Der 19. Dezember eröffnet nicht nur den Reigen der Neujahrs- und Weihnachtsfestlichkeiten, sondern bezeichnet auch den symbolischen Kampf des Heiligen Nikolaus mit dem imperialen Väterchen Frost. Und in den nächsten Wochen wird sich der Zorn der sozialen Netzwerke wie immer über den Bürgern entladen, die nicht das Richtige feiern, essen und schauen.
Die Logik des Patrioten, der die postsowjetischen Alltagskulturtraditionen mit den Sendungen von Kisseljow und Solowjow gleichsetzt, ist verständlich. [Gemeint sind die russischen Chefpropagandisten Dmitri Kisseljow und Wladimir Solowjow. A.d.Ü.]
Sogar äußerlich unschuldige Dinge, ohne ideologischen Ballast, können die Ukraine mit dem Imperium verbinden und uns von Europa entfernen.
Der Kampf mit diesen, ist eine symbolische Palisade, die dazu berufen ist, das Bewusstsein von Millionen Landsleuten zu ändern. Das Problem besteht darin, dass die Baumeister der symbolischen Palisade nicht ahnen, wie löchrig diese ist.
Wenn man konsequent diese Idee ins Leben bringt, dann lassen sich die Spuren des zaristischen Russlands und der UdSSR sogar dort entdecken, wo es niemanden in den Kopf kommt, diese zu suchen.
Die unzähligen, doch nicht offensichtlichen Zeichen der imperialen Vergangenheit sind ein interessantes Thema und es sollten zumindest einige Beispiele angebracht werden.
Vor dem Neujahr ertönen die Auslassungen zur Schädlichkeit der sowjetischen Kinohits mit neuer Kraft. Und gleichzeitig über den Schaden des übrigen kulturellen Massivs, dem im Westen wenig bekannten, doch die Ukraine an die ehemalige Metropole bindenden – von den Liedern Wyssozkys bis zu den Märchen Puschkins.
Nun hier die direkte Rede des Parlamentsabgeordneten der Europäischen Solidarität [Wahlverein von Ex-Präsident Petro Poroschenko, A.d.Ü.] Knjaschizki [Mykola Knjaschyzkyj]: „Ich erinnere mich immer an Andersen, ich liebe dieses Beispiel sehr, wir können uns an den nackten König erinnern. Also, Selenski ist der nackte König.“
Und hier sind die Worte der Vertreterin von Europäische Solidarität [Wiktorija] Sjumar: „In der ukrainischen Geschichte bleibst du immer so – ein nackter König mit der Bulawa [Streitkolben] und dem debilen Spiel mit offensichtlich nicht dem Organ auf dem Klavier.“ [Vor seiner Präsidentschaft tat Selenski in einem Sketch so, als ob er mit seinem Penis auf einem Klavier spielt. A.d.Ü.]
Und hier ist die Meinung des bekannten Publizisten Portnikow: „Das Geld geht aus. Wenn du nicht anfängst, es zu drucken, werden bald selbst die ergebendsten Anhänger Wolodymyr Selenskyjs merken, dass der König nackt ist.“
Die erwähnten Bürger kann man schwerlich prorussischer Sympathien verdächtigen und dennoch unterstreichen alle Zitate die Verbindung der Ukraine mit dem Imperium. Warum?
Denn im Märchen, das vom Dänen Hans Christian Andersen erdacht wurde, gibt es keinen nackten König. Dort figuriert ein Kaiser und der große Teil der zivilisierten Welt kennt das Sujet unter dem Namen „Des Kaisers neue Kleider“.
Und die Verwandlung des „Kaisers“ in einen „König“ fand dank der Übersetzung statt, die einst im Russischen Imperium herauskam. Dabei wurde das aus rein politischen Gründen getan, um Assoziationen mit dem russischen Alleinherrscher zu vermeiden.
Auf diese Art und Weise erinnert die Verwendung dieser Redewendung an die imperiale Sklaverei und entfernt die Ukrainer vom Westen.
In der nächsten Zeit wird es nicht wenige zornige Worte über den Olivier-Salat, Hering unter Rote-Beete-Mayonnaise und andere sowjetische Speisen geben. Die kulinarischen Traditionen, die aus der UdSSR stammen, verbinden uns tatsächlich mit der totalitären Vergangenheit.
Doch neben dem Neujahrsfesttisch hat das Imperium in der Ration der Ukraine noch andere grelle Spuren hinterlassen.
„Schoti“, „Mama Manana“, „Gogi“, „Tbiliso“, Tschatschapuri“, „Chmeli-Suneli“, Tschitschiko“, „Saperavi“, „Radio Tbilissi“, „Chatschapuri i wino“: diese Liste ist wirklich immens.
Der unglaubliche Erfolg der georgischen Küche in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern erinnert nicht nur einfach an das Imperium, sondern auch an den persönlichen Geschmack Stalins – des Tyrannen und Mörders von Millionen.
Beginnend von den 1930er Jahren, als in Moskau das führenden Restaurants „Aragwi“ eröffnete, besetzte die georgische Küche in der UdSSR die Nische der hohen Küche und demokratisierte sich im Nachgang Schritt für Schritt. Geben wir dem amerikanischen Historiker Erik Scott das Wort:
„Georgische Speisen und Getränke drangen in das Leben des Stalin’schen Hofs ein und breiteten sich danach von oben nach unten aus: in die elitären Restaurants, die Arbeiterkantinen, in die Familienküchen.
