Holodomor-Gerichtsverfahren aufgrund des Todes der Angeklagten eingestellt
Das Kiewer Berufungsgericht hat gestern ein Urteil in der Strafsache, die vom Sicherheitsdienst der Ukraine aufgrund der Tatsache des Genozids in der Ukraine in den Jahren 1932-33 eingeleitet wurde, gesprochen. Der Prozess zog sich über zwei Tage und im Endergebnis ordnete das Gericht eine Einstellung des Verfahrens in Verbindung mit dem Tod der Angeklagten an, darunter dem Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Allunions-Partei (Bolschewiki) Iossif Stalin (Dschughaschwili). Derweil bezeichnete das Gericht ihn und andere führende Bolschewiken als Hauptorganisatoren des Holodomors der 1930er Jahre.
Die Gerichtssitzung anlässlich der Klage des Sicherheitsdienstes der Ukraine wurde auf den frühen Morgen angesetzt. Im Eingangsbereich des Gerichts konnte man auf den elektronischen Monitoren unter den anderen Sachen lesen, die das Gericht an diesem Tag untersuchte: ??“Strafsache Stalin (Dschugaschwili), Molotow (Skrjabin), Kossior, Tschubar, Postyschew“.
„Schau, jetzt gibt es ein neues Nürnberg“, sagte einer der Journalisten einem anderen auf die Tabelle zeigend. Übrigens, war neben dem vorsitzenden Richter im Prozess, Wiktor Skawronik, dem Vertreter der Staatsanwaltschaft und Journalisten niemand anwesend. Der Erste Richter schlug der Vertreterin der Generalstaatsanwaltschaft, Olga Dazenko, vor aufzutreten. Sie erklärte, dass ihre Behörde meint, dass es notwendig ist diese Strafsache zu schließen, da die Protagonisten bereits im letzten Jahrhundert gestorben sind. Dazenko anhörend, verkündete der Richter eine Pause.
Im Mai 2009 begann der Sicherheitsdienst der Ukraine mit der Untersuchung der Strafsache zum Genozid auf dem Territorium der Ukraine in den Jahren 1932-33. Nach unterschiedlichen Schätzungen kamen im Ergebnis des Holodomors, der vom sowjetischen Regime in diesen Jahren hervorgerufen wurde, zwischen 3 und 7 Mio. Ukrainer um. Die Materialien der Ermittlungen, die vom Sicherheitsdienst durchgeführt wurden, summieren sich auf mehr als 250 Bände und zeugen davon, dass die Mehrzahl der menschlichen Todesfälle in diesem Zeitraum in Verbindung mit der „Entkräftung des Organismus und Erkrankungen des Magen-Darm Traktes stehen“.
Die erste Anhörung in dieser Sache begann am 12. Januar und dauerte etwa zehn Minuten. Wie bei dieser Anhörung ging es gestern nicht vor sich. Nach der Pause ging der Richter Skawronik sofort zur Verlesung des Urteils über.
“Im Namen der Ukraine untersucht das Berufungsgericht die Strafsache Stalin (Dschugaschwili), Molotow (Skrjabin) …“, verlas der Richter.
“Surrealistisch ist das“, flüsterte eine neben dem Berichterstatter des „*Kommersant-Ukraine*“ stehende junge Journalistin.
Die Veröffentlichung des Urteils zog sich etwa zwei Stunden. Zuerst begann Skawronik lang die Biografien der Personen in der Strafsache zu verlesen, zählte die Jahre und Orte ihrer Geburten und die Parteiposten auf. Der Version des Sicherheitsdienstes nach sind eben Stalin, Molotow, Kossior und andere sichtbare bolschewistische Führer schuld an der gewaltsamen Kollektivierung, die zum Massenhunger der Jahre 1932-33 führte. „Insbesondere wurde in den Ermittlungen festgestellt, dass Kossior die Strafkommandos gegen Ukrainer anführte, die sich nicht an der Politik der Partei der Bolschewiki beteiligten und sich zum Aufstand erhoben“, verlas der Richter. Dabei bezeichnete er die entsprechenden Befehle, die vom Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Allunions-Partei (Bolschewiki), Iossif Stalin, unterzeichnet wurden als „verbrecherisch“.
Der Hauptteil des Urteils war den Erinnerungen von Augenzeugen des Holodomors gewidmet, die während der Ermittlungen von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes gesammelt wurden. Wiktor Skawronik verlas etwa 50 Zeugnisse von Handlungen der sowjetischen Machthaber in der Ukraine in den Jahren 1932-33. Alle ohne Ausnahme zeugen davon, dass die Schuld am Holodomor eben jene in der Strafsache vom Sicherheitsdienst beschuldigten Personen haben. In die Strafsache wurden sogar die Erinnerungen des italienischen Konsuls in Moskau hinzugezogen, der in diesen schrieb, dass „der Hunger in der Ukraine einen künstlichen Charakter trug“. „Die Mehrzahl der Zeugen zeigten, dass die Vertreter der Partei der Bolschewiki, sich von den verbrecherischen Befehlen Stalins, Molotows und anderer leiten ließen, bei den Bauern das Brot beschlagnahmten und ebenfalls jene erschossen, die mit diesen Maßnahmen nicht einverstanden waren.“, setzte der Richter fort das Urteil zu verlesen. Andere Zeugen zeigten, dass eben Hunger auf dem Territorium der Ukrainischen SSR herrschte und in den benachbarten Republiken, beispielsweise der Belorussischen SSR keine Probleme mit Lebensmitteln aufkamen. Daneben wurden Stalin und andere Parteimitglieder der Bolschewiki der Bildung von Absperrkommandos der Vereinigten staatlichen politischen Verwaltung, OGPU (Nachfolgerin der Tscheka) beschuldigt, welche die hungernden Bauern nicht aus ihren Dörfern ließen. „Alles oben genannte zeugt davon, dass der Hunger von einer internationalen nicht-ukrainischen Gruppe (sic!) organisiert wurde, und eben gegen die Ukraine gerichtet war“, setzt Skawronik fort.
Zum Ende der zweiten Stunde verkündete der Richter endlich die Entscheidung. In dieser ist direkt gesagt, dass Iossif Stalin und die Mitstreiter in seiner Partei „absichtlich den Holodomor verursachten“, jedoch gemäß den ukrainischen Gesetzen können sie nicht verurteilt werden, da sie bereits tot sind.
„Schluss. Morgen kommt die Angelegenheit ins Archiv“, atmete Skawronik auf, auf den dicken Ordner mit Papieren zeigend, die er verlesen hatte.
„Moralisch schwer. Schwer. Gottbewahre davor, noch einmal eine solche Sache durchstehen zu müssen“, sagte der Richter und verließ den Sitzungssaal.
Artjom Skoropadskij
Quelle: Kommersant-Ukraine