicht Patriarch wurde, den Kanon besser kannte als Romanjuk, eine bessere kirchliche Ausbildung genossen hatte. Der mehrfach einsitzende Strafgefangene hatte gar nicht diese Möglichkeiten in seinem bitteren Leben.
1995 verstarb der ukrainische Patriarch plötzlich. Er war krank, die Jahre in Gefangenschaft hatten seinen Körper zerstört, aber nicht seine Seele. Ja und sein Patriarchen-Leben war auch nicht einfach, worüber, wie ich hoffe, sich irgendwann die Kirchenhistoriker zu schreiben wagen…
Man begrub ihn traurig, grässlich, widerlich. Die politischen Extremisten unter der Führung eines weit bekannten Hochstaplers versuchten damals aggressiv und grob, den Sarg in die Sophienkathedrale zu bringen und ihn dort beizusetzen. Aber da die Sophienkathedrale damals nicht in konfessioneller Verwaltung war, ließ die ukrainische Führung die jungen Leute mit dem Sarg nicht ein. Ich weiß nicht, ob noch Videoaufzeichnungen von Polizei und ukrainischen Spezialkräften von diesem abscheulichen Aufstand mit dem Sarg auf den Schultern und Händen vorhanden sind. So begann das kirchliche Leben in der bereits unabhängigen Ukraine.
Ich verstehe, dass viele Jahre vergangen sind. Viele Teilnehmer und Zeugen der Ereignisse sind in die andere Welt hinüber gewechselt. Aber man sollte unbedingt etwas darüber wissen. Ich überdecke nicht mit milden Worten unseren ganz und gar nicht einfachen Beginn des Staates.
Und nun stehe ich hier an der Sophienkathedrale. Wo man gestern dem Volk den noch nicht unterschriebenen Tomos vorführte.[Inzwischen ist die Urkunde in Istanbul vom ganzen Synod unterzeichnet worden, A.d.R.] Wie schon früher liegt der ukrainische Patriarch, ein glänzender Mensch, anderthalb Meter von der Mauer entfernt, wie ein großer Sünder und Selbstmörder. Hunderte Leute gehen in die Kathedrale hinein, entweder in den Gottesdienst oder ins Museum, hunderte kommen heraus. Und ich stehe schweigend am Grab des Lagerinsassen Wassilij Romanjuk und lege eine Blume auf die Grabplatte. Eine Blume, eine frische, für die ich vorher den Schnee mit den Händen wegschiebe.
Vom Wasser und der Zeit zerstörte Buchstaben zerbröckeln, die ehemals leuchteten. Gestern war hier ein Fest des noch nicht unterzeichneten Tomos, ein Feiertag für Pjotr Alexejewitsch Poroschenko, nicht des Märtyrers Romanjuk.
Niemand bleibt stehen und ich verstehe, dass sie nicht wissen, dass ganz in ihrer Nähe ein Grab ist. Sie wissen nichts über Romanjuk selbst, über den verborgenen Widerstand gegen „Nummer zwei“, der es damals nicht schaffte, oberster Geistlicher zu werden, über den Haushaltsstreit, über den demütigen Umgang mit dem „Untermieter“…
So war es.
14. Januar 2019 // Semjon Glusman, Dissident, Psychiater
Quelle: Lewyj Bereg
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