Der fremde Stalin
Vor 65 Jahren erfuhr ein Sechstel der Landbewohner von der agonalen Cheyne-Stokes-Atmung (= nach zwei Medizinern benannte krankhafte Atemform bei ungenügender Hirndurchblutung. Diese Diagnose wurde in der Sowjetunion durch ein ärztliches Bulletin zum Tod Stalins bekannt). Der Diktator, der über Millionen Schicksale geherrscht hatte, erschien plötzlich als hoffnungsloser Patient und als einfach sterblich.
Josef Stalin starb im März 1953, aber 65 Jahre später teilt seine Person den postsowjetischen Raum noch immer in zwei gegensätzliche Gebiete. In Russland trauert man um den Kaukasier im Kreml und verbietet die pietätslose Kinokomödie „The Death of Stalin“. Dagegen hält in der Ukraine die Entkommunisierung an, und man verflucht Stalin quasi jeden Tag. Aber das Paradox liegt darin, dass Russland noch immer der verbrecherischen stalinistischen Vergangenheit Lehrstunden abgewinnen kann – aber die Ukraine schon nicht mehr.
Wir haben bewusst die historische imperiale Matrix gegen die nationalistische eingetauscht. Die UdSSR wird von uns nicht mehr als unser Land empfunden. Es wundert sich schon niemand mehr, wenn sich die Enkel und Urenkel sowjetischer Angestellter und Soldaten mit der „Ukrainischen Volksrepublik“ und der „Ukrainischen Aufständischen Armee“ (1. Nationalstaat 1917-21, ukrain. Partisanenarmee im 2.Weltkrieg, beide antisowjetisch ausgerichtet, A.d.Ü.) identifizieren. Und dementsprechend fühlen die Ukrainer keine moralische Verantwortung mehr für die Sünden des Stalinschen Imperiums. Die Kollektivierung, die Massenrepressionen, der GULAG, die Kriegsmetzelei, die Deportation ganzer Völker, die Unterjochung ganzer Staaten – all das hat ein fremder Tyrann getan, ein fremder Staat, ein fremdes Besatzungsregime. Sogar wenn unsere direkten Vorfahren Schräubchen in der totalitären Maschine Stalins waren – sieht man diese Maschine doch als etwas genuin fremdes an.
Aber fremde Untaten anzuprangern ist sehr leicht. Dazu braucht man weder Willenskraft, noch Mut, noch kritisches Denken. Dazu muss man nicht über den eigenen Schatten springen und einer unbehaglichen Wahrheit ins Gesicht schauen. Um fremde Sünden zu verurteilen, verlassen wir unsere eigene Komfortzone nicht. Im Gegenteil, man beschwört gerne fremde Verbrechen, sobald irgendjemand die eigenen nationalen Helden mit zweifelhafter Reputation kritisiert. „Aber wieviele Menschen Stalin umgebracht hat!“ – dieses Argument ist für einen patriotischen Ukrainer genau so bequem geworden wie das leierartige: „Aber bei euch lyncht man Nigger!“
Freilich hat die historische Erfahrung bewiesen, dass die Entlarvung eines Tyrannen nur dann etwas lehren kann, wenn man diesen als seinen eigenen ansieht. Genau so hat es sich bei der Abrechnung mit dem Vater der Völker verhalten. Im Jahr 1956 schlug der Vortrag „Über den Personenkult und seine Folgen“ ein wie eine Bombe. (= Geheimvortrag Chruschtschows auf Parteitag 1956, Beginn der Entstalinisierung, A.d.Ü.). Westliche Idealisten, die früher mit der UdSSR sympathisiert hatten, wankten in Abscheu zurück. Tatsächlich aber verkündete der Genosse Chruschtschow nichts, was im Westen nicht schon gesagt worden wäre. Die bürgerliche Presse schrieb viel und oft über die Stalinschen Repressionen. Aber all das wurde von progressiven Intellektuellen als übelwollende Nachrede abgetan: Der Mensch glaubt nicht, was er nicht glauben will. Solange es nur Übelwollende waren, die einen fremden Stalin anprangerten, stieß das die westliche Intelligenz nicht vom Kommunismus ab.
Dagegen zerstörte die Kritik am eigenen Stalin, als sie aus Moskau zu hören war, das ganze System der Lüge und des Selbstbetrugs. Ja, unser Führer war ein grausamer Starrkopf, unser Staat hat das Blut Unschuldiger vergossen – solche Geständnisse machten es unmöglich, sich selbst davon zu überzeugen, dass der UdSSR nur übel nachgeredet wurde. Der schöne Schein der sowjetischen Utopie löste sich auf.
