In den Fängen des Glücks
Die Anti-Krisen-Konferenzen Roosevelts und Hoovers beurteilend bemerkte der britische Historiker Paul Johnson sinnig: „Es ist für den Forscher nicht angenehm, das zuzugeben, aber Glück ist immer ein wichtiger Faktor“.
Sich die entscheidende Rolle des stumpfen Glücks einzugestehen ist wahrlich nicht leicht, und das nicht nur für pedantische Historiker, sondern auch für ehrgeizige Politiker.
Die heutige Ukraine ist eine deutliche Bestätigung dessen. Wenn die Regierung Timoschenko nicht mit der globalen Finanzkrise zu kämpfen gehabt hätte, so hätte Viktor Janukowitsch keinerlei Chancen auf eine Präsidentschaft gehabt.
Den Sieg Janukowitschs sicherten nicht seine persönlichen Vorzüge, sondern der globale Faktor, der in keiner Weise von Janukowitsch und anfangs auch nicht von anderen ehrwürdigen, ukrainischen Politikern abhing. Der Anführer der Regionalen hatte einfach Glück, aber Viktor Janukowitsch ist kaum dazu in der Lage, diesen unbequemen Fakt zuzugeben und anzunehmen.
Für Janukowitsch ist das Resultat der Präsidentschaftswahlen durchaus kein zufälliges Lächeln Fortunas, sondern ein unausweichlicher Triumph der Gerechtigkeit, die gesetzmäßige Genugtuung für 2004, die natürliche Wiederherstellung der Ordnung der Dinge. Die Usurpatoren des Maidan, die den gesetzmäßig ihm gebührenden Platz eingenommen hatten, wurden nicht vom banalen Glück beseitigt sondern von der historischen Logik selbst!
Vom Standpunkt des neuen Präsidenten und seiner Mitstreiter aus sind die richtigen Machthaber in der Ukraine zurückgekehrt und von nun an sollte unser Leben seinen Lauf nehmen – ökonomische Stabilität, sozialer Wohlstand usw. In der Realität aber stehen die Dinge anders.
Janukowitsch verdankt seinen Sieg Fortuna und die ist eine leichtfertige Dame. Im ersten Quartal 2010 lief es gut für Viktor Fjodorowitsch (Janukowitsch): die Weltmarktpreise für Stahl sind gestiegen und infolge dessen auch das Bruttoinlandsprodukt, so dass der Spießbürger Janukowitsch Kompetenz zusprach.
Aber schon jetzt zeigt Mutter Fortuna ihre Launen: die beispiellose Hitze drückte den Ernteertrag und im Herbst werden sich die Lebensmittel verteuern, so dass der Spießbürger bei Janukowitsch schon leichte Inkompetenz registrieren wird. Und wenn das nachlassende Glück endgültig böse wird und eine neue Welle der globalen Krise herbeiführt, welche von einigen Analytikern bereits prognostiziert wird, so wird man es auf der Bankowaja schwer haben…
Leider ist das Steuerrad des ukrainischen Staatsschiffs nur dekoratives Element und hat praktisch keinen Einfluss auf seine Bewegung. Julia Wladimirowna (Timoschenko) und Viktor Fjodorowitsch können, ihre eigenen Ambitionen pflegend, eifrig am Ruder drehen und die furchtlosen Kapitäne geben, aber unterdessen wird unser Schiff von den Wellen der globalen Konjunktur getragen, von Kräften also, die in keiner Weise von der ukrainischen Führung abhängen.
Bis jetzt hat keiner von unseren Leadern auch nur versucht, diese Tendenz zu durchbrechen und die nationale Ökonomie widerstandsfähiger gegen die Herausforderungen der globalisierten Welt zu machen. Die ukrainische Elite zieht es vor, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen. Dieser Charakterzug eint die orangenen und blau-weißen Führer, deren strategische Fähigkeiten ungefähr auf einem Level liegen.
Am Ende entscheiden sich Erfolg bzw. Misserfolg eines jeden inländischen Regimes an den Schwingungen der Weltmarktpreise für Metall. Hier agiert der berüchtigte Glücksfaktor, den Historiker nur so ungern anerkennen.
Aber leider veranlassen die konjunkturellen Entwicklungen den gewöhnlichen Bürger nicht nur dazu, über die professionellen Qualitäten Janukowitschs oder Timoschenkos zu richten, sondern auch dazu, kategorische Schlüsse über den Erfolg des einen oder anderen politischen Modells zu ziehen. So hat die Weltwirtschaftkrise, die per Zufall in die Zeit der orangenen Führung fiel, die liberale Demokratie ernsthaft diskreditiert.
Präsident Janukowitsch wählte einen anderen Weg. Er errichtete eine eiserne Vertikale der Macht, disziplinierte die Staatsbediensteten und trieb Opposition und Massenmedien in die Enge. Aber die autoritäre Kraft hilft der Bankowaja irgendwie nicht bei den Budgetproblemen, bei der Erreichung eines Überlebens der Ukraine auch ohne Kredite des Weltwährungsfonds oder beim Übergang zu systematischen Wirtschaftsreformen.
Heute hängt unsere sozial-ökonomische Stabilität nicht von den Führungsqualitäten unseres neuen Präsidenten ab, sondern hauptsächlich von der äußeren Konjunktur. Wenn Viktor Fjodorowitsch Glück hat, wird man das autoritäre Regime in Bronze gießen und die Historiker der Zukunft werden davon erzählen, wie die starke Donezker Hand mit der orangenen Anarchie Schluss gemacht und ein Aufblühen des Landes erreicht hat.
