Grüne Junta: Über die politische Evolution des Wolodymyr Selenskyj


Der überwältigende Sieg Wolodymyr Selenskyjs bei den Präsidentschaftswahlen 2019 wurde beinahe zum persönlichen Drama für einen Teil der Wähler, die bei der Stichwahl Petro Poroschenko unterstützten und mit Schrecken gewahr wurden, wie anstelle des Patrioten und Staatsmannes in das Arbeitszimmer auf der Bankowa ein Kleinrusse und „Watnyk“ [Von der russischen Opposition übernommener Begriff für Russlandanhänger und Putinfans, die als Wattenjackenträger der Stalin‘schen Gulags bezeichnet werden. A.d.Ü.] einzog. Dass er die Ukraine unbedingt Wladimir Putin zum Fraß vorwirft, um des Friedens willen vor ihm auf Knien niedersinkt und direkt in die Augen schaut und den Krieg im Osten einfach durch die Einstellung des Schießens beendet. Mit einem Wort, mit Selenskyj erwarteten den Staat „Verrat“, Kapitulation und eine Beinahe-Apokalypse.

Das Eintauchen in den Nationalismus

Die ersten Monate seiner Präsidentschaft vergingen unter der Begleitung eben dieser Losungen und Stimmungen, die ihren Höhepunkt vor dem Gipfel der Staatschefs der Normandie-Vier in Paris im Dezember 2019 erreichten. Zur Verwunderung der Kritiker und Lästerer kapitulierte Selenskyj nicht vor dem Präsidenten der Russischen Föderation und hielt sich würdig auf dem Abschlussbriefing und vertrat die Staatsposition. Das zerstreute die Befürchtungen der Skeptiker, der „Verrat“ fand nicht statt und einige politische Gegner erkannten sogar öffentlich den Erfolg des Pariser Besuchs von Selenskyj an, ihm dieses spezielle Verdienst anrechnend.

Heute beginnen Beobachter immer öfter zu schreiben, dass der Garant schrittweise vom ideenlosen Pragmatiker zum ukrainischen Staatsmann evolutioniert. Teils so, wie seinerzeit diesen Weg Leonid Kutschma beschritt. Der 1994 auf den Präsidentenposten mit prorussischen Losungen gewählt wurde, während der zweiten Amtszeit verteidigte er die ukrainische Souveränität gegen Russland auf der Insel Tusla [Zwischen Krim und dem russischen Festland gelegen und heute Teil der Krimbrücke. A.d.Ü.] und er gab ein Buch unter der „aufrührerischen“ Bezeichnung „Die Ukraine ist nicht Russland“ heraus. Schlussendlich sagt das populäre politische Sprichwort, dass jeder Präsident der Ukraine (mit Ausnahme von Wiktor Janukowytsch) früher oder später zu einem ukrainischen Präsidenten, Staatsmann und Nationalisten wird.

Es sieht so aus, als ob diese Periode auch für Selenskyj angebrochen ist, dabei nicht zum Ende der Regierungszeit, sondern in ihrer Startetappe. Im vorigen Jahr erinnerte der Garant anlässlich der Feier des 75. Jahrestages der Befreiung der Insassen des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau an die direkte Beteiligung der Kämpfer der 100. Lwiwer Schützendivision und der Ersten Ukrainischen Front und erklärte, dass die Polen als erste an sich die Folgen des verbrecherischen Abkommens der beiden totalitären Regime verspürten, womit er die UdSSR und das nazistische Deutschland meinte.

Darauf reagierte nicht irgendjemand, sondern der Direktor des Dienstes der Auslandsaufklärung der Russischen Föderation, der gleichzeitig der Chef der Russischen Historischen Gesellschaft ist, Sergej Narischkin. Er erklärte, dass „Herr Selenskyj immer weiter im ukrainischen Nationalismus versinkt“. Noch bösere Zungen behaupteten, dass Selenskyj das Gedenken seines an der Front dienenden Großvaters verriet, in der Lüge alle übertreffend und sich fast in Poroschenko oder irgendeinen Andrij Parubij [ukrainischer Nationalist und Majdan-Aktivist, der von 2016 bis 2019 dem ukrainischen Parlament vorsaß. A.d.Ü.] verwandelnd. Kurioser als das war höchstens der Vorwurf des Faschismus an Selenskyj vonseiten des Co-Vorsitzenden der Oppositionsplattform für das Leben [prorussischer Wahlverein um die graue Eminenz der Kutschma-Zeit, Wiktor Medwedtschuk. A.d.Ü.], Wadym Rabinowytsch. Mit der Zeit steigerten sich die russischen und prorussischen Medien dazu, dass der sechste Präsident der Ukraine schlechter als der fünfte sei: er beendet den „Binnenkonflikt“ im Donbass nicht, da er an der Leine der Nationalisten geht oder zumindest ihre Reaktion fürchtet.

Doch das ist eher das äußere Abbild Selenskyjs, das von russischen Propagandisten konstruiert und von ihren Mitläufern in der Ukraine verbreitet wurde. Denn für die Russische Föderation wird jeder Ukrainer, der sich selbst nicht als Chochol [abfällige russische Bezeichnung für Ukrainer, A.d.Ü.] und Kleinrusse anerkennen will, zu einem Anhänger von Masepa, Petljura, Bandera, mit einem Wort, zu einem höhlenmenschenartigen Nationalisten. Anstelle dessen wurde Selenskyj innerhalb der Ukraine als unzureichend patriotisch und zu kleinrussisch wahrgenommen, besonders nach seiner These „was macht es für einen Unterschied“ [Gemeint ist die erste Silvesteransprache Selenskyjs 2020, bei der er noch versuchte einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Sprachen, Religionen und und geschichtlichen Erfahrungen in den unterschiedlichen Regionen der Ukraine zu finden. A.d.R.] und den Versuchen diametral sich widersprechenden Erwartungen der Wähler zu entsprechen.

Der Präsident des Friedens, der 2019 die Militärparade zum Unabhängigkeitstag absagte und stattdessen allen Kämpfern „Wowas Tausender“ zahlen ließ, rief kaum Applaus im Publikum hervor, das es gewohnt war der Armee auf dem Chreschtschatyk [zentrale Straße von Kyjiw, A.d.Ü.] zu danken und wirklich stolz auf seine Verteidiger zu sein. Anstelle der Taktik der „schleichenden Offensive“ und der schrittweise Zurückeroberung von Territorium wählte Selenskyj den Weg der Entflechtung der Streitkräfte [Gemeint sind die kleinen Test-Frontabschnitte in der Ostukraine, an denen beide Seiten sich um jeweils einen Kilometer zurückziehen, um eine entmilitarisierte Zone und damit die Voraussetzung für einen dauerhaften Waffenstillstand zu schaffen. Ursprünglich sollte diese Entflechtung im Dezember 2019 in Paris für die gesamte Frontlinie vereinbart werden, was Kyjiw aus Angst vor den Nationalisten offenbar ablehnte. A.d.Ü.], was die Gesellschaft entrüstet [der Autor verwechselt offensichtlich die ukrainische Gesellschaft mit der nationalistischen Blase bei Facebook & Co. A.d.Ü.]. Und die Ausrufung der völligen und allumfassenden Waffenruhe im Sommer 2020 wurde mit riesiger Skepsis aufgenommen, denn den Preis von Vereinbarungen mit der Russischen Föderation kennend, glaubte man nur schwach an eine andauernde Feuerstellung. Obgleich die Kritiker Selenskyj eine Chance gaben sich dieser Illusion zu entledigen.

„Die Flugzeuge fliegen, wir werden alle bombardieren“

Langsam geschah dies. Vielleicht sogar in unverhoffter Größenordnung. Anstelle der versöhnlichen Rhetorik spricht das Team des Präsidenten jedes Mal mehr von Verstößen der russischen Besatzungskräfte [Ukrainische Sprachregelung für die von Russland unterstützten Separatisten, um nicht von einem Bürgerkrieg sprechen zu müssen. A.d.Ü.] gegen die Waffenruhe, die nur die Ukraine braucht. Der Leiter der ukrainischen Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe, Leonid Krawtschuk [gleichzeitig der erste Präsident der Ukraine, A.d.Ü.], verwandelte sich von einer „Taube“ in einen „Falken“ und sagt, dass es für jeden Beschuss der Positionen unserer Armee eine spiegelbildliche Antwort geben muss. Die Unterhändler gestehen ein, dass der Minsker Prozess in eine Sackgasse geraten ist, und die Russische Föderation versucht sich als ein weiterer – auf der Ebene der OSZE – Mittler bei der Beilegung des Konflikts auszugeben.

An der Front wird eine Verstärkung der Spannung beobachtet, die feindlichen Scharfschützen, die ukrainische Soldaten töten, wurden aktiver. Das Ende der längsten Waffenruhe wurde zu einer Frage der Zeit. In Donezk fand das Forum Russischer Donbass statt, bei der die gleichnamige Doktrin präsentiert wurde, in der verkündet wurde, dass die Donezker und Lugansker Volksrepubliken „Nationalstaaten des russischen Volkes“ sind und ihre Grenzen fallen mit den Grenzen der ehemaligen (!) Gebiete Donezk und Luhansk der Ukraine zusammen, deren Teil von Kyjiw mit Gewalt festgehalten wird.

Parallel dazu findet im Hinterland ein Informationskrieg statt, an denen den ganzen Tag die Sendergruppe von Wiktor Medwedtschuk über den „Tarifgenozid“, die „Kontrolle von Außen“, das „IWF-Diktat“ und die „Ukraine als Kolonie des Westens“ erzählte. In ukrainischer Sprache wurden die Thesen der russischen Propaganda verlautbart, die sich hinter Losungen von Meinungsfreiheit verstecken. Die patriotische Gemeinschaft ist seit langem durch die Tatsache der Existenz dieser Sender entrüstet, unterdessen unternahm die vorhergehende patriotischste Regierung keine Versuche sie zu schließen, hielt deren Besitzer für bequeme Sparrings-Partner und nicht nur das. [Poroschenko und Medwedtschuk sind auch gute Geschäftspartner. A.d.Ü.]

Einige Politiker der demokratischen Kräfte hörten auf in die Sendungen zu gehen, doch viele scheuten sich nicht in den anrüchigen Studios zu sitzen, nur um „ihre Sicht vorzubringen“, mit der eigenen Anwesenheit diesen Hexensabbat legitimierend. Früher mündete die Entrüstung nur in Boykott und Versammlungen. Und erst unter Präsident Selenskyj wurden mittels Entscheidung des Nationalen Rats für Sicherheit und Verteidigung reale Sanktionen gegen die drei Sender verhängt.

Das ist nicht nur eine Herausforderung für den nominalen Eigentümer der Medienaktiva, Taras Kosak, oder den realen – Medwedtschuk, das ist eine Ohrfeige für Putin. Anstelle eines Lamentos über die Einschränkung der Meinungsfreiheit, Appellen der OSZE und der internationalen Rechtsschutzorganisationen gab es eine ruhige Reaktion des Westens und Verständnis für diesen entschlossenen Schritt. [Inzwischen haben die Reporter ohne Grenzen das Verbot verurteilt. A.d.Ü.] Entrüstung sprachen sich lediglich der Chef des Nationalen Journalistenverbandes der Ukraine, die Oppositionsplattform und Putin aus, der meinte, dass „in der Ukraine wurden drei führende Fernsehsender abgeschalten und das war’s. Mit einem Federstrich. Und alle schweigen! Und einige klopfen sogar anerkennend auf die Schulter.“

Gleichzeitig begreift man in der ukrainischen Regierung, dass so etwas nicht einfach vorübergeht und die „Antwort“, eine symmetrische oder asymmetrische, heranfliegt. So töteten die Besatzer am 11. Februar, am Tag des Besuchs von Selenskyj mit den G7-Botschaftern im Donbass, zwei Kämpfer der Streitkräfte der Ukraine. Derartig ist die längste „Waffenruhe“.

Die Schließung der Sender von Medwedtschuk wurde zum Top-Thema vor einigen Wochen, doch gab es keine Entrüstung in der Gesellschaft. Den Angaben der soziologischen Rating-Gruppe nach unterstützen 49 Prozent der Bürger die Entscheidung die Sendung der Fernsehkanäle 112 Ukrajina, NewsOne und TIK einzustellen, 41 Prozent unterstützen diese nicht. 72 Prozent befürworten die Sanktionen gegen physische und juristische Personen, wenn ihre Tätigkeit den Interessen des Staates schadet. Und wenn sie an Terrorismus oder Separatismus beteiligt sind, dann steigt die Zustimmung für diese Einschränkungen auf 85 Prozent.

Und der Sicherheitsrat stoppte nicht bei Kosak. Vor Kurzem wurden Sanktionen gegen Medwedtschuk, seine Frau Oxana Martschenko, die Lebensgefährtin von Kosak, Natalija Lawrenjuk und andere Personen und Unternehmen verhängt. Der Sekretär des Sicherheitsrats, Olexij Danilow, kündigte ein neues Paket von Restriktionen an, darunter auch gegen Parlamentsabgeordnete. Zur gleichen Zeit deckt der SBU ein Agentennetz des FSB der Russischen Föderation auf und unterbricht die Arbeit von Telegram-Kanälen [alle vier Kanäle funktionieren wie gehabt, A.d.Ü.], die auf eine Destabilisierung der Situation im Staat hinarbeiten, dem skandalumrankten Blooger Anatolij Scharij wurde die Verdachtsmitteilung über Hochverrat verkündet. Im Interview mit dem Programm Axios auf dem Sender HBO fragt Selenskyj nicht nur aus der Ferne den Präsidenten der USA, Joseph Biden, warum die Ukraine bisher nicht in der Nato ist, sondern demonstriert auch die Alternativlosigkeit des prowestlichen Kurses: „Wie muss seinen Beitrittswunsch noch mehr erklären, als über die Verankerung der Richtung in die Europäische Union, die Eurointegration und ebenfalls des Nato-Beitritts in der Verfassung?“

Darüber hinaus hat die kürzliche „Friedenstaube“ am Ende des vorigen Jahres einen Erlass über die Feier des 30. Jahrestages der Unabhängigkeit herausgegeben, der auch eine Militärparade vorsieht. Obgleich Selenskyj früher erklärte, dass Panzertechnik und Flugzeuge keine Attraktion sind. Sie sollten nicht im friedlichen Kyjiw sein, sondern an der Front. Es sieht so aus, als ob der Präsident seine Schlüsse aus den vergangenen Feierlichkeiten gezogen hat, als die Veteranen der Antiterroroperation und des Einsatzes der Vereinigten Kräfte [Von April 2014 bis Ende April 2018 hieß der Militäreinsatz in der Ostukraine Antiterroroperation und wurde vom Geheimdienst SBU geleitet. Danach ging das Kommando an die Armee über. A.d.Ü.] einen alternativen Marsch der Verteidiger vor den offiziellen Veranstaltungen durchführten.

Die patriotische Wendung Selenskyj garantiert ihm keine direkten Wahldividenden vor dem Hintergrund der fallenden Umfragewerte. Doch er kann auf die Unterstützung bei staatsmännischen Entscheidungen sogar von der Seite derjenigen rechnen, die nicht zum Kreis seiner Unterstützer gehören. So dankt nun der Ex-Chef des Rechten Sektors und Kommandierende der Ukrainischen Freiwilligenarmee, Dmytro Jarosch, der früher vom Se!Team als den „Liquidatoren der ukrainischen Staatlichkeit sprach“, der Regierung für die strategisch wichtige Entscheidung und sprach seine Bereitschaft aus gemeinsam auf dem Weg der Verteidigung der Souveränität zu sein. Wenn der Präsident weiter diesen Kurs geht, dann werden im Fall einer erneuten Kandidatur die gestrigen Kritiker wahrscheinlich nicht für ihn stimmen, doch sie werden ihm zumindest sagen: „Danke, danke sehr!“

22. Februar 2021 // Serhij Schebelist

Quelle: Zaxid.net

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1940

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