Die Lwiwer ghettoisieren sich freiwillig, indem sie aus der Stadt und dem Gebiet den letzten ukrainischen Vorposten machen.
Es ist bereits zu einer vollendeten Tatsache geworden, dass die Westukraine, und genauer das historische Galizien, eine äußerst wichtige Rolle bei der Entstehung des unabhängigen ukrainischen Staates gespielt hat. Die ersten Unabhängigkeits-Impulse, die ersten Massendemonstrationen, die ersten demokratischen Abgeordneten kamen aus den westlichen Gebieten unseres Staates. Es war sehr interessant zu beobachten, wie die national-patriotische Welle Kraft im Westen gewann und in die Mauern des ukrainischen Parlaments in Kyjiw [Kiew] schwappte. Wie das Bestreben eine „ukrainische Ukraine“ zu errichten sozialem Pragmatismus mit nicht wenigen Sympathien für die sowjetische Vergangenheit im Osten gegenüberstand. Nicht weniger interessant war, wie im Ergebnis der Auseinandersetzungen, Konflikte und Vereinbarungen der Vertreter der unterschiedlichen historischen Regionen in der Werchowna Rada „Kompromiss“-Varianten des gesamtukrainischen Modells erschienen. Die, wozu die Sünde verbergen, sehr oft wie ein sowjeto-nationalistischer Bastard aussahen.
Mit der Zeit hat das „westliche“ ethnonationalistische Modell seine Anhänger im Zentrum und, was wichtig ist, in der Hauptstadt Kyjiw gefunden. Unermüdlich formte sich ein anderes Modell, was sich deutlich in der Plattform der Partei der Regionen zeigte. Und damals entbrannte zwischen diesen beiden Modellen ein Kampf nicht um das Leben, sondern um den Tod, um den Einfluss in der Hauptstadt, das heißt um die gesamtstaatlichen Ressourcen. Der Kampf darum, um die ausschließliche Möglichkeit das eigene Entwicklungsmodell der gesamten Ukraine aufzuzwängen.
Die Aufteilung in „wir“ und „sie“ funktionierte tadellos in beiden Fällen. Sie eignete sich am besten für die Wählermobilisierung und behinderte am meisten die Bildung einer gesamtukrainischen Identität. Dem Gefühl einer einigen Gesellschaft. Klar ist, dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Dass der Kampf mit wechselndem Erfolg früher oder später mit einer endgültigen Spaltung oder Krieg enden musste.
Das angenommene Galizien trat in der Rolle des verlässlichen Wahrers der nationalen ukrainischen Werte auf: der Geschichte mit dem Primat des nationalen Befreiungskampfs, der Sprache mit ihrem gesetzlich verankerten dominanten Status und der Kultur, die sich auf ethnischen völkischen Vorbildern und ihrem exklusiven Kanon gründet. Perspektivisch war hier in den Plänen die gerade so nicht gewaltsame Verbreitung dieses Kanons auf den gesamten Raum des ukrainischen Staates vorgesehen. Die Abgeordneten aus dem Westen gingen in die Werchowna Rada mit dem Wunsch die traditionellen nationalen Werte zu verteidigen, ihre historischen Helden zu verteidigen, die oft weit von modernen Vorbildern für die Nachahmung entfernt waren, und jedes Mal ein größeres Areal für die ukrainische Sprache zurückzuerobern. Das heißt das angenommene Galizien, das bereits hinreichend konservativ war, schlug das eigene Modell der gesamten Ukraine vor: in weitem Maße archaisch und im Hinblick auf die historischen Helden – undemokratisch. Dafür mit deutlichen nationalen Attributen.
Für die Abgeordneten aus dem Osten, obgleich sie pragmatischer waren, stellten solche Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte, allgemeinmenschliche Werte beinahe keinen Wert dar. Von nationaler Kultur erst gar nicht redend. Außerdem bildete sich im Osten wegen der spezifischen Struktur der Industrie und den „Besonderheiten“ der Privatisierungsprozesse ein eindrucksvolles oligarchisches Clansystem heraus. Verfestigten sich halbfeudale Beziehungen.
Das Aufeinandertreffen der Repräsentanten dieser beiden Welten ergab im Ergebnis eine unglaubliche Keilerei, die mit der Zeit zur Explosion zweier Revolutionen führte. Mit der Annexion der Krim durch Russland und der Entfachung des Krieges im Donbass durch es verringerte sich das spezifische Gewicht des Ostens im Binnenleben der Ukraine spürbar. Und hier hätte die goldene Zeit für die Errichtung einer neuen, reformierten Ukraine eintreten müssen. Dabei unter Beteiligung aller Seiten ohne Ausnahme. Hier hätte sich ein Platz für alle finden können: die Charkiwer Intellektuellen, die Manager aus Dnipro, die patriotischen Lwiwer Führungskräfte. Und es schien, dass den Bedarf an einer gekitteten Ukraine alle verstanden. Verstanden, dass nur in der Einigkeit Stärke liegt.
Jedoch geriet alles auf die alten althergebrachten Gleise. Anstelle einer Regierung von Technokraten, über welche die ganze Zeit gesprochen wurde, bildete sich eine Regierung von Marodeuren, die alle Posten als Lehen begriffen. Und die eigene rechtswidrige Tätigkeit mit üppigen Wyschywankas [bestickten Bauernhemden = Nationaltracht, A.d.Ü.], dem Kampf um historische Helden und der Anfeuerung von Sprachkriegen camouflierten. Offen gesagt kamen banale Verbrecher an die Macht, die nicht einmal annähernd Technokraten glichen. Und mit ihrer augenwischerischen Rhetorik schafften sie es, einen Schatten auf das von ukrainischen Patrioten vorgeschlagene kulturell-historische Konzept zu werfen.
Im Ergebnis kam es so, dass nach der allgemeinukrainischen Revolution der Würde [euphemistische ukrainische Sprachregelung für den gewaltsamen Regierungswechsel im Winter 2013/2014, A.d.Ü.], bei der solche Städte wie Dnipro eine entscheidende Rolle spielten, die offen auf die gemeinsame Errichtung einer erneuerten Ukraine zählten, erschienen in der Arena „galizische“ Danaer mit ihren Geschenken: Stepan Bandera, Roman Schuchewytsch und die Ukrainische Aufstandsarmee [UPA]. Sie dachten hinlänglich schablonenhaft: Personen, die für die unabhängige Ukraine gekämpft haben, verdienen es zu exklusiven Helden zu werden. Völlig gleich, in welchen Uniformen und auf der Seite welcher Regime sie kämpfen mussten.
Hier schüttete der Krieg gegen den russischen Aggressor Öl ins Feuer. Davon sprechend, dass alle Formationen, die eins gegen Russland oder die UdSSR kämpften, heldenhafte waren. Es wurde nicht mit bösen Absichten getan, sondern dafür, um bei den Ukrainern das Patriotismusniveau und den Kampfgeist zu erhöhen. Doch den Kampfgeist können nur historische Figuren erhöhen, die eindeutig in der Gesellschaft als Beispiele für Nachahmung aufgefasst werden. Im gesamtukrainischen Maßstab war die Reaktion auf eine derartige historische Politik nicht das, was uneindeutig ist, oft rief sie Abstoßung hervor. Und sagen Sie mir, wofür werden Leute agitiert und Dinge getan, die uns schwächer machen? Besonders unter Kriegsbedingungen? Jedoch schenkte dem niemand Beachtung.
Das heißt anstelle von Reformen und konsolidierten Handlungen zur Stärkung des ukrainischen Staates wurde erneut der Kampf zweier Konzeptionen historischer Identität untergeschoben. Und als mit dem Näherrücken der Präsidentschaftswahlen klar wurde, dass Petro Poroschenko seinen Posten verlassen werden muss, kam erneut das Prinzip „Teile und herrsche“ in Gang. „Wir“ und „sie“ wurden erneut reinkarniert. Und obgleich die Ukrainer nicht mehr künstlich in drei Sorten geteilt wurden, erreichte der Hass auf diejenigen, die nicht „dafür“ sind ein ungesehenes Niveau. So wurden diejenigen, die sich nicht von den pathetisch patriotischen Reden Poroschenkos kaufen ließen, beschimpft und erniedrigt und seine Anhänger erhöhten sich selbst.
Sie glaubten wirklich selbst daran, dass sie unübertreffbare Patrioten sind, die mit exklusivem kritischen Denken ausgestattet sind. Sie riefen sich als Elite der Elite aus. Sie schufen etwas nach dem Vorbild eines Ritterordens der Wahrer und Beschützer der wirklichen Ukraine. Dabei nicht begreifend, dass sie oft ein archaisches, clan-oligarchisches, korrumpiertes Land verteidigen. Zur Hauptstadt dieses „Ordens“ wurde Lwiw und das Gebiet Lwiw zu dessen Hauptstütze. Die Lwiwer kann man verstehen. Sie haben immer gewusst, was vorbildliche Ukrainer sind: sprechen ein wundervolles Ukrainisch, zu Feiertagen ziehen sie Wyschywankas an, gehen in die Kirche, lieben die nördlichen Nachbarn nicht und ehren ihre Helden. Diesen Kanon vermochten sie in gewissem Maße nach Kyjiw zu exportieren. Doch die Versuche, das der gesamten Ukraine aufzubinden, erwiesen sich als vergeblich.
Es stellte sich heraus, dass die Ukrainer fähig sind ohne blutige Revolutionen und Kriege, ohne endlose Bataillen auf historischem Feld eine Wähler-Revolution zu verwirklichen. Vermittels einer konsolidierten Abstimmung die alte korrumpierte Elite verdrängen, Reformen beginnen und sich der Bildung einer technokratischen Regierung annähernd. Über der Ukraine der Galizier hängt die „Gefahr“ der Einstellung der Gladiatorenkämpfe um die kulturell-historischen Fragen.
Es zeigte sich, dass die Lwiwer in letzter Zeit die Angst die „ukrainische“ Ukraine zu verlieren leitete. Und diese Angst war so stark, dass sie diese dazu zwang sich freiwillig zu ghettoisieren, aus der Stadt und dem Gebiet den letzten ukrainischen Vorposten machend. Faktisch bedeutet das den endgültigen Verlust der Position des angenommenen Galiziens im gesamtukrainischen Maßstab. Und die bewusste Opposition gegenüber dem Willen der Mehrheit der Bürger des Staates droht mit der Umwandlung der Region in eine für Forscher interessante Enklave. Ein Freilichtmuseum für sich, wohin man zur Erholung fährt, die Architektur bewundert, die interessante Atmosphäre genießt, mit den exotischen Einwohnern redet und dann weiter fährt, seine alltäglichen Pflichten zur Errichtung der Ukraine zu erfüllen.
Gestern mit mehreren jungen Lwiwern redend, hörte ich die Fragen: „Aber warum bietet [Präsident Wolodymyr] Selenskyj Galizien nichts an? Ist es wirklich so schwer für ihn zu sagen, dass es in der Sprachfrage keine Änderungen, dass es keinen Angriff auf unsere Geschichte geben wird? Warum beruhigt er uns nicht?“ Worauf ich antwortete: „Schwere Fragen: Wahrscheinlich will er nicht. Denkt, dass die Bürger der Ukrainer diesmal ohne die Danaer auskommen. Oder vielleicht dieses Mal ohne ihre deutliche Beteiligung.“
27. Juni 2019 // Wassyl Rassewytsch
Quelle: Zaxid.net
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