Es sind wahrscheinlich seit den Zeiten des Maidans nicht mehr so viele Flüche auf das Haupt Janukowitschs herabgeregnet wie nach den skandalösen Charkower Übereinkünften.
Nun, man kann Viktor Fedorowitsch vieles zur Last legen. Aber man kann ihm keineswegs vorwerfen, dass er die Menschen, die ihn gewählt habe, betrügen würde. Janukowitschs revanchistische Politik entspricht den Erwartungen seiner Wähler. Und gut die Hälfte des Landes heißt die Charkower Übereinkünfte nicht etwa aus bürgerlicher Gleichgültigkeit gut, sondern weil sie die viel beachtete Angelegenheit für günstig und Russland für eine freundschaftlich gesinnte Großmacht hält.
Diesen Umstand kann man nicht ignorieren.
Am 21. April hat sich die mentale Spaltung der Ukraine in ihrer vollen Kraft gezeigt. Das Schwarz der einen erwies sich als das Weiß der anderen.
Das, was die einen als Verrat an den nationalen Interessen bezeichnen, sehen die anderen als nützliche Handlung zum Wohle des Landes. Für die einen eine große Tragödie, für die anderen ein absolut natürlicher und richtiger Schritt.
Dabei geht es nicht um politische Gruppierungen, welche ihre Beziehungen zueinander klarstellen, sondern um die Weltanschauung von Millionen Ukrainern.
Die heute geteilte Ukraine erinnert an das Spanien Mitte der dreißiger Jahre, das von Salvador Dali im Bild „Vorahnung des Bürgerkriegs“ metaphorisch dargestellt wird. Nein, meuterische Generäle, Waffen in den Händen der Bevölkerung und ein explosives, südländisches Temperament gibt es bei uns nicht. Dafür gibt es eine surreale Entfremdung, den Unwillen und Nichtwunsch einander zuzuhören und zu verstehen.
Die Zeitgenossen Dalis, welche die nationalistische Hymne „Einiges Spanien, Großes Spanien, Spanien erhebe dich!“ sangen, konnten sich nicht an die Seite derer stellen, die das revolutionäre Lied „Söhne des Volkes“ bevorzugten. Die Anhänger der sozialistischen Reformen waren fest überzeugt, dass es besser ist, „alle spanischen Kirchen niederzubrennen, als auch nur einem Republikaner Schaden zuzufügen“. Jeder glaubte, dass das wirkliche Spanien er selbst und seine ideologischen Brüder sind, hielt dabei seine Gegner für Anti-Spanier und jegliche Kompromisse für irgendwie erniedrigend und unmöglich.
Eine solche Atmosphäre der Entfremdung ist auch für die heutige Ukraine charakteristisch.
Das Verständnis von nationalen Interessen und bürgerlicher Position ist zu einer regionalen Priorität geworden. Wenn empörte Oppositionelle zur Verteidigung der „nationalen Würde, der Erinnerung an die Helden, der Zukunft ihrer Kinder“ aufrufen, so sind damit die Würde, Helden und Kinder bestimmter Gebiete in der Ukraine gemeint.
Wenn Janukowitsch und Co. über das Volk sprechen, dass mit beginnender Stabilität befriedigt wird, dann ist damit ein Volk gemeint, das in bestimmten Regionen des Landes lebt.
Die Mächtigen versuchen gar nicht erst, eine gemeinsame Sprache zwischen Ternopol und Lwow zu finden, die Opposition hat die Hand über den Bürgern des Südostens geschwungen.
Die Gegner wenden sich an ein spezielles Publikum und erwecken den Eindruck, dass dieses auch die einzig authentische Ukraine repräsentieren würde. Zahlreiche Experten, Journalisten und unversöhnliche Intelligenzler, die es auf beiden Seiten gibt, helfen dabei, diese Illusion zu unterstützen.
Beide Lager schaffen ihre eigene Realität. Berührungspunkte zwischen den beiden Ukrainen gibt es immer weniger – zwei Galaxien ähnlich, entfernen wir uns voneinander. Gefährliche Extreme haben ihre marginalen Felder verlassen und sind zum gesellschaftspolitischen Mainstream geworden.
Radikale Russophile und Stalinisten aus der Kommunistischen Partei der Ukraine haben es sich an der Macht bequem gemacht und die Opposition ist in die Rhetorik von Tjahnyboks „Swoboda/Freiheit“ abgerutscht.
In unseren Augen werden die Plattformen zur Ausarbeitung von Kompromissen zerstört und potentielle Schiedsrichter, die für das ganze Land die gleiche Autorität haben, gehen verloren. Alles und Jeder ist diskreditiert, engagiert, in Widersprüche verwickelt.
Wenn sich die Situation in der Ukraine in absehbarer Zukunft verschärft, wer kann dann in die Rolle des unabhängigen Mediators oder Schiedsgerichtes schlüpfen?
Ein dienstfertiger, konstitutioneller Gerichtshof, der widersprüchliche Entscheidungen zu ein und derselben Sache trifft?
Eine vierte Macht, die sich eilig vor der Bankowaja (Sitz des Präsidenten) verbeugt?
Unabhängige Journalisten, die ihren Mitbürgern ins Gesicht werfen: „Nachfolgende Analyse der Charkower Flüge ist für die Ukrainer gemacht. Für Chochly nicht zu empfehlen“?
Berüchtigte, „moralische Autoritäten“, die auf der anderen Seite des Dnjepr über keinerlei Autorität verfügen?
Kirchenobere, die in weltliche, politische Auseinandersetzungen verstrickt sind?
Unsere europäischen Partner, denen schon bei der bloßen Erwähnung des Wortes „Ukraine“ schlecht wird?
Es wäre lustig, von der politischen Elite der Ukraine als gesellschaftlichem Schlichter zu sprechen. Die destruktiven Tendenzen in ihrer Tätigkeit treten immer deutlicher zutage.
So wie Viktor Juschtschenko wurde Janukowitsch zum Präsidenten der Hälfte des Landes, aber im Unterschied zu Juschtschenko handelt er energischer und härter. Nach fünfzig Tagen hat Viktor Fedorowitsch vielleicht nicht den größeren Teil der Ukrainer zur Weißglut getrieben, wohl aber den passioniertesten.
Eine Machtvertikale aus Stahlbeton aufbauend, begrenzt er die Möglichkeiten für gerichtliche Auseinandersetzungen mit den Regionalen. Aber dies kann die ukrainischen Oppositionellen nicht bremsen: Bekanntermaßen zieht Frau Timoschenko den Appell an die Straße vor. Julia Wladimirowna beneidet offensichtlich die Anführer der kirgisischen Opposition und wenn es der Enthusiasmus des Volkes zulässt, ist sie bereit, Kiew in ein zweites Bischkek zu verwandeln. Auch wenn es vollkommen offensichtlich ist, dass die Hälfte des Landes, die Janukowitsch unterstützt, niemals gewalttätige Methoden des Regimekampfes und einen „Maidanpräsidenten“ annehmen wird.
Die handelnden Machthaber treiben die Westukraine Schritt für Schritt in die Ecke und die flammenden Oppositionellen träumen davon, den Südosten in eine ähnliche Lage zu bringen.
Es zeichnet sich eine trübsinnige Perspektive ab…
Was soll man nun machen mit der ukrainischen Spaltung? Die gebildete, hauptstädtische Intelligenz hat einige mögliche Herangehensweisen an diese delikate Frage durchprobiert.
Anfangs bemühte man sich, die Existenz von zwei Ukrainen zu ignorieren und dies als erdachtes Problem zu bezeichnen. Danach begann die Epoche des aktiven Kulturträgertums und der Versuche, die Barbaren des Südostens umzuerziehen.
Heute ist eine neue Rhetorik aktuell: „Die Russen aus Donezk und der Krim wählen Janukowitsch und versperren uns den Weg nach Europa!“, „Wir sind so verschieden, warum sollen wir uns gegenseitig quälen?“, „Erinnern sie sich an Tschechien und die Slowakei!“ usw.
Müßige Gespräche über ein tschechoslowakisches Szenario sollte man so schnell wie möglich sein lassen. Und nicht deswegen, weil der ukrainische Dom ein höheres Heiligtum ist (mit Heiligtümern ist es in der heutigen Zeit sowieso schwierig), sondern weil eine zivilisierte Trennung unter unseren Umständen eine hoffnungslose Utopie ist.
Die Befürworter einer Trennung, die es in beiden Lagern gibt, stellen sich diesen spannenden Prozess ganz verschieden vor.
Die Teilung auf Donzker Art ist die Ablösung der fremden Galizier, die von Minister Tabatschnik so heiß geliebt werden. Die Teilung auf Lwower Art ist die Befreiung vom fremdartigen Donbass. Dabei hält jede Seite eben sich selbst für die wahre Ukraine und hat nicht vor, dem Gegner die Hauptstadt Kiew und die zentralen Rayons zu überlassen.
Glauben Sie, dass Menschen, die nicht fähig sind, einander zuzuhören und zu verstehen, sich anständig über die Aufteilung von Habseligkeiten verständigen können? Wenn die Bürger schon nicht friedlich in einem Land zusammenleben konnten, so werden sie auch nicht friedlich auseinander gehen.
Wenn aber die Ukrainer zu einer zivilisierten Trennung heranreifen, dann besteht für diese auch automatisch keine Notwendigkeit mehr: Es ist viel einfacher, einen annehmbaren Modus vivendi auszuarbeiten, als das gemeinsame Haus auseinanderzubauen.
Und so steht uns keine reibungslose Trennung bevor. Die einzige Alternative zu einer kompromissreichen Koexistenz – wäre ein extremes Szenarium mit Massenunruhen, Anarchie, unkontrollierbaren Kettenreaktionen, ökonomischem Zusammenbruch, Blutvergießen und der Einmischung der findigen Nachbarn, die es nicht versäumen, ihren Vorteil aus der zerfallenden Ukraine zu ziehen.
Man muss die Realität nehmen, wie sie ist.
Durch den Willen der Geschichte sind die Ukrainer in einer Kette zusammengeschlossen und diese Kette zu sprengen, scheint unmöglich. Wir haben zwei Möglichkeiten: Lebend operieren mit dem Risiko eines tödlichen Ausgangs oder uns die hohe Kunst der koordinierten Bewegung aneignen.
Im Moment weichen wir von einer Seite auf die andere, bemüht unseren Genossen mit Gewalt hinter uns ins Unglück zu ziehen. Dieses Format hat keine Zukunft: Die Ukraine kann nicht ewig im Zustand des zivilisierten Halbzerfalls leben.
Entweder finden wir einen vernünftigen Kompromiss oder wir gehen auf ein tragisches Ende zu. Einen dritten Weg gibt es nicht.
27. April 2010 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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