Der Verzehr von georgischen Gerichten und Getränken wurde zum unterscheidenden Merkmal der sowjetischen Bürger, die sich auf der sozialen Leiter nach oben bewegten – zum Teil deswegen, weil jedem die Bevorzugung georgischer Speisen durch Stalin selbst bekannt war und ebenso deswegen, weil die sowjetischen Esser, indem sie Gerichte der nichtrussischen Küche aßen, sich der staatlichen Politik der „Völkerfreundschaft“ anschlossen. Ungeachtet dessen überlebte die Popularität der georgischen Küche Stalin.“
Diese Popularität überlebte auch das sowjetische Imperium, dabei ein merklicher postimperialer Marker bleibend.
Folglich verpflichtet der Kampf mit dem kulinarischen Erbe der UdSSR nicht nur dazu den Olivier-Salat zu brandmarken, sondern auch die georgischen Restaurants zu boykottieren, die du in vergleichbarer Anzahl nicht in Paris, Wien oder Amsterdam findest.
Offensichtlich ist, dass es, wenn es der Ukraine in den Jahren 1917-1921 gelungen wäre, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, dann gäbe es heute auch in Kiew nicht eine derartige Anhäufung von georgischen Restaurants.
Bald werden auch das orthodoxe Weihnachten im Januar und das Alte Neujahr zum Gegenstand der Kritik – und das eine und das andere sind charakteristisch für den postsowjetischen Raum. Verständlich ist, dass in beiden Fällen die symbolische Verbindung mit dem Imperium auf der Hand liegt.
Gehen wir einige Monate zurück und blättern den damaligen Nachrichtenverlauf durch.
„Die samtene Saison [Nachsaison] am Meer: die Top-6-Länder, die für Ukrainer offen sind.“ „Was werden Pauschalreisen nach Ägypten und die Türkei kosten: die Prognose für die samtene Saison wurde bekanntgegeben.“ „Den Sommer fortsetzen: wo in der samtenen Saison auf dem Balkan erholen.“ „Samtene Saison mit Masken: die Türkei verstärkte die Quarantäne.“
Die Autoren der angeführten Überschriften haben kaum daran gedacht, dass das von ihnen Geschriebene auf die imperiale Vergangenheit verweist. Und dennoch ist es so. Wenn die Vorstellung von „Hauptsaison“ und „Nebensaison“ international ist, so ist es zwecklos im Westen irgendeine „samtene Saison“ zu suchen.
Dieser Begriff ist nicht einmal zu Sowjet-, sonder noch zu Zarenzeiten geboren worden und verbunden mit der Fahrt der russischen Aristokratie ans Schwarze Meer.
Der Versuch die „samtene Saison“ außerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR – in der Türkei, in Ägypten oder an der Adria – zu suchen, verbindet die Ukrainer mit den ehemaligen Nachbarn im Völkergefängnis.
Und der Journalist, der auf die symbolische Trennung vom Imperium abzielt, muss den weniger klingenden Begriff „Babje leto/Babyne lito“ nutzen, zu dem es nahe Analoga in Europa gibt: ähnlich dem deutschen Altweibersommer.
Derartige Fälle kann man zu Dutzenden und Hunderten anbringen. Immer neue und neue unsichtbare Fangarme finden, welche die moderne Ukraine mit dem zaristischen Russland und der dahingeschiedenen Sowjetunion verbinden.
Jemand nimmt deren Vernichtung als Selbstzweck wahr, doch der Versuch diese komplett abzuhauen, würde selbst den zähesten Nationalpatrioten in den Wahnsinn treiben.
Von der Sache her rettet die unversöhnlichen Kämpfer mit dem kulturellen und dem alltäglichen Erbe der Imperien das Nichtwissen. Patrioten, die [Präsident] Selenski als „nackten König“ bezeichnen, ahnen einfach den imperialen Hintergrund dieses Ausdrucks nicht.
Patrioten, die Chatschapuri essen, denken einfach nicht über die Rolle des Diktators und Henkers bei der Popularisierung der georgischen Küche nach.
Patrioten, die sich nach einer samtenen Saison in Italien sehnen, sind die Ursprünge der postsowjetischen Erholungsortsterminologie einfach unbekannt.
Ihre persönliche symbolische Palisade ist voller Löcher: aber das spiegelt sich überhaupt nicht in ihren patriotischen Gefühlen wider, stört nicht dabei die Heimat zu lieben, den Kreml zu hassen und die EU-Integration zu unterstützen.
Jedoch liegt da der Hund begraben, dass das Wissen des ukrainischen Normalbürgers noch beschränkter ist. Der Normalbürger denkt kaum über die imperialen Wurzeln von Väterchen Frost nach.
Er zerbricht sich nicht den Kopf über die Herkunft des Hering unter Rote-Beete-Mayonnaise. Er sieht keinen historischen Hintergrund bei der Feier von Weihnachten am 7. Januar.
Und alles Aufgezählte spiegelt sich kaum in seiner persönlichen Beziehung zur Ukraine, Russland und Europa wider.
20. Dezember 2020 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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