Die wissenschaftliche Wahrheit bahnt sich ihren Weg zum Triumph nicht mittels Überzeugung der Gegenseite und deren Notwendigkeit die Welt in neuem Licht zu sehen, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner früher oder später sterben und eine neue Generation heranwächst, die an diese Weisheit gewöhnt ist. Die Modernisierung des Sozialsystems, seine Reformation im 21. Jahrhundert, besteht in der unbedingten Einhaltung von Prozeduren, Garantien und Berechnungen, die sich auf das Prinzip der Beweiskraft stützen. Bereits im vorherigen, dem 20. Jahrhundert, lernte die medizinische Praxis das Prinzip der Beweiskraft zu nutzen.
Da eine unkluge oder unvorsichtige Modernisierung des Sozialsystems gefährlich für die Bevölkerung des Landes ist, das nach Veränderungen dürstet, ist eines der grundlegenden Prinzipien der Korrektur des bestehenden Systems das Verbot der totalen und einmaligen Systemreform. Zu groß ist die Gefahr von Fehlern…
Eben deshalb werden von zivilisierten Reformatoren Modernisierungen des Sozialsystems nicht im gesamten Land auf einmal, sondern nur in einigen, sogenannten Pilotregionen vorbereitet und durchgeführt. Bei uns, in unserer Realität, sind das die Oblaste (Gebiete). Es ist verwunderlich, dass ich das weiß, als Absolvent des sowjetischen medizinischen Instituts und auch des sowjetischen Gefängnisses, es aber die amerikanische Staatsbürgerin und Absolventin der Universität in Michigan nicht weiß (gemeint ist Uljana Suprun, die seit August 2016 geschäftsführende Gesundheitsministerin ist, A.d.R.).
Es gibt noch weitere verbindliche Bedingungen für die Vorbereitung und Durchführung von Sozialreformen im Land. Das Objekt der Reformation, in unserem Fall das Gesundheitsministerium, kann nicht der Durchführende der Reform sein. In einem zivilisierten Staat wird eine Reform von einer von der zu reformierenden Institution unabhängigen Gruppe von Spezialisten vorbereitet und bewertet, die sowohl juristisch als auch finanziell unabhängig vom Reformobjekt ist. Hier in der Ukraine ist die Situation heute eine andere.
Die Gruppe von Experten, aus denen die Mannschaft der Reformatoren besteht, sollte nach vorher festgelegten, durchdachten und öffentlich abgestimmten Kriterien gebildet werden, und nicht nach der Nähe zur Führung des Reformobjekts, das heißt des Ministeriums. Die Gruppe von Experten sollte in unserem, medizinischen Fall aus Spezialisten auf dem Gebiet der allgemeinen Gesundheitsvorsorge, der Sozialpolitik, Soziologen, mit Erfahrungen in der Forschung auf diesem speziellen Gebiet, Ökonomen, Sozialpsychologen, Juristen, die das medizinische System kennen (keine Rechtsanwälte, Staatsanwälte, keine Spezialisten im kosmischen Recht…) bestehen. Natürlich auch Ärzte, aber nur als Berater, und nicht als beschlussfassende Mitglieder der Expertenkommission. Ich will mit Schmerzen anmerken, dass es diese Experten in der Ukraine gibt, sie wurden aber nicht gefragt.
Ist denn etwa die direkte oder indirekte Einmischung hoher Staatsbeamter in die Arbeit dieser Gruppe, in ihre Formierung denkbar? In einem zivilisierten Land ist das kategorisch undenkbar. Aber bei uns wissen und können sowohl der Präsident als auch seine Administration als auch der Ministerpräsident alles. Übrigens hat der erste Volkskommissar für Gesundheitsüberwachung Semaschko (Nikolaj Semaschko, 1874-1949) nach Erinnerung seiner Zeitgenossen sein System, das sich damals als sehr effektiv erwies, nicht auf Druck des Diktators Stalin entwickelt. Letzterer gab dem Volkskommissar weder Empfehlungen noch Befehle.
Es existieren noch weitere, allgemein anerkannte Standards in der Vorbereitung und Durchführung von Sozialreformen, insbesondere nicht nur die Erforschung der Kompetenzen des obersten medizinischen Ministeriums, sondern auch die medizinischen Dienste anderer Ministerien und Institutionen, die eigene medizinische Untersysteme haben.
Da sind auch noch die Notwendigkeit der Korrektur von Programmen und der Praxis der Vorbereitung von Spezialisten. Und die unbedingt notwendige Information der Bevölkerung des Landes über Ziele und Schritte der Reform, und, was außerordentlich wichtig ist, über die von den Reformatoren in den Pilotregionen gemachten Fehler! Ohne dies wird es kein Vertrauen in die Reform geben.
Der Sieg des ersten Majdans hat in uns allen die bewusste Hoffnung auf die Modernisierung des Landes geweckt. Doch leider wurde dies durch die Schuld unserer Führung nicht umgesetzt. In dieser hellen Zeit kehrten zig junge Spezialisten mit einer erstzunehmenden Ausbildung an ausländischen Universitäten in die Ukraine zurück, mit dem Wunsch, ihrem Land zu helfen. Zwei junge Ukrainerinnen wurden zur Arbeit im Sekretariat Juschtschenkos eingestellt. Sie haben ihre Aufgabe hervorragend ausgeführt, führten eine funktionale Erforschung der Strukturen und Arbeit des Ministeriums für Gesundheitsüberwachung durch. Die Ergebnisse erwiesen sich als uninteressant sowohl für das Präsidialamt als auch für das Ministerkabinett…
Eine Schicksalsfügung führte sie damals zu mir in die Soros-Stiftung, wo ich Vorstandsmitglied war. Kaum hatte ich mich mit diesen Unterlagen auseinandergesetzt, verstand ich, dass man sie sofort veröffentlichen müsse! Die Führung der Stiftung wollte auf meinen Vorschlag nicht eingehen, so riskierte ich mögliche Unannehmlichkeiten und veröffentlichte dieses glänzende Dokument mit Mitteln aus einem regulären europäischen Fonds, die ich für die Ausgabe hochwertiger psychiatrischer Literatur bekommen hatte. Leider zeigte sich dieses für die Reformation des Systems wichtige Dokument auch in gedruckter Form nicht als erforderlich. Kurze Zeit später kehrten beide junge Frauen, als sie merkten, dass sie im eigenen Land nicht gebraucht wurden, nach Europa zurück. Heute fliehen sie, unsere europäische Diaspora, nicht vor Stalin, sondern vor uns, unbedeutenden, armseligen Kleptokraten.
Der Prozess des Herauspressens des Intellekts und des kulturellen Patriotismus aus dem Land geht weiter. Das Rinnsal der Emigration verstärkt sich und könnte sich in Kürze in einen vollen Fluss verwandeln. Wie immer gehen die Besten. Verbrecher und Drogenabhängige bleiben hier. Einige von ihnen im nahen Umfeld der geschäftsführenden Gesundheitsministerin und bedienen die PR-Firma der Fonds. Leider Gottes in ihrer Mehrzahl nordamerikanischer.
Wie mir vor kurzem ein junger Ökonom sagte, der Einsatzmöglichkeiten für sein Wissen in der „Mannschaft der jungen Reformatoren“ von Frau Suprun suchte, wird er, zur Arbeit in die USA reisend, keine Nostalgie nach der Fülle der Roshen-Geschäfte, noch nach den von Paranoia überfüllten Kasematten des Gesundheitsministeriums verspüren. Er, der eine glänzende Ausbildung an einer der führenden Universitäten Europas genossen hat, hat uns schon verlassen, anscheinend für immer. Jetzt ist auch er Teil unserer Diaspora.
Und wir müssen uns wie immer trösten: Bald sind Wahlen! Wir werden die gleichen, zynischen, habgierigen, uns verachtenden Politiker wählen. Familiennamen sind hier nicht wichtig, es werden die Gleichen wie vorher sein… Wir werden warten, bis eine neue Generation Ukrainer heranwächst, freie, kluge und sozial aktive. Wie wir damals auf die Ankunft des von Chruschtschow versprochenen Kommunismus warteten.
Und wenn es plötzlich passiert? Dann reihen sich in unsere Diaspora die aus der ehrlichen Ukraine geflohenen Herren Juschtschenko, Poroschenko, Jazenjuk, Groisman ein,… Ewiges Harren, das ist unser Schicksal.
2. September 2018 // Semjon Glusman
Quelle: Lewyj Bereg
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