Das Gefühl der Tragik



In der Zone schrieb ich Gedichte. Völlig unerwartet für mich selbst, da ich mich nie für einen Poeten hielt. Das geschah teilweise unter dem Einfluss meines Freundes und Lehrers Iwan Aleksejewitsch Switlytschnyj. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute in der Erwartung einer Durchsuchung lebend, die Arbeit der Autoren und Schreiber des Lagers koordinierend, vorbereitet darauf, Erzeugnisse mit Informationen aus der Zone herauszutragen, sogenannte Briefchen, mit Gedichten, die ich unter unmenschlicher Anstrengung los wurde. Ohne Gedanken an die Zukunft (die gab es bei uns, die wir weit entfernt waren von der Verbesserung unserer Haft, nicht) und erst recht ohne Gedanken an die Veröffentlichung der eigenen seltsamen freien Verse… Der Kreis meiner Leser war klein und beständig: er wurde gebildet von Iwan Switlytschnyj und Ihor Kalynez. Diese zwei Leser reichten mir völlig aus.

Jahre danach, schon in der neuen, demokratischen Ukraine erfuhr ich, dass einige meiner Texte ins Französische übersetzt worden und in einer Anthologie der Lyrik der Welt erschienen sind. Welche? Wann? … Darüber wusste ich nichts. Und ich habe nicht versucht, es zu erfahren. Das ist meine Vergangenheit. Und noch damals in der Zone habe ich diesen einfachen Sinnspruch des großartigen Albert Camus gelesen und mir eingeprägt: „Kehren Sie nie an die Orte zurück, an denen Sie jung waren.“ Genau deshalb wollte ich auch später nie das Museum besuchen, das dort – in der Zone 389/36 im Ural – eröffnet wurde. Denn dort, in dieser Zone, war ich jung.

Jetzt schreibe ich Prosa. Kolumnen auf populären Homepages. Immer und immer bitterere, pessimistische Texte. Ich denke, das liegt nicht nur am Alter, das sich schon dem Ehrwürdigen nähert. Durch diese Texte atme ich meine zunehmende Spannung aus, die der Machtlosigkeit und der Enttäuschung. Über 25 Jahre schon versuche ich, das Gesundheitswesen meines Landes zu modernisieren, menschlicher zu machen. Leider erfolglos. „Sie“, die die Macht innehaben, haben daran keinen Bedarf.

Üblicherweise verstärkt sich das Gefühl der Tragik durch andauerndes Unbehagen. Der Alltag bestimmt unser Bewusstsein. Schlecht versorgte Kinder, abgetragene Kleidung, aus Geldmangel verschlossene Räume deiner Stadt – das sind nur einige dieser Alltagserscheinungen. Aber es gibt noch andere, furchtbar durch ihre Sinnlosigkeit: kluge Ärzte auf dem neuesten Kenntnisstand, die tagtäglich ausbrennen in archaischen sowjetischen psychiatrischen Kliniken, die gezwungen sind, Patienten mit archaischen Medikamenten zu behandeln. Und, völlig überfüllt mit aufbewahrten Menschen – bis jetzt ein sowjetisches psychiatrisches Heim. Ohne jeden Zweifel sind die heutigen Pflegeheime die Gefangenen des unrefomierten psychiatrischen Systems des ukrainischen Gesundheitsministeriums.

Eben deshalb, weil ich so tief eingetaucht bin in die Welt der schweren Krankheiten des Sozialsystems, schreibe ich immer öfter bitter und voller Kummer. Ich bin kein Zaungast, sondern ein Beteiligter an diesen Ereignissen. Wie früher verbeiße ich mich regelmäßig – von der Zeit und von vergeblicher Anstrengung abgeschliffen – in die Gleichgültigkeit und den Zynismus der höheren Beamten des Staates.

Ich erinnere mich noch deutlich an die Zeit nach Tschernobyl. Die völlige Impotenz des medizinischen Systems, die Ausschweifungen des Dissertations-Laissez-Faire, das Festgelage vielzähliger Imitatoren, die staatliche Fördermittel verschlangen. Und einige Jahre später den Triumph der – vom Gemeinsinn und den Prinzipien der schlüssigen Medizin unabhängigen – sogenannten „ukrainischen wissenschaftlichen Schule“… Ich erinnere mich an vieles. Und ich sehe heute vieles, seltsames und bitteres. Wie viele inn- und ausländische Experten verstehe ich: Unser Gesundheitssystem hat eine finstere Zukunft. Und es ist ganz unwichtig, ob sich uns ewighungrige Gauner oder professionelle Patrioten zuwenden.

Leider, wie es schon offensichtlich geworden ist, der Hauptgrund für die Stagnation in unserem Sozialsystem nicht die Korruption. Die Unprofessionalität ist schlimmer. Und darüber ist es notwendig laut zu sprechen. Andauernd und laut. Eine neue Ministerin. Dieses Mal – eine Amerikanerin. Eine aufrichtige, patriotische und … destruktive. Eigentlich, ist nicht sie selbst destruktiv, sondern einige Leute aus ihrem Stab. Beispielsweise die professionelle Geburtshelferin und Gynäkologin, die sich auf Demagogen und Scharlatane stützt. Die sich aktiv vorbereitet auf unheilvolle Personalveränderungen. Unsinnige und zerstörerische. Ich verstehe, dass sie die Regierung ist. Die Stellvertreterin der Ministerin. Und ich nur eine Privatperson.

Doch ich kann protestieren. Unbequem, entschlossen und zielgerichtet. Es ist traurig, dass ich in der unabhängigen Ukraine auf meine Erfahrungen zurückgreife, die ich während meiner Lagerzeit, der Zeit des Widerstands, gesammelt habe. Heute, im Jahre 2016, stehe ich nicht allein. Es ist eine neue Generation herangewachsen und nimmt Form an. Eine Generation von klugen und gebildeten Ärzten und Psychiatern, die keine Lust haben, ihr Land zu verlassen. Und die Verwandten von Patienten in psychiatrischer Behandlung, die ihr Recht schützen können und wollen. Ich stehe schon nicht mehr allein, wie es im Jahre 1971 der Fall war.

Es ist abstoßend und widerlich zu beobachten, welche ‚Spezialisten’ die neue medizinische Regierung für sich vereinnahmen. Das ist bitter, sehr bitter. Ich bin nie ausgereist, habe weder um Geld noch Amt beim Staat gebeten. Ich bin vor langer Zeit hier geboren. Und ich habe immer hier gelebt (mit Ausnahme von zehn Jahren, die ich in russischen Lagern und der Verbannung verbrachte). Meine ukrainische Staatsbürgerschaft habe ich durch meine Geburt erhalten und nicht aus den mildtätigen Händen des Herrn Poroschenko. Ich habe den Mut, der ganzen Truppe aus dem Gesundheitsministerium zu versichern: Ich werde nicht ausreisen, ich bin gesund und ich kann mich dem Bösen widersetzen. Jedem beliebigen Bösen. Ich habe die Kampffertigkeiten, die ich mir im Widerstand gegen die Regierung in der totalitären UdSSR anerzogen habe, nicht verloren über die Jahre. Es ist schade, dass diese in meinem heutigen Land wieder notwendig sind.

19. Dezember 2016 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Franziska Jokisch  — Wörter: 893

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