Eine wertvolle Eigenschaft des 42-jährigen Präsidenten Selenski [Wolodymyr Selenskyj] kann man nicht bestreiten: er lenkt die Aufmerksamkeit auf Probleme, die den Maßstab der eigenen Person übertreffen. Und oft erweisen sich die Reaktionen der Gesellschaft auf das von Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] Gesagte oder Getane als bei weitem wichtiger als das Gesagte oder Getane selbst.
Genauso kam es bei der Neujahrsansprache des Präsidenten, die jetzt schon in der vierten Woche diskutiert wird. Jeder hörte in den Worten von Se[lenski] genau das, was er hören wollte.
Wir haben uns überzeugt, dass der gesellschaftliche Dialog über die Identität, Symbole und die Wertepolitik weitergeführt werden muss, nicht für Israel, nicht für Polen oder Ungarn, sondern für uns selbst.
Können denn in der unabhängigen Ukraine mehrere verschiedene Kulturen existieren? Wie sollte unser gesamtukrainisches Pantheon der Helden aussehen? Welcher Grad der staatlichen Einmischung in den Bereichen der Geschichte, Religion und Sprache ist zulässig? Ist es real möglich dem Imperium zu widerstehen ohne die Glorifizierung Stepan Banderas? Und mit Toleranz gegenüber Wyssozki und Zoi? [gemeint sind die sowjetischen Sänger Wladimir Wyssozki (1938-1980) und Wiktor Zoi (1962-1990), A.d.R.]
Das liberale Modell prallt hier zum wiederholten Male mit dem nationalzentristischen zusammen.
Das angenommene Motto „Jedyna krajina. Jedinaja strana“ [ukrainisch und russisch „Einheitliches/Geeintes Land“. Wurde 2014 nach der russischen Besetzung der Krim bei den meisten Fernsehsendern eingeblendet.] von 2014 mit dem Motto „Armija. Mowa. Wira“ [„Armee. Sprache. Glauben“ – Wahlkampflosung von Ex-Präsident Petro Poroschenko, A.d.R.] von 2018.
Und auf den ersten Blick wirkt der Nationalzentrismus viel gewichtiger. Die Anhänger von „Armee.Sprache.Glauben“ berufen sich auf den hybriden Krieg, sprechen von Unabhängigkeit und Abgrenzung von Moskau mit dem symbolischen Zaunpfahl, über die notwendige Konsolidierung der Bevölkerung im Angesicht des gemeinsamen Feindes. Vom entscheidenden Einfluss von Symbolen auf die Entstehung des patriotischen Bewusstseins.
Aber der Witz daran ist, dass es dem Menschen eigen ist, seine eigenen Vorlieben zu rationalisieren.
Dass man sich selbst einredet, dass die modische Kleidung auch sehr bequem ist, dass das leckere Essen auch noch gesund ist, dass die Lieblingsmenschen alle möglichen Talente und Tugenden haben. Und die imponierende humanitäre Politk erweist sich auch als mächtiges Mittel im hybriden Krieg.
Um seine eigene Wahl zu verteidigen, ist es sehr bequem, ein Gleichheitszeichen zwischen dem Erwünschten und dem Wirksamen zu setzen.
Allerdings ist die Praxis das Kriterium der Wahrheit, und da sollte man die Aufmerksamkeit auf drei Umstände richten.
Erstens erreichte unsere Gesellschaft das höchste Niveau der patriotischen Konsolidierung 2014. Und die damalige Ukraine musste eine Reihe von Schlägen des Kremls aushalten, während sie zu dieser Zeit viel liberaler war als heute.
Auf dem Höhepunkt des Unabhängigkeitskampfes schämte sich Präsident Poroschenko nicht, öffentlich die „Wertschätzung der Spezifität der Regionen und des Rechts der örtlichen Gemeinschaften auf ihre Nuancen in Fragen des historischen Gedächtnisses, des Helden-Pantheons und religiöser Traditionen“ zu verkünden.
Die Forcierung des Angriffs an den historischen, sprachlichen und kirchlichen Fronten geschah erst nach Minsk, als sich die reale Front stabilisierte. Übrigens trieb jede neue Initiative einen weiteren Keil in das ehemalige Lager des Euromajdans.
Je aktiver die symbolische Abgrenzung vorangetrieben wurde, mit der Absicht, das Land gegen Putin zu einen, desto höher türmten sich die Barrikaden im Inneren auf. Schon das weckt Zweifel an der Effektivität einer strengen humanitären Politik als Konsolidierungsinstrument.
Zweitens unterstützen viele Anhänger des betreffenden Konzepts – von Witalij Portnikow bis Pawel Kasarin – es nicht durch ihr eigenes Beispiel.
Der Großteil der Intellektuellen in der Öffentlichkeit kam nicht über die Symbole zum Patriotismus, sondern machte den umgekehrten Weg.
Als aus dem imperialen Kulturraum stammende banden sie sich zuerst an die unabhängige Ukraine und unterstützten danach erst die Verstärkung der humanitären Emanzipation.
Bandera [gemeint ist Stepan Bandera (1909—1959) , der Führer der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten, A.d.R.] und den Tomos dem Einfluss des Patriotismus zuschreibend, verordnen sie der Bevölkerung ein gegenteiliges Rezept: sich in Patrioten zu verwandeln unter dem Einfluss symbolischer Offiziosität.
Beispielhaft gesprochen: ein schon von Bronchitis geheilter Mensch geht in einem Eisloch baden und meint, warum auch immer, alle anderen Bronchitis-Kranken würden auch durch ein Bad im Eisloch geheilt.
Schließlich und Drittens erhält die Meinung über die Wunderwirkung von Symbolen keine Unterstützung durch den Verlauf des letzten Präsidentenwahlkampfs. Das Wahlvolk besteht aus unterschiedlichen Generationen. Und jede Generation hat ihre eigenen Erfahrungen mit unterschiedlichen Symbolräumen.
Manche sind noch in der Sowjetunion zur Persönlichkeit gereift, Andere haben nicht einen Tag in der UdSSR gelebt. Manche sind erst im fortgeschrittenen Alter auf die gelb-blaue Fahne und den Dreizack gestoßen und manche haben sie ab ihrem ersten Lebensjahr gesehen.
Insgesamt hat sich seit 1991 die nationale Kultur ausgeweitet, und die Verbreitung der imperialen Kultur ist zurückgegangen.
Im Frühjahr 2019 hat einer der Kandidaten die Souveränität aktiv auf die Tagesordnung gehoben, der andere nicht. Und nach der Theorie hätten wir eine deutliche Korrelation zwischen dem Symbolischen und dem Staatsbürgerlichen sehen müssen. Je jünger der Stimmberechtigte ist, desto weniger ist er mit der sowjetischen Ästhetik in Berührung gekommen. Je früher er mit den nationalen Symbolen Bekanntschaft gemacht hat, desto wahrscheinlicher sollte er unter die angriffslustigen 25 Prozent [Stimmanteil von Poroschenko im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2019. A.d.R.] geraten.
Allerdings zeigt sich uns in der Praxis ein entgegengesetztes Bild. Das Elektorat des ultra-patriotistischen Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko] war ziemlich betagt.
Den größten Erfolg hatte das ehemalige Staatsoberhaupt unter den Wählern von sechzig Jahren und älter. Das sind die Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens im Imperium verbracht haben. Sie sind mit sowjetischen Büchern, Liedern und Filmen aufgewachsen. Sie waren bei den Jungpionieren, bei den Pionieren und Komsomolzen, haben in Hülle und Fülle Geschichten über die Größe der UdSSR, von Väterchen Lenin, von der Freundschaft der Brudervölker Ukraine und Russland gehört. Aber 2019 hinderte sie das alles nicht daran, für den fünften Präsidenten der Dekommunisierung, Ukrainisierung und Eigenständigkeit zu stimmen.
Im Gegensatz dazu hat der ideenlose Wladimir Selenski die massenhafte Unterstützung der Jugend erhalten. Die besten Ergebnisse hat er unter den Wählern zwischen 18 und 30 Jahren erhalten.
Das sind die Menschen, die zu keinem anderen Land als der unabhängigen Ukraine gehört haben. Seit ihren jungen Jahren haben sie in der Schule die ukrainische Sprache gehört, aus Lehrbüchern mit positiven Bewertungen der Ukrainischen Volksrepublik [kurzzeitiges Staatsgebilde zwischen 1917 und 1921] und der Ukrainischen Aufstandsarmee [1942 gegründete westukrainische nationalistische Partisanenarmee – bewaffneter Arm der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten, die bis Anfang der 1950er gegen die Sowjets kämpfte. Verantwortlich für ethnische Säuberungen in Wolhynien mit mehreren Zehntausend Toten, A.d.R.] gelernt.
Sie haben nie Rubel mit dem Bild von Iljitsch in der Hand gehalten, dafür sind sie von Kindheit an Banknoten mit Masepa [Iwan Masepa (1639-1709), Hetman der Saporoger Kosaken, Jugendfreund von Peter I., der im Großen Nordischen Krieg zwischen Russland und Schweden auf die schwedische Seite wechselte.] und Gruschewski [Mychajlo Hruschewskyj (1866-1934), Historiker, Vorsitzender des Parlaments der Ukrainischen Volksrepublik von 1917-1918] gewöhnt. Aber 2019 hat sie all das hier aufgezählte nicht dazu gebracht Pjotr Poroschenko zu unterstützen, der ganz auf patriotische Losungen setzte.
Fakten sind eine sturköpfige Sache und Zahlen umso mehr. Sowohl das eine als auch das andere führen uns zu dem Schluss, dass der Einfluss von symbolischer Offiziosität auf das Massenbewusstsein ein wenig überschätzt wird, zumindest in unserem Land zu dieser Zeit.
Das befreit die Ukraine natürlich nicht von weiteren Diskussionen über Symbole, Geschichte, Religion, Sprache, Nationalhelden und die Staatspolitik. Aber, wenn man seine Vorlieben vertritt, muss man nicht immer das Erwünschte für das Wirksame ausgeben.
Manchmal lohnt es sich, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und sie wenigstens sich selbst zu einzugestehen.
„Ich trage klassische Anzüge von Armani nicht, weil sie bequem sind, sondern stilvoll. Ich esse roh geräucherte Wurst nicht, weil sie gesund ist, sondern weil sie mir schmeckt. Ich liebe die mir Nahestehenden nicht, weil sie die besten sind, sondern weil es meine sind. Ich unterstütze die Forcierung der Ukrainisierung und lobe den Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten nicht, weil es für den Sieg über Putin wichtig ist, sondern weil mir das gefällt.“
Es könnte sein, dass eine solche Position nicht so siegreich erscheint wie die Rolle des großen Hybrid-Strategen. Aber wenigstens wird sie ehrlich sein. Und wenn wir schon dem offenen inneren Dialog nicht entkommen können, dann ist das für den Anfang schon gar nicht schlecht.
25. Januar 2020 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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