Zwei Jahre ist es her, seit in der Ukraine Präsidentschaftswahlen vollzogen wurden. Bei der Stichwahl trat Wiktor Juschtschenko, der auf 35,5% der Stimmen kam, gegen Anatolij Grizenko mit 22% der Stimmen an.
Witz? Traum? Delirium? Nein, eine Umfrage bei dreihundert ukrainischen Bloggern Anfang 2010. Die Prioritäten bewusster Nutzer von LiveJournal und der Wahl des übrigen Landes gingen etwas auseinander.
Das ukrainische Internet gilt als Quintessenz für alles Progressive, Aktive und Kreative. Hier entstehen die kühnsten Hoffnungen und die lautesten Aufrufe. Nach allgemeiner Meinung reift ein neuer sieghafter Maidan genau hier.
Aber die Dissonanz zwischen dem Virtuellen und dem Realen gibt nicht nach, so ein Pech. Die Internet-Gemeinde ist überzeugt, dass der aussichtsreichste ukrainische Politiker Herr Grizenko ist, doch das reale Rating von Anatolij Stepanowitsch und seiner Partei ist mehr als bescheiden.
Facebook hat den Präsidenten Janukowitsch schon hundertmal erledigt, aber Wiktor Fjodorowitsch sitzt nach wie vor in der Bankowaja Straße und regiert das Land. Die im Netz angehäufte aufständische Energie würde für ein gutes Dutzend ukrainischer Revolutionen reichen, bislang ist jedoch keine in Sicht.
Vor ein paar Wochen haben die progressiven virtuellen Kräfte Mut gefasst. Hurra, endlich! Hier ist er – der ersehnte Durchbruch! Digitale Muskeln wurden aufgebaut, das ukrainische Volk greift die volksfeindliche Regierung an! Die Webseiten des Präsidenten, der Werchowna Rada, des Ministerkabinetts, des Innenministeriums, der Zentralbank (NBU), des Geheimdienstes (SBU) und des Verfassungsgerichts stürzen in einem Dominoeffekt ab! Die Zivilgesellschaft erhebt sich auf ein neues Niveau!
In Wirklichkeit ging der Aufstand von Crackern zum Schutz von EX.ua nicht über die Grenzen enger Interessen einer Korporation hinaus. Jeder verfolgt eigennützige Ziele und bedient sich dabei der gewohnten Mittel.
Um ihre ureigenen Sozialleistungen besorgt, stürmen Afghanistan-Veteranen feindliche Stellungen. Nicht gewillt, sich von unentgeltlichen Internetinhalten zu verabschieden, greifen Könner im Netz die Regierungsseiten an.
Hohes bürgerschaftliches Pathos ist hier fehl am Platz. Und die aufgeregte Regierung machte sich an die gewohnte Arbeit – Unterdrückung einer potentiellen Quelle für Unruhe. Schwierige Zeiten scheinen für das ukrainische Internet zu kommen.
Unsere russischen Freunde haben es angeblich besser im Griff: das RU-Net bringt zehntausende nicht gleichgültige Bürger auf die Straße, indem es zur wichtigsten Hochburg gegen den Kreml geworden ist.
Jedoch ist nicht alles in Russland so erfreulich. Einsichtige Demonstranten fordern faire Wahlen und den Abtritt Putins von der politischen Bühne. Der Haken an der Sache ist, dass der autoritäre Putin auch faire Wahlen ohne Fälschungen gewinnt. Wenn auch nicht in der ersten Runde, wie der Kreml plant, aber er gewinnt sie auf jeden Fall.
Als Rivale kommt ihm dabe Onkelchen Sjuganow (Kommunisten) am nächsten – und der ist von den virtuellen Werten ganz schön weit entfernt. Und die Favoriten des oppositionellen RU-Net haben keine spürbare Unterstützung außerhalb dieses Netzes.
Viele werden von der Erfahrung der arabischen Welt ermutigt, wo die fortschrittliche virtuelle Gemeinschaft eine herausragende revolutionäre Rolle gespielt hat. Nur bei den letzten Wahlen hat sie eine Schlappe erlitten: die Bevölkerung bevorzugt weltfremde Islamisten.
Und es ist kein Wunder, wenn Facebook im neuen Ägypten im Laufe der Zeit als eine satanische Erfindung, die für Allah widerlich ist, unter ein Verbot fallen wird.
Man kann die Rückständigkeit der Ukraine, Russlands und der arabischen Länder beklagen, die von fortschrittlichen Technologien unzureichend erfasst sind. Gut, allgemein anerkannt ist, dass die Vereinigten Staaten hier vorne liegen. Aber auch in den USA hat der in der Internet-Gemeinschaft beliebte Ron Paul überhaupt keine Chance Präsident zu werden.
Selbst seine Chancen, die republikanischen Vorwahlen wenigstens in einem Staat zu gewinnen, sind nicht ernst zu nehmen.
Die virtuelle Welt hat uns eine Menge von neuen Optionen zur Verfügung gestellt, aber man darf sie nicht überschätzen. Andernfalls bringen sie mehr Schaden als Nutzen, indem sie uns durch eingebildete Erfolge den Kopf verdrehen.
Das Internet erfasst ein immer breiteres Publikum, und so möchte man hoffen, dass sich die Bürgeraktivität mit jedem neuen Nutzer erhöht. Aber die Millionen leidenden ukrainischen Bürger strömen ins Netz nicht für die Umgestaltung der Ukraine, sondern zum Vergnügen und zur Unterhaltung.
Das Internet hilft beim Ausdruck der Bürgerposition, ohne vom Monitor aufzustehen. Aber oftmals führt diese wunderbare Möglichkeit nicht zur Mobilisierung, sondern zur Lockerung. Warum soll man auf Maidanen frieren, wenn man die eklige Regierung im Lieblingsforum beschimpfen oder einen neuen enthüllenden Artikel mit einem Like auszeichnen kann?
Das Internet hilft, einfach und schnell Menschen mit einer ähnlichen Weltanschauung zu finden. Aber wenn bei primitiven Eingeborenen alle Zahlen über sechs mit dem Begriff „viel“ bezeichnet wurden, dann nivelliert das heutige „viel“ den Unterschied zwischen Hunderten, Zehntausenden und Millionen.
Nach der Entdeckung von ein paar hundert Gleichgesinnten überzeugt sich ein der Idee ergebener Bürger davon, dass „es von uns viele gibt“ und dass der Sieg bald kommt. Leider bleiben seine virtuellen Verbündeten bezogen auf das 45-millionenstarke Land marginal und schmoren in ihrem eigenen Saft.
Das Internet ist mächtig, aber nicht allmächtig. Keine virtuellen Zusammenkünfte und Basteleien können eine Routinearbeit mit Wählern, regelmäßige Treffen mit einfachen Menschen und eine zielgerichtete Bearbeitung des Wählerverstandes ersetzen. Aber dafür braucht man starke Organisationsstrukturen und beträchtliche Kapitalinvestitionen.
Das Geld ist keinesfalls ein einziger, dafür aber ein wesentlicher Bestandteil des Erfolges. Man kann leer ausgehen, nachdem man riesige Summen angelegt hat, aber wenn man überhaupt kein Geld hat, sind die Chancen auf einen Sieg fast gleich null.
Die orangene Kampagne von Juschtschenko 2004, der Triumph von BJuT 2006-2007, der sensationelle Aufschwung von Tigipko 2010 sind alles Projekte, die eine wahrlich breite Popularität erreichten. Es ist klar, dass seine Autoren es geschafft haben, eine richtige Welle zu fangen, aber hinter jedem von ihnen standen starke Finanzanlagen.
Die virtuelle Gemeinde verhält sich zum großen Geld mit Verdacht und Feindseligkeit. Im Netz wird nur eine einzige Finanzierungsform anerkannt, die aber nicht die effektivste ist: „Viele Bäche machen einen Strom“.
Hier tadelt man gerne Soros und Beresowskij, sucht bei jedem Schritt nach Spuren von Oligarchen und prangert Journalisten an, die ausländische Stipendien bekommen.
Dabei beweist die praktische Erfahrung, dass die Herkunft von Geld an und für sich unrelevant ist. Anderes ist prinzipiell – unter welchen Bedingungen das Geld zur Verfügung gestellt wird und wie es genutzt wird. Und das Endergebnis kann anders als die ursprünglichen Ziele des Sponsors sein.
Es genügt an die erste Kampagne von Putin zu erinnern, die von Boris Abramowitsch (Beresowskij) finanziert wurde, oder an die Partei von Lenin, die sich mit der Mark des deutschen Kaisers erheben konnte.
Die virtuelle Gemeinschaft verfügt nicht über ausreichende Ressourcen, sowohl organisatorisch als auch finanziell. Aber sie ist durchaus dazu fähig, fremde Ressourcen richtig zu lenken.
Das Internet ist eine ideale Schmiede für Diskurse und Inhalte, für programmatische Messages und Modewellen. Die im Netz entwickelte Agenda hat alle Chancen, die materielle Welt zu erobern. Dann werden virtuelle Vorlagen von interessierten Kräften aufgegriffen, setzen reales Geld an und gehen ins Volk.
Es ist klar, dass die Ideen auf dem Weg zum Massenkonsum simplifiziert werden. Der Massenmensch benötigt keinen Engels mit Kautsky, sondern ein schlichtes „wegnehmen und verteilen“, und keinen Hayek mit Mises, sondern ein zugängliches „meins nicht anfassen“.
Tiefe Gedanken, in einen populären Kitsch verwandelt – das ist das Beste, was das ukrainische Internet liefern kann. Heute zieht es freilich den Kitsch ohne Sinngehalt vor, wie „Dank an die Einwohner des Donbass!“ (Fußballlosung, später auf T-Shirts gebracht) und „Töte das Arschloch/Pidoras!“ („Gedicht“).
Mit diesem Vorrat kann man das alte System zerstören, zumal es ruhig aus seinem Inneren heraus zerfällt. Aber ein neues System zu errichten – das auf keinen Fall.
Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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