Während die ukrainische Öffentlichkeit damit fortsetzt eine erste Bilanz der Se[lenski]-Präsidentschaft zu ziehen, liegt das wichtigste und logische Ergebnis auf der Hand. Die dominierende Tendenz unter Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] wurde die Einschränkung der persönlichen Freiheit und die Ausdehnung des Staates, wie vorher unter Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko] und davor unter Wiktor Fjodorowitsch [Janukowitsch]. Denn die Kontinuität des Systems bedeutet mehr als die unversöhnliche persönliche Feindschaft.
Es versteht sich, dass die Rede nicht von der Stärkung des abstrakten Staates geht, die in irgendwelchen feuchten Träumen figuriert und dazu bestimmt ist, sich um das Volk und die Nation zu kümmern.
Nein, Muskeln baut der reale Staat aus Fleisch und Blut auf. Der facettenreiche Leviathan, der aus Hunderttausenden großen und kleinen Menschen gewoben wird, ausgestattet mit Befugnissen, Anordnungen vergebend und deren Ausführung überwachend.
Der unsterbliche Organismus, der sich ununterbrochen von sterbenden Zellen trennt – Ministern, Staatsangestellten, Angehörigen der Machtorgane, um sie sogleich mit neuen zu ersetzen und sich weiter zu bewegen. Der schwerfällige Koloss, der nicht zum allgemeinen Wohl oder Übel existiert, sondern wegen seines eigenen Wachstums.
Dieser reale Leviathan lebt sein eigenes Leben und unterwirft sich seiner eigenen Logik. Sein natürliches Ziel ist der Erhalt immer neuer und neuer Befugnisse.
Sein natürlich Weg ist es in die Breite und in die Tiefe auf Kosten der Verringerung des privaten Raums zu gehen. Und er passt sich mit beneidenswerter Leichtigkeit sich ändernden Umständen an.
Unter Janukowitsch war der Leviathan in Anzüge starker Haushälter gekleidet und appellierte an die Stabilität. Unter Poroschenko verkleidete sich der gleiche Leviathan mit Tarnkleidung und sprach vom hybriden Krieg und der nationalen Sicherheit. Es wurde erwartet, dass der einheimische Leviathan unter Selenski sich im Smartphone breit macht und wachsen wird, sich dabei auf Modernisierung und Digitalisierung berufend.
Doch 2020 gab es ein unerwartetes Geschenk des Schicksals: die neue Coronavirus-Infektion.
Sich eine medizinische Maske zulegend, entwickelte der Leviathan eine präzedenzlose Aktivität. Blockierte die Grenzen, stoppte Züge und Flugzeuge, schloss Restaurants und Schönheitssalons, leerte Büros und Einkaufszentren.
Er führte neue Regeln, neue Beschränkungen, neue Verbote ein. Handelte im Einklang mit den Leviathanen der verschiedenen Ecken des Erdballs, begründete eigene Schritte mit fremder Erfahrung.
Die Covid-19-Pandemie und der begleitende Lockdown erlaubten es, zumindest drei Beobachtungen zu machen.
Erstens korreliert der Gewinn des Leviathans nur schwach mit dem gesellschaftlichen Nutzen und den gesellschaftlichen Verlusten. Die neue gefährliche Erkrankung hat den Planeten kalt erwischt und wir wissen bis heute nicht, welche staatlichen Entscheidungen notwendig waren und welche überflüssig und durch die Panik geboren. Wir werden noch lange darüber streiten, was vom Unternommenen richtig war und was mehr Schaden als Nutzen brachte.
Doch aus der Sicht des Leviathans und seiner Interessen ist das unerheblich. Für die staatliche Maschine gibt es keinen besonderen Unterschied zwischen Richtigem und Falschem.
Das Notwendige und das Überflüssige, das Begründete und das Ungerechtfertigte, das Rettende und das Verderbliche – all das hat so oder so dem System in die Hände gespielt, dessen Befugnisse und Möglichkeiten erweiternd.
Zweitens ist der Gewinn des Leviathans nicht verbunden mit hinterhältigen Absichten. Raffinierte Schurken, die planen die Pandemie für die Versklavung der Menschheit zu nutzen, existieren nur in Verschwörungstheorien.
Doch im realen Leben gibt es langweilige Beamte, die das tun, was ihnen die Position und die innere Logik des Systems gebieten.
Wenn man sich absichern kann, verbietend und nicht durchlassend, dann ist es besser so vorzugehen. Wenn man das eigene Betätigungsfeld erweitern kann, dann sollte man sich damit beschäftigen. Wenn man Karriere- oder Finanzvorteile aus der vorliegenden Situation ziehen kann, dann sollte man das nicht verschmähen.
Schlussendlich hängt drittens der Gewinn des Leviathans nicht von der Effektivität des unternommenen Anziehens der Stellschrauben ab.
Lass die harte Quarantäne in der Ukraine von allen befolgt worden sein, lass sie mit der Zeit in die Sackgasse geraten sein, lass auch in vielen Ländern die gesellschaftliche Unzufriedenheit zu einer Abschwächung des Lockdowns führen.
Das zeugt nicht von einer Niederlage des Staates, sondern ermuntert dazu sich an das berüchtigte Overton-Fenster zu erinnern, das auch das Diskurs-Fenster ist.
Wenn sich im Ergebnis der staatlichen Mühen der Diskursrahmen spürbar erweitert, dann ist das schon ein Sieg. Wenn das Undenkbare zum Diskutierbaren und theoretisch Annehmbaren wird, dann ist das bereits ein Erfolg.
Ein Erfolg, der den Grund für das weitere Wachstum des Systems legt.
Außerordentliche Maßnahmen, die durch den ukrainisch-russischen Krieg geboren wurden, haben sich ebenfalls nicht durch große Effektivität ausgezeichnet. Von der Mobilisierung, die von den Machthabern verkündet wurde, hat sich die Bevölkerung massenhaft gedrückt. Die Blockierung benachbarter Internet-Ressourcen wurde leicht umgangen. Das Verbot feindlicher Filme und Bücher wurde durch Online-Technologien entwertet.
Doch vor dem Krieg war als das aufgezählte überhaupt nicht diskussionswürdig: Ein derartiges Niveau der Einmischung in das Privatleben der Ukrainer wirkte undenkbar. Doch dank des Krieges wurde das Undenkbare zum gewöhnlichen Bestandteil unseres Diskurses. Und säuberte den Weg für neue Schritte des Leviathans, die nicht mit der hybriden Konfrontation in Verbindung standen.
Die Folgen der Pandemie sind noch anschaulicher als die Folgen des Krieges. Unser Diskurs wurde von Dingen angereichert, die vor einigen Monaten noch wie eine antiutopische Fiktion ausgesehen hätten.
Sogar mit Kritik konfrontiert, hat die Quarantäne die Rahmen des Zulässigen stark erweitert. Diente als Hintergrund, der dazu zwang, den Leviathan und sein Eindringen in das Leben der Bürger neu aufzufassen. Eine Besteuerung des kleinen und mittleren Geschäfts wirkt nicht mehr so skandalreich – nachdem eine Vielzahl von Unternehmen durch den Lockdown einfach paralysiert wurde. Und die Schaffung einer Geheimabteilung der Nationalen Polizei reicht nicht für eine Sensation, nachdem Uniformierte Ukrainer für Spaziergänge in Parks bestrafen konnten.
Ja, viele Quarantäne-Verbote gelang es in der Praxis nicht umzusetzen oder sie mussten vorzeitig aufgehoben werden. Nichtsdestotrotz werden sie nicht mehr Apriori als unannehmbar angesehen. Sie gingen bereits in den Raum des Diskutierten in der gesamten Welt ein. Sie dienen bereits als Maß, mit dem wir gedanklich jegliche andere Einschränkungen und Vorschriften messen werden.
Psychologisch hat der Staat bereits gewonnen, gewonnen im globalen Maßstabe: dabei haben einzelne Staatsmänner verloren und werden im Ergebnis der sich fortsetzenden Pandemie weiter verlieren.
Darin besteht der prinzipielle Unterschied zwischen dem Leviathan und der amtierenden Regierung. Zwischen dem System und dessen zeitweisen Dienern, die sich auf der Bankowaja [Präsidentensitz] und der Gruschewski-Straße [Regierungssitz] zusammengefunden haben.
Die Imageschäden, die mit dem Coronavirus und der Quarantäne verbunden sind, fallen einem konkreten Präsidenten, seinen Mitstreitern und Untergebenen zu. Vielleicht muss jemand von ihnen mit dem Rücktritt, fallenden Umfragewerten oder sogar dem politischen Tod bezahlen, Doch die erweiterten Rahmen des Diskutierbaren und Akzeptierbaren fallen dem unsterblichen Leviathan zu – auf Jahre hinaus.
30. Mai 2020 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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