Gibt es ein Leben ohne Janukowitsch?
Wenn man der Seite BrainHistory glauben schenken darf, begann alles auf Schloss Rockingham, wo Erzbischof Anselm von Canterbury gegen König William den II. auftrat. Darauf folgte der Patenterhalt für Colts Revolver, die Gewährung der deutschen Staatsbürgerschaft für Adolf Hitler, der Auftritt Chruschtschows auf dem XX. Parteitag, die Eröffnung des ersten legalen Bordells in der Schweiz und andere bemerkenswerte Ereignisse, die am 25. Februar stattfanden.
Aber die transatlantischen Chronisten konnten den wichtigsten historischen Wendepunkt vor dem Volk nicht verheimlichen: „2010 – After being delayed by the Supreme Administrative Court of Ukraine, Victor Yanukovych is sworn in as the 4th President of Ukraine“.
Stürmischer und anhaltender Beifall!
Sowohl die ukrainischen Machthaber als auch die Opposition bezeichnen den 25. Februar als den Beginn einer neuen Ära.
Aus Sicht Janukowitschs haben weise Professionelle und Reformer die verachteten „orangenen“ Räuber ersetzt. Die Gegner Viktor Fjodorowitschs zeichnen ein anderes Bild: Eine Invasion der Donezker Okkupanten und blutrünstigen Ukrainophoben, die unbarmherzig die vaterländische Demokratie zerstampfen.
Aber sollte man eine künstliche Wasserscheide zwischen dem heutigen und dem gestrigen Tag ziehen?
Wohl kaum. Das Jahr, welches wir mit Viktor Janukowitsch verbracht haben, brachte weder frischen Wind, noch setzte es die Ukraine neuen Krankheiten aus. Es entwickelte und verschärfte lediglich die alten.
Janukowitsch und seine Mitstreiter sind keine geheimnisvollen Ankömmlinge von einem anderen Planeten. Sie sind, ähnlich wie ihre Vorgänger, typische Vertreter der ukrainischen Elite.
Die Leute des Maidan hat die Todfeindschaft zwischen Juschtschenko und Timoschenko geschwächt, die Regionalen aber agieren gemeinsam. Das, wovon die isolierten orangenen Führer nur träumen konnten, haben die vereinten „Donezker“ geschafft.
Insofern treten die Charakterzüge des ukrainischen Politikums in der Tätigkeit von Janukowitsch und Co. sehr viel heller, klarer und konturierter auf.
Die heutige Führungsmannschaft, welche über unbegrenzte Vollmachten verfügt, vereint das eigentümliche Destillat von Mängeln, das charakteristisch für das ukrainische Establishment ist, in sich. Da gibt es autoritäre Allüren und übermäßige Hochnäsigkeit, Rechtsnihilismus und verhängnisvolle Kurzsichtigkeit, irrationalen Egoismus und strategisches Unvermögen.
Im XIX. Jahrhundert entwickelte der Engländer Francis Galton eine Methodik der Bildkomponenten. Der Gelehrte legte die Fotografien verschiedener Menschen übereinander und auf den entstandenen Abbildungen traten deutliche Durchschnittsgesichtszüge hervor, als sich die individuellen Besonderheiten verwässerten.
Mit einem solchen Foto experimentierend, versuchte Galton, Porträts verschiedener allgemeiner Typen zu schaffen – des typischen Verbrechers, des typischen Vegetariers, des typischen Schwindsüchtigen und so weiter.
Die derzeitigen Machthaber erinnern an eine solches Bild Galtons. Schauen Sie – der ukrainische Politiker in seiner ganzen Pracht! Er lechzt nach Zarenvollmachten und denkt, indem er die Schrauben anziehe, könne er die objektiven wirtschaftlichen Prozesse kontrollieren.
Er tritt die Verfassung unzeremoniell mit den Füßen und glaubt an das heilige Prinzip „Den Freunden alles, den Feinden das Gesetz“. Er ist nicht in der Lage, eine aktive Außenpolitik zu führen und fliegt in der Welt umher, auf der Suche nach dem allmächtigen Lehnsherrn.
Er kann dem Land keine Zukunft bieten und wühlt deshalb eifrig in der Vergangenheit, die schmerzhaften gesellschaftlichen Fragen ewig wiederholend.
Er ist es gewohnt, in den Tag zu leben, und gewöhnt sein Land an die Kreditnadel. Noch gestern drehte er, wie seine Konkurrenten, am populistischen Schwungrad und bestach die Wählerschaft mit sozialen Almosen. Heute kommt dafür die Rechnung: Unser Held ist gezwungen, die Tarife anzuheben, das Rentenalter und die Steuerlast zu erhöhen.
Das Engerschnallen des Gürtels ist die einzige Art von Reformen, die der ukrainischen Politik möglich ist. Dafür braucht es keine strategischen Talente: Es braucht lediglich die Entschlossenheit des Verurteilten, dem die ausländischen Kreditgeber keinen anderen Ausweg gelassen haben.
Die Regionalen treten genauso auf, wie es jede andere politische Kraft in einer solchen Situation tun würde.
Und so beängstigen die bedrohlichen Donetzker nicht durch Einzigartigkeit, sondern durch ihre Trivialität. Aber leider schenken viele Beobachter der äußeren Form viel zu viel Aufmerksamkeit.
Die Söhne des Donbass passen, umgeben von einem kriminellen Flair, ideal in das Bild der bösen Machthaber. Der ungelenke Professor arrangiert sich aber sehr höflich mit dem ukrainischen Zerfall.
Im Ergebnis ist die Präsidentschaft Janukowitschs zum echten Geschenk für Liebhaber falscher Korrelationen geworden: „Wir leben schlecht, weil uns russifizierte Zombies regieren!“, „Uns geht es schlecht, weil sich auf der Bankowaja ein zweifacher richterlicher Garant eingerichtet hat!“, „Wir leben schlecht, weil es in der Ukraine die Donezker Machthaber gibt!“.
Eine derartige Rhetorik verdrängt aktiv die tiefe und systematische Analyse der vaterländischen Probleme.
Der hochgeistige und patriotische Juschtschenko, unter dem der Staat genauso flink degradiert wurde, brachte die national gesinnte Intelligenz in eine unbequeme Lage.
Mit Janukowitsch ist es einfacher – weniger schwierige Fragen, mehr einfache Antworten.
Viktor Fjodorowitsch ist nicht in der Lage, strategische Aufgaben der Landesentwicklung zu entscheiden. Aber der Präsident verdeckt das erfolgreich durch seine berüchtigte Person, seine herausfordernde Rohheit, sein herrisches Wesen, seine grammatischen Fehler und seine dunkle Biographie.
Unter Janukowitsch ist der gesellschaftspolitische Diskurs zu primitiven und geschmacklosen Bildern verkommen. Solange Viktor Fjodorowitsch versucht, den guten Zaren zu spielen, meißeln seine Gegner am Mythos vom bösen Zaren, dem Urheber allen Unheils, dessen Sturz das Volk automatisch von Armut und Ungerechtigkeit befreien würde.
Der intellektuelle Regress wächst beständig. Während der letzten zwölf Monate stürzte ein ganzer Schwall auserlesener Beschimpfungen auf die Köpfe Janukowitschs und seiner Gefährten ein, aber es stellt auch niemand eine qualitative Alternative zur Regierungsmannschaft dar.
Die ukrainische Opposition hat sich glücklicherweise marginalisiert. Die gestrigen Anwärter auf die Rolle einer neuen Elite sind hoffnungslos diskreditiert. Erfolg haben nur die kreischenden National-Radikalen – allerdings ohne Hilfe der Bankowaja.
Viktor Fjodorowitsch tut alles Mögliche, damit keine würdige Alternative zum Regime entsteht, und akkumuliert gleichzeitig ein gesellschaftliches Negativ um sich herum, das den Bürger zur einfachen Entscheidung „Wer und was auch immer. Hauptsache nicht Janukowitsch!“ treibt.
Aber wenn unter den Losungen „Schlechter wird es sowieso nicht!“ und „Wir zerstören die alte Welt bis auf die Grundmauern!“ gegen das agierende Regime gekämpft wird, erweist sich die neue Welt häufig als noch schlimmer…
Der heutige Tag entsteht durch den gestrigen und gebiert den morgigen. Die Veränderungen, welche die Ukraine in diesem Jahr durchlebt hat, sind für denkende Menschen keine Überraschung.
Die Bürger des Landes haben keine hinterlistige Ermordung einer blühenden Demokratie gesehen, sondern das prognostizierbare Ende eines todkranken Leidenden. Die Wendung zum Autoritarismus, der Zusammenbruch der europäischen Hoffnungen, die Verschärfung der ökonomischen Probleme und die Senkung des Lebensstandards – das alles war nur allzu vorhersehbar.
Das Land hat den Umkehrpunkt schon in den Jahren 2007/2008 überschritten, und da war es wirklich bitter und kränkend. Heute ruft nicht die ukrainische Wirklichkeit am meisten Besorgnis hervor, sondern die Zukunft, die in diesen Tagen programmiert wird. Die wichtigste Prüfung ist nicht die Präsidentschaft Janukowitschs, sondern das, was aus der Ukraine wird, wenn Janukowitsch geht.
Natürlich hat Viktor Fjodorowitsch, der bedrückt ist von der verflossenen, 23jährigen tunesischen Stabilität, nicht vor, zu gehen. Aber es gibt objektive Umstände, welche die Bonzen auf den Petschersker Höhen nicht beeinflussen können.
Damit das Regime eine breite Unterstützung finden kann, muss einer von zwei Umständen erfüllt sein: entweder ein intellektueller Durchbruch auf der Bankowaja, oder eine außergewöhnlich günstige Wendung der weltweiten wirtschaftlichen Konjunktur. Bisher ist weder das eine, noch das andere zu sehen.
Und die Handlungen der Führungsmannschaft zementieren die Macht Janukowitsch nicht so sehr, wie sie das Risiko extremer Szenarien erhöht, die für Janukowitsch und die gesamte Ukraine gleich gefährlich wären. Wenn ein ungeschickter und neidischer Regent sich fest an das Heimatland kettet, kann seine Absetzung von der Macht den endgültigen Zerfall des Landes provozieren.
Das derzeitige Regime ist auf einem Boden groß geworden, der von den orangenen Leadern bestellt wurde. Und wenn das Resultat so kläglich ist, welche Früchte wird dann erst der Boden tragen, der von Viktor Janukowitsch bestellt wurde?
25. Februar 2011 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda