Die große und die kleine Ukraine


Es nähert sich der 60. Jahrestag des ersten Fluges eines Menschen in den Kosmos und wir erinnern uns noch an den kürzlichen ukrainisch-russischen Streit um den Konstrukteur Koroljow, der sich durch die Teilnahme Elon Musks abhob.

Der 212. Geburtstag von Nikolaj Wassiljewitsch Gogol liegt bereits hinter uns und Kulturminister Alexander Tkatschenko [ukr. Olexander Tkatschenko] beschwerte sich bereits darüber, dass die ukrainische Literatur zwangsweise zur russischen gezählt wurde. [Im ukrainischen Unterricht werden aus der Ukraine stammende, aber nicht ukrainisch schreibende Schriftsteller, wie Gogol, Bulgakow, Ilf und Petrow oder Scholem Alejchem seit Jahren zur ausländischen Literatur gezählt. A.d.Ü.]

Die Leidenschaften um die Ukrainisierung des Dienstleistungsbereichs haben sich noch nicht gelegt, da entwickeln der Chef des Innenministeriums, Arsen Awakow, und die Pressesprecherin des Präsidenten, Julija Mendel, fast synchron das Thema „unserer russischen Sprache“.

Im Großen und Ganzen drehen sich all die drei erwähnten Geschichten um ein und dasselbe. Um den fortgesetzten innerukrainischen Wettstreit, dem weder die Coronavirus-Krise, noch die abrupte Verschärfung an der Front etwas anhaben können.

Von der Konkurrenz zweier alternativer zivilisatorischer Projekte, die unser Land der „russischen Welt“ entgegensetzen kann.

Dabei strebt das erste Projekt – die „große Ukraine“ – zu einem maximal weitgefassten Bestand an Beteiligten, und das zweite – die „kleine Ukraine“ – zu maximaler Homogenität.

Die Idee der „großen Ukraine“ setzt voraus, dass der unabhängige Staat nach der Scheidung vom Imperium auf einen bedeutenden Teil des Kapitals Anspruch erheben kann und muss, das in den Jahren des gemeinsamen Lebens geschaffen wurde.

Weder die russische Sprache, noch das kulturelle Erbe der imperialen Epoche, noch die technischen Errungenschaften der sowjetischen Zeit oder die Zerschlagung des Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges können durch den Kreml privatisiert werden und verpflichten auch nicht zur Freundschaft mit der Russischen Föderation in der Gegenwart.

Dagegen fordert das Konzept der „kleinen Ukraine“ dem ehemaligen Mitbewohner alles abzutreten und alles zu stigmatisieren, was irgendwie an die ungleiche Ehe erinnert: in der Hoffnung, dass der Kreml danach die sich komplett emanzipierte Nation in Ruhe lässt.

In Wahrheit haben die kulturell-sprachlichen Unterschiede weder die Invasion in Ungarn 1956, noch den Truppeneinmarsch in Afghanistan 1979, noch die Intervention in Syrien 2015 verhindert, doch die Adepten der „kleinen Ukraine“ irritiert das nicht.

Die Logik der „großen Ukraine“ erlaubt es, sich mit Leichtigkeit markante Figuren der Vergangenheit anzueignen, die so oder so mit unserem Land verbunden sind.

Anspruch erheben kann man praktisch auf jeden, dessen Lebens-, Berufs-, Schaffensweg eng mit der Ukraine überschnitten ist: von Gogol bis Babel, von Sikorski bis Koroljow, von Achmatowa bis Ilf und Petrow, von Kasimir Malewitsch bis Joseph Conrad.

Auf Wunsch kann jeder von ihnen in einen Gegenstand des inländischen Stolzes verwandelt und zu einem Teil des nationalen Images werden.

Doch im Rahmen der „kleinen Ukraine“ erscheint eine derartige Aneignung unlogisch. Absurd für Literaten zu kämpfen, die auf Russisch schufen – der zurückgewiesenen „Sprache des Feindes und Okkupanten“.

Es ist sinnlos um Sergej Koroljow zu kämpfen, der für das Imperium gearbeitet hat und der dessen Stärkung beförderte. Es ist merkwürdig Anspruch auf Igor Sikorski zu erheben, der aktiv die Tolstoi-Stiftung und die Gesellschaft der russischen Kultur in den USA sponsorte.

Jeder dieser kompromittierenden Umstände ist hinreichend, um die Verbindung der namhaften Söhne und Töchter der Ukraine mit der nationalen Geschichte und Kultur durchzustreichen.

Zu unseren Zeitgenossen ist die „große Ukraine“ ebenso nachsichtig, wie zu den Personen aus der Vergangenheit. Sie ist in der Lage alles aufzunehmen, was sich mit ihr zu verbinden sucht.

Sprache, Kultur, Konfession und sogar die Ideologie haben keine entscheidende Bedeutung: Es reicht, eine loyale Einstellung zum unabhängigen ukrainischen Staat zu haben und die aggressive revanchistische Politik der Russischen Föderation zu verurteilen.

Zur gleichen Zeit ist die „kleine Ukraine“ von vornherein für Erwählte bestimmt. Für diejenigen, die den Kriterien des wahren Ukrainertums entsprechen – die ständig verfeinert und immer rigider werden.

Um sich das Etikett „Kleinrusse“ zu verdienen, unwürdig an der unabhängigen Ukraine beteiligt zu sein, muss man nicht unbedingt Putin und den Kreml unterstützen.

Die Exkommunikation droht jedem aus einer Vielzahl von Sünden: von der Russischsprachigkeit bis zur zurückhaltenden Beziehung zu Stepan Bandera [Ukrainischer Nationalist und Chef der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten, vom KGB 1959 in München ermordet. A.d.Ü.], Roman Schuchewitsch [ukr. Roman Schuchewytsch, ukrainischer Nationalist und Wehrmachtskollaborateur, marschierte 1941 zusammen mit den Deutschen in der Sowjetunion ein und war am Holocaust und der Bekämpfung sowjetischer Partisanen beteiligt. 1950 von sowjetischen Spezialeinheiten in Galizien getötet. A.d.Ü.] und anderen historischen Personen.

Als gültiges Modell der „großen Ukraine“ kann man den Maidan ansehen: sowohl im Jahr 2004, als auch im Jahr 2014.

Eine spontane Vereinigung von sehr unterschiedlichen Leuten, die verschiedene Sprachen sprechen, verschiedene Ansichten vertreten – vom Nationalismus und Linksradikalismus bis zu Libertären und sich auf verschiedene Weise eine ideale ukrainische Zukunft vorstellend.

In den Vordergrund kam die Selbstidentifikation, die es einer Vielzahl einander nicht gleichenden Bürgern erlaubte sich als ein Ganzes zu fühlen.

Seinerseits kann als das Modell der „kleinen Ukraine“ die Unterstützergruppe von Pjotr Poroschenko [ukr. Petro Poroschenko] angesehen werden, die sich in den Jahren 2018-2019 bildete. [Der Autor unterschlägt hier, dass gerade diese Unterstützergruppe sich auf den Maidan der Jahre 2013/2014 beruft und auch den aktiven Kern der damaligen Ereignisse stellte. A.d.Ü.]

Eine geschlossene national-patriotische Gemeinschaft, die an ihre Teilnehmer äußerst harte Anforderungen stellt. Die relative Begrenztheit der Reihen wird durch innere Gleichartigkeit kompensiert, und die Homogenität wird durch das Aussieben derjenigen erreicht, die nicht den festgelegten Normen entsprechen.

Die „große Ukraine“ verzichtet nicht auf die Hoffnung, das im Verlauf der russischen Militärintervention der Jahre 2014-2015 abgenommene zurückzuholen.

Eine Strategie der Rückholung der Krim und des Donbass, eine aktive Arbeit mit der Bevölkerung der abgetrennten Territorien, mögliche Wege für eine zukünftige Reintegration: all das unterliegt wie gehabt einer Diskussion.

Und wenn man die vergleichsweise Breite und Flexibilität der „großen Ukraine“ berücksichtigt, dann ist sie zumindest mit irgendeiner Binnenlogik versehen.

Doch aus der Sicht der „kleinen Ukraine“ hat die Frage „Wem gehört die Krim?“ einen rein rituellen Charakter, doch keine logische Last.

In diesem Wertesystem sieht die Besatzung der Krim und des Donbass [Im offiziellen Kiewer Sprachgebrauch werden die abgetrennten Gebiete im Donbass nicht von Separatisten beherrscht, sondern sind wie die Halbinsel Krim von Russland temporär besetzt. A.d.Ü.] nicht wie etwas Schlechtes aus, sondern als Segen – die Möglichkeit sich der offensichtlichsten Hindernisse auf dem Weg zur sprachlichen und kulturellen Gleichartigkeit zu entledigen.

Es reicht sich daran zu erinnern, dass der patriotische Literator Winnitschuk [ukr. Jurij Wynnytschuk] schon vier Jahre vor Putin vorschlug auf der Krim ein Referendum durchzuführen und die Halbinsel Russland abzutreten und sein Kollege Schkljar [ukr. Wassyl Schkljar] verglich die jetzt verlorenen Regionen mit Krebsgeschwüren.

Dabei ist die „große Ukraine“ völlig bereit die „kleine“ als Bestandteil aufzunehmen, doch für die „kleine Ukraine“ ist eine derartige Perspektive unannehmbar.

Die „große Ukraine“ fechtet den Status der ukrainischen Sprache als einziger Amtssprache nicht an: dafür kann die „kleine“ sich nicht mit dem Vorhandensein des Russischen im öffentlichen Raum abfinden.

Die „große Ukraine“ hat nichts gegen die Ehrung von Bandera und Schuchewitsch durch alle Interessenten einzuwenden: zur gleichen Zeit ist die „kleine“ intolerant gegenüber aller Kritik an den Führern der Organisation Ukrainischer Nationalisten.

Die „große Ukraine“ ruft zur kulturellen Vielfältigkeit auf: doch die „kleine“ fürchtet in der vorgesehene Heterogenität aufzugehen und fordert eine Vereinheitlichung.

Das bedeutet, dass im Verlaufe der inneren Auseinandersetzungen der beiden Projekte die „große Ukraine“ immer eine passive verteidigende Position einnehmen wird und die „kleine“ eine aggressive und offensive.

Von der Sache her gleicht eine derartige Kräfteverteilung äußerst der Situation auf internationaler Ebene, wo der Westen Anschlusspunkte sucht und sich verteidigt und Russland weist Kompromisse zurück und greift an.

Dabei ist die zu beobachtende Ähnlichkeit nicht zufällig. Wenn die Idee der „großen Ukraine“ eine asymmetrische Antwort auf die Kremlaggression vorsieht, dann setzt die Philosophie der „kleinen Ukraine“ voraus, dass man für eine effektive Gegenwehr spiegelbildlich zum Gegner vorgehen muss.

Und zu welcher Übereinstimmung mit dem Feind die „kleine Ukraine“ im Erfolgsfall gelangt, kann man nur vermuten.

10. April 2021 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1325

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