Sollte Janukowitsch allerdings kein Glück haben und die globalen Wirbelstürme erneut über die Ukraine hinweg ziehen, so wird die Idee der autoritären Macht diskreditiert sein.
Den Leuten gefällt es, geheiligte Ideale aus einfachen Materialien zu fertigen und diese dann später vom Sockel zu stoßen. Ein ähnliches Schicksal hat schon die Demokratie getroffen und es droht perspektivisch auch der starken Hand.
Vor fünf Jahren griffen wir eifrig nach der Demokratie, um so zu leben „wie in Europa“. An die Existenz vollkommen demokratischer, aber auch vollkommen armer Staaten wollten die Ukrainer lieber nicht denken.
Zweifelsohne existiert eine gewisse Korrelation zwischen Reichtum und Demokratie: die meisten blühenden Länder sind demokratisch.
Aber der grundsätzliche Zusammenhang ist hier ein anderer, als er vielen professionellen Demokraten scheint.
Je höher die Entwicklungsstufe einer Gesellschaft und der Anteil gebildeter Leute, desto höher ist die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit des Staates und desto mehr Bürger gibt es, für die die Demokratie unabdingbare Voraussetzung zur Selbstverwirklichung ist.
Nicht zufällig gingen in vielen Ländern demokratische Reformen dem ökonomischen Aufstieg nicht voraus, sondern folgten erst darauf. Das Beispiel Südkoreas ist vollkommen charakteristisch. Die Wirtschaft modernisierte sich unter diktatorischen Umständen und erst die Kinder dieser Modernisierung – intellektuelle Kader und die Mittelklasse – verlangten nach Bürgerfreiheiten und bekamen sie.
Daraus folgt freilich nicht, dass die armen Wilden auf zauberhafte Weise reich werden, wenn sie nur zur liberalen Demokratie übergehen. Mit dem gleichen Erfolg kann man behaupten: „Die Mehrzahl der genialen Gelehrten trägt Brillen. Folglich werde ich, wenn ich eine Brille trage, zum genialen Gelehrten.“
Und so bleibt die Formel „Demokratie = Quelle des Wohlstands“ ein typischer Sophismus. Und es ist kaum zutreffend, im postsowjetischen Raum von einem „Bankrott der Demokratie“ zu sprechen.
Nicht die Demokratie als politisches Modell ist Bankrott gegangen, sondern die offenkundig falsche These von der Demokratie als Motor für die Wirtschaft. Es ist eine andere Sache, dass eben dieser haltlose Mythos die Popularität demokratischer Losungen im postsowjetischen Raum – und so auch in der Ukraine – bedingt.
Als die Finanzkrise bei den Ukrainern Enttäuschung über die Demokratie hervorrief, wendeten sich unsere Mitbürger einem neuen Ideal zu – dieses Mal dem autoritären. Das Jahr 2009, welches den Präsidentschaftswahlen vorausging, verlief unter dem Zeichen der starken Hand.
Von ihr phantasierten sowohl die Anhänger Janukowitschs als auch seine heutigen Gegner, die von einer starken Macht mit nationaler Ausrichtung träumten. Dabei glaubten die einen wie die anderen, dass eine starke Hand ein außerordentlich effektives Mittel gegen die Krise wäre.
Es ist jedoch sicher genauso ein Irrtum, einem autoritären Führer die Gabe des ökonomischen Zauberers zuzuschreiben, wie der weiter oben beschriebene, demokratische Mythos. Universale, politische Rezepte für wirtschaftlichen Aufschwung existieren nicht.
Weder die eine noch die andere Art der Abhängigkeit zwischen Wirtschaftswachstum und der Fähigkeit der Regierung, an den Rädern zu drehen, ist möglich. Auf dem Planeten Erde existieren das fortschrittlich autoritäre China und das zurückgeblieben autoritäre Myanmar, das erfolgreiche Saudi-Arabien und der arme Sudan, das verhältnismäßig wohlhabende Weißrussland und das absolut hoffnungslose Simbabwe seelenruhig nebeneinander…
Demokratische und autoritäre Mythen haben ein und dieselbe Natur: die Menschen sind geneigt, zu glauben, dass jedes sozial-ökonomische Problem ein Erzeugnis der Politik wäre. Es ist bequem für uns, alle vaterländischen Probleme mit der „autoritären Führung Kutschmas“, dem „Regiment der orangenen Nationalisten“ oder der „Vorherrschaft der Marionetten des Kremls“ zu erklären.
Aus der einen Illusion entsteht die nächste: wenn alle unsere Schwierigkeiten ausschließlich politische Gründe haben, bedeutet dies, dass man sie auch erfolgreich mit politischen Mitteln lösen kann.
Hierher kommt der Glaube an die wundersamen Fähigkeiten von Demokratie und starker Hand, die zauberhafte Kraft von Losungen, Bannern, Lustrationen und den scharfen Kurven der Bankowaja.
In den vergangenen fünf Jahren konnten sich die Ukrainer schon nicht mehr von der Unzulänglichkeit dieser Theorie überzeugen. Und die starke Macht in Person Präsident Janukowitschs riskiert, zum nächsten, lehrreichen Beispiel zu werden, aus dem niemand auch nur irgendetwas lernt.
09. August 2010 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda