GESETZ.NET
Die Möglichkeit eines Abgleitens der Ukraine in den Autoritarismus ist im Land schon allgemein bekannt. Auch die hochtrabenden Jubiläumsansprachen zur Eroberung des Majdans und der Demokratisierung können nicht über das Offensichtliche hinwegtäuschen: Unser Land bereitet sich darauf vor, die berüchtigte „starke Hand“ mit Brot und Salz zu begrüßen.
Die ukrainische Demokratie zeigt der Diktatur nicht mehr Widerstand, als das Großherzogtum Luxemburg den Armeen von Kaiser und Führer. Niemand scheint bei uns um Verteidigung der demokratischen Grundsätze bemüht. Die einzige (aber dünne) Schutzwand auf dem Weg zum Autoritarismus bilden die heimischen Journalisten, die so genannten „Wachhunde der Demokratie“.
Mit dieser verantwortungsvollen Rolle werden unsere Medien bei weitem nicht fertig und das verwundert auch nicht. Denn von allein kann die Freiheit des Wortes keine effektive Verteidigerin der Demokratie sein. Es braucht einen zweiten Wächter, der in der modernen Ukraine fehlt. Sein Name: Herrschaft des Gesetzes.
Die hausbackenen Pinochets und Francos versprechen der Öffentlichkeit eilig die Wiederherstellung von Ordnung und Gesetzlichkeit, aber eigentlich ist das Gesetz der schlimmste Feind der Diktatur und kein Autokrat ist in der Lage, sich friedlich mit ihm zu einigen.
Im Rahmen des formalisierten Rechts agierend, verwandelt sich die führende Elite unfreiwillig in einfache Vollstrecker und gewöhnliche Diener des Systems. Das süße Gefühl der Macht geht verloren und das ist völlig inakzeptabel für ambitionierte Führer, die das Volk in eine blühende Zukunft führen wollen. Eine Diktatur, die nach Regeln spielt, hört auf, eine Diktatur zu sein. Und solange die autoritären Regime aller Zeiten und Völker irgendwann genötigt waren, sich mit der Justiz anzulegen, wurden auch eigenhändig eingeführte Gesetze verletzt.
Unter Stalin ergingen sich die Spezialgerichte des NKWD in unrechtmäßigen Urteilen, unter Chruschtschow übergab man das Gesetz den entgegengesetzten Kräften, um die dem Generalsekretär unbequemen Devisenschieber zu beseitigen, unter Breschnjew ließ man Dissidenten einsitzen, die eine unbedingte Einhaltung der sowjetischen Verfassung forderten. Die lateinamerikanischen Chuntas waren gezwungen, politische Gegner zu entführen und heimlich zu liquidieren, um sie dann schamlos als „ohne Spur verschwunden“ zu bezeichnen.
Der deutsche Führer Adolf Hitler geriet in Rage, als die Richter auf dem Leipziger Prozess seine schlimmsten Feinde – Kommunisten, die man für den Reichstagsbrand verantwortlich machte – freisprachen. Um seine Opponenten trotzdem zu bestrafen, schuf Hitler die so genannten „Volksgerichtshöfe“. Wie auch seine Kollegen, stellte der deutsche Diktator schnell fest, dass man das Rechtsystem lieber zerstört und sich dabei hinter dem Willen des Volkes versteckt…
Und es gibt noch andere Beispiele, wie das amerikanische. Im Jahr 1933 wurde zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise ein neues bürokratisches Organ geschaffen – Die National Recovery Administration, kurz NRA.
In Verletzung der Konstitution vereinte die NRA gesetzgebende, richterliche und ausführende Gewalt in ihren Händen: Sie gab den so genannten „Kodex für fairen Wettbewerb“ heraus, fällte eigenmächtig Urteile gegen jene, die diesen verletzten, gründete einen eigenen, bewaffneten Dienst, führte Hausdurchsuchungen durch und brachte amerikanische Bürger hinter Gitter.
Skandalträchtigkeit erlangte die Angelegenheit eines Schneiders aus New Jersey, der ins Gefängnis geschickt wurde, weil er für das Bügeln von Kleidern 35 Cent verlangte, obwohl der Kodex es den Schneidern zu dieser Zeit verbot, unter 40 Cent dafür zu verlangen.
Ein örtlicher Richter schrieb in der Zeitung über die Angelegenheit, veranlasste die Freilassung des armen Mannes und übergab ihm seine Hosen zum Bügeln. Im Mai 1935 erklärte das oberste Gericht der USA die NRA einstimmig für ungesetzlich. Und wenn die USA in den dreißiger Jahren nicht auf das Niveau der europäischen Diktaturen abglitten, so ist dies nicht das Verdienst des lieben Onkel Roosevelt, sondern einer starken Gerichtsbarkeit, die es den föderalen Staatsbeamten nicht erlaubte, das Gesetz zu demontieren.
In dieser Sache ist die heutige Ukraine völlig schutzlos: Eine unabhängige Gerichtsbarkeit gibt es bei uns schon lange nicht mehr, das Gesetz ist zur reinen Fiktion geworden. Der totale Gesetzesnihilismus hat alle Schichten unserer Gesellschaft durchdrungen, von den Abgeordneten der Werchowna Rada bis zum bürokratischen Plankton.
Die Rechtsschutzorgane – unter Führung des wackeren Jurij Lutzenko – spucken unverhohlen auf die Gesetzlichkeit und schämen sich nicht ein bisschen. Die gehorsamen Gerichte sind bereit, auf Anruf aus dem höheren Kabinett, die absurdesten Urteile zu fällen.
Die leidgeprüfte Verfassung erfüllt ihre Funktion als Fußabtreter und Toilettenpapier… Dort, wo das Rechtssystem vollends zerstört ist, herrscht nunmehr das Recht des Stärkeren – und das ist der ideale Boden für die Diktatur.
Wie ist es so weit gekommen? Es gab natürlich auch unter Kutschma erhebliche Probleme mit der Gesetzlichkeit. Aber damals wurden die Unrechtmäßigkeiten von der Gesellschaft verurteilt, während die Demontage des Rechtssystems zwischen 2005 und 2007 vom tosenden Applaus des einfachen Bürgers begleitet wurde.
Die millionenstarken Fanclubs von Juschtschenko, Timoschenko und Janukowitsch unterstützten die unzeremonielle Missachtung des Gesetzes mit Vergnügen. Den orangefarbenen und blau-weißen Götzenbildern wurde wirklich alles verziehen: grobe Verletzungen des Gesetzes, unrechtmäßige Kaderbereinigungen, Druck auf die Gerichte, Ausschreitungen im Parlament – bis zur Blockierung der Schalttafeln und dem Diebstahl von Abgeordnetenausweisen.
Die politisch aktiven Ukrainer wussten, dass sich das Gute mit dem Bösen schlägt und die Guten mit den Schlechten kämpfen. Es ist nicht die Zeit, um über Gesetze und dumme Rechtsnormen nachzudenken! Entscheidend ist, dass die Unseren gewinnen und dabei sind die Methoden unwichtig… Aber ach, dann stellte sich heraus, dass diese bösen Gesetzlosen und parlamentarischen Raufbolde gar nicht „Unsere“ sind, sondern nur sich selbst gehören.
Die ungesetzmäßigen Handlungen billigend, bildet sich die Gesellschaft ihr Urteil: der einfache Bürger hat keine Chance, in diesem Spiel ohne Regeln zu gewinnen. Mitgefühl mit jenen, die das Gesetz übertreten – das ist ein Bumerang, der zu jeder Zeit die gestrigen Sympathien des Gesetzesbrechers treffen kann.
Im Januar 2008 begrüßten noch viele Ukrainer die Handgreiflichkeiten von Minister Luzenko, denn der patzige Chef des Innenministeriums kämpfte nicht mit irgendwem, sondern mit dem berüchtigten Kiewer Bürgermeister, Tschernowezkij. „Gut gemacht, Jura! Ein echter Kerl!“, schrien die begeisterten Demokraten und Patrioten. Aber schon ein Jahr danach wurden eben diese Bürger rot vor Scham über ihr eigenes Land: Der heldenhafte Minister Jura blamierte die Ukraine in der ganzen Welt, als auf dem Frankfurter Flughafen eine Schlägerei anzettelte.
Es fällt uns bis jetzt schwer, zu verstehen, dass das Gesetz über allen ideologischen und politischen Sympathien bzw. Antipathien steht. Die bekannte Geschichte des entstellten Lenindenkmals auf der Bessarabka bekräftigt dies deutlich.
Man kann den Genossen Lenin und das sowjetische Regime hassen. Aber jeder, der bereit ist, Vandalismus und die selbstgerechte Zerstörung von Lenindenkmälern gut zu heißen, stellt sich auf eine Stufe mit den Bolschewisten, die im Kampf mit der dämonischen Bourgeoisie jedes Mittel für recht hielten.
Unter den Umständen in der Ukraine kann nur das Gesetz zum berühmten „Schiedsrichter der Nation“ werden, dem einzigen, objektiven Orientierungspunkt in einer Welt subjektiver, ideologischer Ansichten.
Jeder von uns hat seine eigene Wahrheit, aber es kann nur ein Gesetz geben. Für das Gesetz gibt es keine Guten und Bösen, keine „Unseren“ und „Anderen“, keine Orangefarbenen, Blauweißen, Westler, Ostler, Nationalisten und Kommunisten. Umso trauriger ist es, sich einzugestehen, dass es in absehbarer Zeit in der Ukraine keine Hoheit des Gesetzes geben wird.
Es ist leicht vorauszusagen, dass uns nach der Präsidentschaftswahl die nächste Runde der Gesetzesübertretungen erwartet. Und ich fürchte, die wird den meisten Ukrainern auch keinen großen Kummer bereiten – Millionen von Ukrainern werden freudig in die Hände klatschen.
Natürlich haben unsere Landsleute diese permanente Verhöhnung des Gesetzes satt, aber im gesellschaftlichen Bewusstsein hat sich der Gedanke tief verwurzelt, dass man Ungesetzlichkeiten mit Hilfe neuer Ungesetzlichkeit beseitigen kann.
Die werktätige Bevölkerung dürstet nach Schaubestrafungen für die berüchtigten Korrupten und Oligarchen, dabei interessiert sich niemand für die Einhaltung rechtlicher Normen. Entscheidend ist, dass der böse Bube hinter Gitter kommt. Die Methoden sind dabei unwichtig…
Viele von uns glauben ernsthaft, man könnte das Feuer mit Benzin löschen und die vaterländischen Politdemagogen spielen zufrieden die Parasiten dieses Gemütszustands.
Nehmen wir einen eher respektablen Teilnehmer am Rennen um die Präsidentschaft – Anatolij Gritzenko. Der Ex-Minister positioniert sich als ehrlicher, wohlerzogener, zivilisierter und deshalb unangepasster Kandidat.
Was sagt also dieser werte Mann in Bezug auf Gesetzlichkeit? Auf der Jagd nach dem Wähler fiel im nichts Besseres, als die klangvolle Losung von der „Hoheit des Rechts über das Gesetz“, ein. Anatolij Stepanowitsch verspricht den Ukrainern, dass er selbst, der gute Gritzenko, bereit ist, bewusst das Gesetz zu übertreten, um die bösen Menschen zur Verantwortung zu ziehen.
Das ist selbstverständlich effektiver, als eine effektive, gesetzgebende Basis auszuarbeiten und deren unbedingte Einhaltung zu gewährleisten. Aber wenn sogar ein unangepasster Politiker mit Anspruch auf Intellekt sich nicht schämt, diktatorische Thesen aufzustellen, was soll man dann über seine angepassten Konkurrenten sagen?
Im berühmten Roman William Goldings, „Der Herr der Fliegen“ symbolisiert eine zerbrechliche, tropische Muschel Zivilisation und Gesetzlichkeit. Das Beispiel ist hinreichend aussagekräftig – es ist leicht, das Zerbrechliche zu zerschlagen, es wieder zusammenzusetzen, ist hingegen schwer. Besonders, wenn man anstelle des Klebers einen wuchtigen Pflasterstein benutzt.
Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrajinska Prawda