„Hergestellt hinter Gittern“: Was produziert wird und wie man in den Gefängnisbetrieben im Land arbeitet



„Westi“ beginnt eine Serie eigener Reportagen über das Leben ukrainischer Häftling. Wir erzählen davon, was wir mit eigenen Augen gesehen haben – von „VIP-Bedingungen“ in Kindergärten der Frauenkolonien bis zu unmenschlichen Bedingungen in den Zonen, in denen Minderjährige und erwachsene Wiederholungstäter ihre Strafe absitzen. In diesem Beitrag erzählen wir darüber, warum die Produktion in Gefängnissen selten Gewinn erzielt und manchmal sogar ganz eingestellt wird.

Nur die finsteren Blicke, die sich gleichzeitig neugierig umwendenden rasierten Köpfe, das widerliche Geräusch des Signals der sich öffnenden Gitter in den Durchgängen und die zwei kräftigen Kerle hinter unseren Rücken erinnern daran, wo wir uns befinden. Sonst ist es ein ganz normaler Holzverarbeitungsbetrieb; alte Gebäude, ein bisschen laut, an manchen Stellen unordentlich. Wolken von Sägespänen fliegen durch die Luft, behindern das Atmen und das Öffnen der Augen. Wir blinzeln. Es scheint, die einzige Herrin des Lebens hier ist die wohlgenährte, flauschige Katze. Nur ihr und noch den Vögeln ist es erlaubt, ohne Passierschein zwischen dieser und jener Seite der Gitter hin- und herzuwechseln, sogar in den Lebensmittelladen.

Sägewerk hinter „Stacheldraht“

Das ist die Schitomirer Strafkolonie Nr. 4. Hier gibt es einen fast musterhaften Betrieb, der innerhalb eines Jahres einen Reingewinn von 12.000 Hrywnja (umgerechnet 375 Euro) machte. Und das ohne Einrechnung der Steuern, die in der Gesamtsumme etwa 9.000 (etwa 280 Euro) betrugen.

„Die Produktion läuft. Bei uns sind etwa 200 Menschen beschäftigt und erhalten ihre Bezahlung ohne Verspätungen“, erzählt der Betriebsdirektor Igor Lewizkij. „Wir produzieren nicht nur bearbeitetes Holz. Unsere heutige Hauptproduktion ist die Verarbeitung von Plastikflaschen im Schredder. Aus ihnen macht man Synthepon (Kunststoff-Füllung – Anm. d. Übers.) für Jacken, Kissen und Decken. Die Produktionslinie ist nur zurzeit nicht in Betrieb, sie ist zum Lackieren.“??

Das Holz verarbeitet der Betrieb zu Paletten, Möbeln und Laminat. „Stellen Sie sich vor, unsere Auftraggeber kommen sogar aus Deutschland. Für einen Stapel Paletten zahlt man uns über 100 Euro“, sagt Lewizkij stolz.

Aber nicht alles ist so erfreulich. Der Betrieb der Strafkolonie hat Millionenschulden und einen Behördenkrieg, der die völlige Gleichgültigkeit des Staates gegenüber dem Huhn, das goldene Eier legt, bezeugt.





Die Gesetze der Unrentabilität

Der Betrieb in der Schitomirer Strafanstalt ist mit Millionen verschuldet, von ihm werden Zahlungen für kommunale Dienstleistungen erhoben, auf ihm lasten Schuldzinsen und andere Strafzahlungen. Dies alles wird begleitet von regelmäßigen Pilgerfahrten verschiedener Inspektoren: Brandschutz, Hygiene, Staatsanwaltschaft…wir fahren fort, an den Fingern abzuzählen.

„Zum 1. Januar 2015 hatten wir zwölf Millionen (etwa 375.000 Euro) Schulden an Steuern, Krediten und Kommunalabgaben. Bis heute haben wir diese Verbindlichkeiten auf acht Millionen begrenzt. Wie soll ich mit solchen Schulden Gewinn erzielen?“, jammert der Direktor.