Nicht weniger geistige Erregung begleitete die Abrechnung mit Stalin in der Zeit der Gorbatschowschen Perestrojka. Die damalige sowjetische Gesellschaft war erschüttert, schließlich identifizierte sie sich mit der UdSSR Stalins und hielt den angeprangerten Diktator nicht für fremd. Man sprach von seiner eigenen Geschichte, von seinem eigenen Land, von seiner eigenen Schuld. Es stellt sich heraus, dass unsere Welt auf verbrecherischen Methoden aufgebaut war, dass unsere Großväter einem blutigen Folterknecht gedient hatten, dass unsere Betriebe und Fabriken auf fremden Knochen errichtet worden waren und dass sich unser Staat heimlich die Einflusssphäre mit Hitler aufgeteilt hatte. Er hatte Kriegsgefangene in Katyn ermordet (= im Frühling erschoss die sowjetische Geheimpolizei NKWD in dem Örtchen 4.400 polnische Kriegsgefangene. Bis zur Perestrojka leugnete die sowjetische Führung die Tat und beschuldigte stattdessen Hitler-Deutschland, A.d.Ü.), ganze Völker umgesiedelt – für den naiven Sowjetbürger war all das ein Schock. Am Ende der 1980er Jahre waren Millionen Menschen gezwungen, eine abscheuliche Wahrheit anzuerkennen und grundlegend ihre Beziehung zur eigenen Vergangenheit zu überdenken.
Diese strenge Lehrstunde trug in einem großem Maße zur Zerstörung des sowjetischen Systems bei. Aber in der Folge stellte sich heraus, dass die Last der verbrecherischen Vergangenheit zu schwer wog und dass keiner sie tragen wollte. Und wenn die Ukraine einfach das Stalinsche Regime zu einem fremden erklärte, dann versucht Russland, das der offizielle Rechtsnachfolger wurde, dieses Regime zu rehabilitieren.
Richtig, den Fleischwolf kann man nicht zurückdrehen, und es wird nicht mehr gelingen, die Fakten, die man in den 1980er und 1990er Jahren öffentlich gemacht hat, wieder zu bestreiten. Deswegen konzentrierten sich die benachbarten Revisionisten auf die Interpretation der Fakten. Das heutige Russland wäscht Stalin weiß und weigert sich damit, die Dinge beim Namen zu nennen. Nicht das Böse, sondern „die Gesetze der Geschichte“. Nicht Verbrechen, sondern „staatliche Notwendigkeit“. Nicht Millionen unschuldiger Opfer, sondern die „unausweichlichen Kosten der industriellen Entwicklung“. Nicht Absprache mit den Nazis und die Aufteilung Osteuropas, sondern „die Verteidigung geopolitischer Interessen“.
Eine ähnliche Rhetorik erklingt im Zusammenhang mit den heutigen hybriden Realitäten, wenn das Abpressen eines fremden Territoriums zum Heldenmut erklärt wird und Soldaten ohne erkennbare Hoheitsabzeichen – zu einer Kriegslist, und die bewaffnete Aggression – zur Verteidigung gegen die USA und Nato.
Ist in Russland eine erneute Entstalinisierung möglich? Theoretisch ja. Aber dazu wäre es nötig, die Verbrechen seines eigenen Landes als Verbrechen bezeichnen. Ohne gewundene Formulierungen, ohne Worttricksereien, ohne zynische Interpretationen.
Das unbestreitbar Böse der 1930er Jahre unbestreitbar böse zu nennen – das bedeutet, sich von dem moralischen Relativismus abzuwenden, an den sich die gesamte russische Propaganda hält. Das könnte den Zusammenbruch des gesamten offiziellen Erscheinungsbilds unserer Nachbarn bedeuten. Und heutzutage ist dazu nur ein kleiner Teil der russischen Bürger bereit. Im heutigen Russland ist die Verurteilung Stalins zu einem Marker für Gewissen, Angemessenheit und Bürgermut geworden. Darin unterscheidet sich die russische von der ukrainischen Gesellschaft.
Für die Ukrainer von heute ist die Verdammung Stalins ein Marker für ihre Zugehörigkeit zu einer politischen Nation, und mehr nicht.
Die Stalin-Herrschaft brandmarken alle diejenigen, die sich geistig mit der unabhängigen Ukraine verbinden: die einheimischen Klugen wie die einheimischen Dummen, die Idealisten wie die Konformisten, die Liberalen und die Diktatur-Anhänger, die fortschrittlichen Kämpfer für Menschenrechte wie die Xenophoben mit steinzeitlichen Ansichten. Die Bereitschaft einen fremden Tyrannen zu verfluchen sagt nichts über irgendwelche persönlichen Qualitäten aus.
Wir beklagen, dass die Stimmen, die die Stalinsche Diktatur verdammen, in Russland immer seltener und schwächer zu hören sind: Aber man darf nicht vergessen, dass eine einzige solche russische Stimme mehr bedeutet als hundert ukrainische. Denn für uns ist Stalin schon ein fremder – aber für sie nach wie vor der eigene.
3. März 2018 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda