Die Generation Morgenshtern
Bereits in wenigen Wochen feiert die Ukraine ihre 30-jährige Unabhängigkeit und aus diesem Anlass werden nicht wenige Worte zu den unerfüllten ukrainischen Hoffnungen gesagt werden. Jedoch sind die Enttäuschungen zum Jubiläum nicht nur mit Politik und Ökonomie verbunden, sondern auch mit der Demografie.
Vor 20 oder 10 Jahren schien die natürliche demografische Dynamik wie ein einheimischer Passierschein in die lichte Zukunft. Als Hauptgeißel der Ukraine wurden die älteren Bürger angesehen, die sich nach ihrer Jugend im Imperium zurücksehnten und für Simonenko [Chef der Kommunistischen Partei, A.d.Ü.] und Janukowitsch [2014 gestürzter vierter Präsident der Ukraine, A.d.Ü.] stimmten.
„Rette das Land, versteck Omas Pass!“, ohne diesen altersdiskriminierenden Scherz verging nicht eine ukrainische Wahl. Die Patrioten träumten von Zeiten, in denen die geschädigte Generation ausstirbt und diese wird von Junggewächsen abgelöst, die das kommunistische Imperium nicht mehr erlebt haben.
Heute muss konstatiert werden, dass dieser verlockende Plan nicht funktioniert hat.
Während des letzten Präsidentenwahlkampfs musste die patriotische Öffentlichkeit mit Erschrecken feststellen, dass der Pass bereits nicht mehr nur den Omas, sondern auch den Enkeln weggenommen werden muss, die massenhaft für den Showman Selenski stimmten.
Und die einheimische Blogosphäre wird regelmäßig von Skandalen unter Beteiligung der mit mangelndem Bewusstsein versehenen Jugend erschüttert, die nach 1991 geboren wurde.
Die Kadettinnen der Charkower Nationalen Universität für innere Angelegenheiten [Polizeiuniversität, A.d.Ü.], die zu einem russischen Verbrecher-Chanson tanzten.
Andere Kadettinnen, die bei TikTok ein Video mit einem jungen russischen Polizisten veröffentlichten.
Die 20-jährige Bloggerin Onazkaja, die bei unzureichendem Patriotismus ertappt wurde und den Zorn des Verteidigungsministeriums hervorrief.
Die Kiewer Schülerin Leonenko, die auf die Seite von Mirotworez [deutsch Friedensstifter, halboffizielle Liste von vermeintlichen „Volksfeinden“, A.d.Ü.] wegen ihrer ungehörigen Äußerungen zur Ukrainisierung eingetragen wurde.
Die Fußballer der Nationalelf der Ukraine, die sich mit dem Russen Basta [russischer Rapper, A.d.Ü.] im Urlaub in der Türkei fotografieren ließen.
Die Massen an namenlosen Teenagern, welche die ukrainische Musik links liegen lassen und russischen Rap vorziehen …
Letztendlich die schockierende Umfrage der Rating-Gruppe, die vor kurzem veröffentlicht wurde und davon zeugt, dass der größte Anteil der mit der These von „einem Volk“ einverstandenen in der Altersgruppe bis 30 Jahre ist. [Bezugnahme auf die Dauerthese von Russlands Präsident Wladimir Putin, dass Ukraine und Russen (aber auch Belarussen) ein Volk seien. A.d.Ü.]
Die neue Generation wird zum neuen Kopfschmerz, welche die aussterbenden Rentner des alten Regimes in den Hintergrund drängt.
Der Ironie des Schicksals nach erinnert das etwas an die UdSSR der Nachkriegszeit, in der an die Stelle der traditionellen Antihelden aus der Vergangenheit – die nicht erwischten Weißgardisten, Kulaken und Popen – negative Personen gelangten, die sich komplett in der sowjetischen Zeit herausgebildet hatten.
Die offizielle Propaganda musste sich darauf einstellen und das neue Narrativ aneignen: „Warum konnte innerhalb der sowjetischen Jugend ein solch verfaulter Schimmel entstehen?“
Der ausgesprochen unpolitische Charakter der derzeitigen schwarzen Schafe verstärkt die Ähnlichkeit noch. Ihre Vorbilder sind nicht Putin oder Stalin, sondern eher der populäre benachbarte Rapper Morgenshtern, der seit kurzer Zeit nicht mehr in die Ukraine gelassen wird.
Unfreiwillig erinnert das an die sowjetischen Dandys und Informellen, deren Abweichung von der offiziellen Ideologie vor allem Mode und Musikgeschmack betraf.
Übrigens ist das Phänomen der apolitischen Opposition gut auch außerhalb der Grenzen der UdSSR bekannt. Im Deutschland der 1930er Jahre existierte die sogenannte Swing-Jugend: leichtlebige junge Leute, die dem Erheben der deutschen Nation von den Knien gegenüber gleichgültig waren und der anglo-amerikanischen Kultur zuneigten.