Man kann vom Staat weder Subventionen aus dem Budget noch Hilfe für die Entwicklung erwarten. Ganz im Gegenteil: Der Gerichtsvollzieher hat vor einiger Zeit die Gebäude und die Konten des Unternehmens beschlagnahmt.

„Wir haben vor Gericht gegen den Gerichtsvollzug gewonnen. Jetzt sind unsere Hände frei und wir können über die Mittel und Immobilien verfügen“, sagt Lewizkij.

Bei alldem darf man nicht vergessen, dass sich Gefängnis- und Gerichtsvollzugsdienst unter der Leitung des Justizministeriums befinden. Gesetzgeber, Exekutive und Gerichte können die abgenutzte Decke nicht teilen, jeder zieht sie zu sich. Hinzu kommt der ‚Beschluss Nr. 80* des Kabinetts, der erlaubt, bis zu 50 Prozent der Gehälter der Gefangenen zugunsten des Budgets einzubehalten, um die Ausgaben für deren Unterbringung zu verringern.

Hier muss man sich unbedingt daran erinnern, dass die Arbeitskraft in der Kolonie praktisch kostenlos ist, wenn man die Gehälter mit denen für die Arbeit in Freiheit vergleicht. Und man muss kein Ökonom sein, um zu verstehen, zu welchen Gewinnen man die Produktion mit einer so gering bezahlten Arbeitskraft führen kann.

Wer nicht arbeitet, isst trotzdem

Das Leben „in der Zone/im Knast“ ist kein Zuckerschlecken. Aber ein bisschen süßer haben es die Änderungen in der ukrainischen Gesetzgebung gemacht.

Seit kurzem ist Arbeit in der Kolonie ein Recht, und nicht die Pflicht eines Gefangenen. Das heißt, selbst wenn er eine schwere Strafe verbüßt, kann der Mensch jetzt nicht zur Arbeit gezwungen werden.

In der Schitomerer „Nummer 4“ arbeiten von 700 Insassen nur 200. Die anderen 500 nähren sich von Frühstück, Mittag- und Abendessen aus dem Budget ohne sich die Mühe der sozial nützlichen Beschäftigung in den Zechen der Kolonie zu machen. Mit einem Wort, sie werden passiv umerzogen, ohne Arbeitstherapie aber mit erzieherischen Gesprächen.

„Was haben wir denn heute zum Mittagessen?“, erkundigt sich der stellvertretende Vorsitzende für kommunal-hauswirtschaftliche Versorgung der Kolonie Aleksander Didkowskij in herrschaftlichem Ton bei den Köchen, die im Verpflegungsblock arbeiten. „Erbseneintopf, Brei“, antwortet ein junger Häftling, während er das Essen in dem riesigen Topf umrührt. Mit den Journalisten wollen die Insassen nicht reden: „Keine Ahnung“. „Was bekommt ihr normalerweise zu essen?“, frage ich. Die Antwort ist Schweigen. Und der scharfe Geruch von Sauerkraut, der zäh in allen Korridoren hängt.


Aber der örtliche Wichtigtuer in Hemd, Hosen und blankgeputzten Schuhen erklärt sich zum Reden bereit. Jewgenij Tschernysch ist das achte Jahr in der Kolonie. Er ist kein Verweigerer, scheut sich nicht vor der Arbeit, obwohl er einem Arbeiter im Sägewerk auch nicht gerade ähnelt. Er erhält 1700 Hrywnja (etwa 53 Euro) Bezahlung. Einen Teil gibt er für Lebensmittel im Laden der Kolonie aus, der gesamte Rest geht für die Abzahlung seiner Strafe drauf.

„Für mich geht so die Zeit schneller um, ich kann nicht untätig herumsitzen. Ich habe 15 Jahre bekommen (Tschernysch sitzt für Mord – Anm. d. Red.). Warum die anderen nicht arbeiten, weiß ich nicht, viele sind einfach faul. Sie arbeiten nicht, weil sie nicht arbeiten brauchen“, vermutet der Sträfling.

Wie man das „Erarbeitete“ ausgibt

Ja, die Bezahlung hier ist mies. Zum Vergleich: in Freiheit erhalten Arbeiter in einem vergleichbaren Betrieb sechs- bis zwölftausend Hrywnja. Im Übrigen erreicht die Bezahlung im Gefängnis nur selten wenigstens die Hälfte des staatlichen „Minimums“. Die Gefangenen können auch nur sehr eingeschränkt über ihr Geld verfügen. In der Kolonie gibt es einen Laden, in den Regalen liegen Tee, Kaffee, neue Häftlingskleidung neben Konfekt, Fußbällen, Bildern und Schnitzarbeiten örtlicher Künstler.

Die Verkäuferin ist freundlich und fröhlich. Sie erklärt: was die Insassen bestellen, das gibt es auch im Sortiment. Es zeigt sich, dass jeder Gefangene hier Bestellungen aufgeben kann, für fast alles Mögliche, bis hin zu speziellen Konfektsorten. „Zigaretten haben wir nicht, aber sie wurden geliefert, sie werden sehr schnell verkauft.“


Wer sein Geld nicht vor Ort ausgeben will, spart sein Gehalt auf einem Konto und erhält es nach der Freilassung. Außerdem gibt es die Möglichkeit finanzielle Unterstützung an Verwandte oder Alimente an Kinder zu schicken.

Kommentar des Justizministeriums

Im Justizministerium sagt man, dass der Staat in letzter Zeit einfach die Prioritäten anders gesetzt hat. Von der Arbeitsverpflichtung im Gefängnis geht man über zu Arbeit und Lehre als Mittel der Resozialisierung, das heißt, als Vorbereitung der Gefangenen auf das Leben nach der Freilassung. Damit der Verurteilte die Zone mit einer „freien“ Spezialisierung verlässt, arbeitet man in der Kolonie als Auszubildender. Und wenn man den Wunsch nach Ausbildung und Arbeitserfahrungen hat, dann herzlich willkommen in der Werkhalle.

Der Vertreter des Justizministeriums Denis Tschernyschow erklärt, warum die Situation der Gefängnisproduktion in der Ukraine in letzter Zeit katastrophal ist, und was getan werden muss, um die Situation zu verbessern.

??„Meine Kollegen und ich arbeiten zurzeit in der Regierung daran, dass die Produktion im Strafsystem nicht geschaffen wird, um Gewinne zu erwirtschaften. Darin besteht ihre Einzigartigkeit. Ziel dieser Produktion ist die Gewöhnung der Gefangenen an die Arbeit als wichtiges Element der Resozialisierung. Den Reformen (des Strafvollzugs) haben wir die Produktion und Gewöhnung an die Arbeit extra in den Pass geschrieben. Estland hat zum Beispiel den Weg der „verpflichtenden Beschäftigung“ beschritten, das heißt, der Gefangene arbeitet entweder, oder er lernt. Hauptsache er sitzt nicht untätig herum. Man muss sich auf den Weg in die Freiheit vorbereiten. Unsere Aufgabe ist es heute der Gesellschaft einen Menschen zurückzugeben, der bereit ist, ein Leben ohne Konflikte mit dem Gesetz zu führen. Das ist sowohl die Eingliederung in den Arbeitsprozess und als auch die Erhöhung des Bildungsniveaus. Deshalb bitten wir die Regierung und das Parlament jetzt auch darum, die Gefängnisproduktion als besondere Form der wirtschaftlichen Tätigkeit zu betrachten, die besondere Bedingungen braucht. Zwischen den verschiedenen Bereichen der Regierung kommen Unverständnis und Arbeitslücken vor. Deshalb muss man nicht für alle Probleme des Strafvollzugs das Justizministerium verantwortlich machen.

21. April 2018 // Marina Schewtschenko, Konstantin Grischin

Quelle: Westi

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1375

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