In Frankreich der 1940er Jahre ging die ideologiefreie Jugend in die Reihen der Zazous, die den getadelteten ausländischen Jazz schätzten, und nicht die offizielle propagandistische Triade „Travail, Famille, Patrie / Arbeit, Familie, Vaterland“. Derartige Heimsuchungen konnten auch demokratische Länder nicht vermeiden.
In den 1960er Jahren scheiterte die amerikanische Strategie zur Eindämmung des Kommunismus aufgrund des provokativen politischen Desinteresses der jungen Generation: wegen der lächelnden Hippies, des Rock, Woodstocks und des bekannten Slogans „Make love, not war“.
Das ukrainische patriotische Projekt ist hinreichend ideologisiert, um mit einem ähnlichen Problem konfrontiert zu werden. Und das war komplett vorhersagbar.
Der Gedanke, dass mit dem Maße der Verjüngung des Landes automatisch die Prinzipienfestigkeit der Ukrainer steigt, ist an sich bereits falsch. Dagegen ist für die vierzigjährigen Aktivisten, die in den Kämpfen mit Janukowitsch und Tabatschnik [ehemaliger Bildungsminister, A.d.Ü.], der Patriotismus voll lebendigem, emotionalem Inhalt.
Die Ukrainisierung, Entkommunisierung, die nationale Emanzipation wird als Aufstand gegen die alte Ordnung verstanden, als etwas modisches und revolutionäres. Doch für die junge Generation ist das einfach eine Selbstverständlichkeit, vor deren Hintergrund man erwachsen werden muss.
Die Selbstverständlichkeit, die üppig mit Bürokratie versehen ist, ruft keine besonderen Emotionen hervor und stört nicht dabei einen angenommenen Morgenshtern zu lieben. Dabei riskiert eine tatsächliche Motivierung der Allgemeinheit – sich schnell mit der Umerziehung der Jugend zu beschäftigen – mehr Schaden anzurichten, als Nutzen zu bringen.
Die Jugend auf den Pfad der Wahrheit zu bringen sie vor anstößiger Muße zu bewahren, haben viele versucht. Doch das gelang auch den autoritären Regimen der Vergangenheit nicht, die vor der Informationsrevolution aktiv waren.
Einfache Radioempfänger und Tonbandgeräte erwiesen sich als ausreichend, um die staatliche humanitäre Verteidigung zu durchbrechen. Und es ist töricht darauf zu hoffen, dass die Ukraine, die behauptet demokratisch zu sein, diese Aufgabe in der Zeit des Internets und das beinahe unbegrenzten Zugangs zu Unterhaltungsinhalten lösen kann.
Unter unseren Bedingungen gleicht eine aggressive Erziehungspolitik dem legendären Befehl des Xerxes, der das Meer durchpeitschen ließ. Man kann den modischen russischen Interpreten nicht ins Land lassen, doch das hindert die Teenager nicht daran, ihn zu hören.
Man kann das Bildungssystem komplett ukrainisieren, doch die Schule hat bereits nicht mehr den alten Einfluss auf die jungen Gemüter und um in den sozialen Netzwerken zu sitzen, braucht man kein fehlerfreies Russisch.
Man kann den Zugang zum benachbarten Netzwerk VKontakte sperren, doch im Ergebnis wird das globale TikTok zur Brutstätte des Schmutzes. Man kann die härtesten Quoten für Radio und TV einführen, doch die junge Generation zieht das quotenfreie YouTube vor.
Letztendlich kann man die auffälligsten Vertreter der unbewussten Jugend verfolgen, doch das treibt die Übrigen nicht dazu die ungewünschte Weltsicht zu überdenken, sondern eher zu einem Rückzug nach innen.
Wahrscheinlich ist es, dass es rationaler wäre, die jugendliche Politikabgewandtheit nicht als Herausforderung für die ukrainische Ukraine anzusehen, sondern als Neutralität und nicht zuzulassen, dass die Neutralität in eine versteckte Feindschaft überwächst.
Doch dafür sollte man nicht zu eifrig das Modische und Angenehme dem Patriotischen gegenüberstellen. Das kompromisslose Prinzip „heute spielst du Jazz und morgen verkaufst du die Heimat“ schadet im Endeffekt nicht so sehr dem Jazz, als der Heimat.
Um so hartnäckiger der Teenager gezwungen wird zwischen der Unterhaltung und patriotischen Werten zu wählen, um so höher ist das Risiko, dass er die Unterhaltung auf Kosten der propagierten Werte wählt.
Um so aggressiver der Staat die Jugend zu einer aktiven politischen Position zwingt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Position – wenn sich auch nicht offen verlautbart wird – sich als antistaatlich erweist.
Die Frage besteht nicht darin, wie die Freizeit des jungen Ukrainers aussieht. Offensichtlich ist, dass die behäbige bürokratische Maschine über minimale Möglichkeiten verfügt, auf seinen Geschmack einzuwirken.
Die Frage besteht in etwas anderem: Wird der junge Ukrainer mit einer Faust in der Tasche aufwachsen. Einem Stinkefinger, der auf alles gerichtet ist, was für jeden ukrainischen Patrioten teuer und heilig ist?
1. August 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda