Imagined Communities: Theorie und Praxis
Im Roman „Gelber Fürst“ (Roman von Wassyl Barka) mangelt es nicht an dramatischen Szenen, welche die Tragödie des Holodomor schildern. Allerdings handelt es sich in seiner prägnantesten Episode nicht um das Leiden der Opfer, sondern um die Motivation des Henkers. Ein Parteiaktivist spricht vor Bauern, die einen Plan für Getreidebeschaffung nicht erfüllt haben.
„Arbeiter, die unter der Fahne kämpfen!“, spricht Otrochodin deutlich aus.
„Arbeiter“ haben im seinem Kopf Anwesende mit harten Schwielen verdrängt, er meinte andere. Papiere mit Weisungen rochen nach dem April, als er träumte, wie glücklich die Arbeiter werden. Lange her, verschwommen. Aber ihre Denkweise und ihre Entwicklung regen Otrochodin an. In ihrem Namen stellt er Forderungen – messerscharf – an die Säer mit einem fremden Blick.
Es ist bequem zu denken, dass alle Verbrechen von notorischen Verbrechern begangen werden, die durch verbrecherische Absichten bewogen werden. Aber die Hauptgründe für den Holodomor und die anderen bolschewistischen Verbrechen waren eben offenes Streben nach Glück für das Volk und die Sorge um die Arbeiter, die durch die Revolution befreit wurden.
Der Weg zur Hölle ist zu oft mit guten Vorsätzen gepflastert. Der Kampf um Rechte verwandelt sich in Rechtlosigkeit, Befreiung wird zu Versklavung, Sorgen um Massen werden zu Massenhunger und Massenmord. Es gibt allgemein bekannte Präzendenzfälle wie die Katastrophe 1932-33 oder die Ereignisse in Kambodscha. Es gibt auch exotischere Beispiele. So wurde Äquatorialguinea 1968 von Spanien unabhängig.
Der erste Präsident Macias Nguema hat alle Parteien aufgelöst, eine totale Nationalisierung vollzogen, Zeitungen sowie das Wort „intellektuell“ verboten, Schulen, Bibliotheken und Kirchen außer Betrieb gesetzt, Zehntausende Menschen ermordet und ein Drittel von Landsleuten dazu gezwungen, vom Grauen gepackt aus dem Land zu flüchten. Als das Land die Unabhängigkeit erlangt hatte, artete es in ein großes Konzentrationslager aus. Die Nation hat ein fremdländisches Joch abgeschüttelt, aber beinah jeder Angehörige der Nation hat alle unter Spanien gewährten Rechte und Freiheiten verloren. Ist das ein Paradox? Ja, wie auch ein Massentod von Ackerbauern in einem Land der befreiten Arbeit.
Hilfreich für die Lösung dieser Paradoxa ist ein weiträumiger Begriff „Imaginäre Gemeinschaften“ – eingeführt vom britischen Historiker Benedikt Anderson, Autor des Buches „Immagines Communities: Reflexions on the Origins and Spread of Nationalism“.
Nach Anderson unterscheidet sich eine imaginäre Gemeinschaft von einer realen dadurch, dass sie auf der Bekanntschaft sowie auf der Kommunikation ihrer Mitglieder miteinander nicht beruhen kann. Dafür erhalten Mitglieder einer imaginären Gemeinschaft ein mentales Bild ihrer Ähnlichkeit aufrecht.
Ein typisches Beispiel ist die Nation, „da sogar Angehörige der kleinsten Nation die Mehrheit von ihren Brüdern in dieser Nation nie kennenlernen, treffen oder sogar von ihnen etwas hören werden, existiert das Bild ihrer Gemeinschaft bei jedem von ihnen in ihrem Bewusstsein“.
Mister Anderson schreibt über Nationen. Aber eine gleiche imaginäre Gemeinschaft waren auch „die Arbeiter“, deren Interessen der Genosse Otrochodin eifrig verteidigt hat. „Das Volk“, das von einheimischen Demagogen so geliebt wird, gilt auch als eine musterhafte imaginäre Gemeinschaft. Seine Vertreter kennen einander nicht und sind miteinander lediglich durch ein verschwommenes Bild ihrer eigenen Ähnlichkeit verbunden.
Öfters hören wir von den „Rechten des arbeitenden Volkes“, von einem „nationalen Befreiungskampf“ usw. Das Recht ist aber eine Möglichkeit, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln, und die Freiheit ist eine Möglichkeit der Wahl. Für Handlungen und Auswählen von gewünschten Optionen braucht man einen Willen. Woher kommt er bei imagined communities? Bei zahlreichen Menschen, die einander nicht begegnet sind und voneinander nie gehört haben? Wie kann diese Gemeinschaft eine Wahl treffen? Sie kann es nicht! Der Wille eines verallgemeinerten Volkes oder einer einheitlichen Nation wird sogar durch demokratische Wahlen nicht wiedergegeben – das ist der Wille einer bestimmten Anzahl von einzelnen Wählern.
Aus objektiven Gründen ist eine imagined community nicht fähig, Entscheidungen zu treffen. Deshalb kann weder das Volk, noch die Nation, noch jede andere imaginäre Gemeinschaft Rechte und Freiheiten besitzen – wie eine am Himmel ziehende Wolke es nicht kann, frei und rechtsfähig zu sein.
Fiktive „Rechte“ und „Freiheiten“ imaginärer Gemeinschaften besitzen ein riesiges Mobilisierungspotential. Für Phantome führen Millionen von Menschen, die einander unbekannt sind, einen gemeinsamen Kampf. Aber ihr Kampf verliert jeden Sinn, wenn reale Interessen jeder einzelnen Persönlichkeit dabei außer Acht gelassen werden. So haben etwa amerikanische Kolonisten, die für die Unabhängigkeit gekämpft haben, die Freiheit des Individuums und das Recht des Privateigentums sehr geschätzt.
Genau aus diesem Grund erwies sich die amerikanische Revolution als erfolgreich – im Unterschied zu vielen anderen revolutionären und nationalen Befreiungsbewegungen.
Angenommen, der Individualismus sei etwas anstößiges, und wir kämpfen ausschließlich für Interessen einer imaginären Gemeinschaft. Alles für das Volk, alles für die Nation, alles für die Heimat, alles für die Arbeiter! Was dann?
Es ist klar, dass dieser Kampf keinen abstrakten „Völkern“, „Nationen“ und „Arbeitern“, sondern konkreten Menschen, die im Namen der imaginated communities sprechen, Rechte und Freiheiten verleiht. Allen möglichen Führern, Generalsekretären und Leitern, verschiedenen Macias Nguemas, Idi Amins und Mao Tse Tungs sowie ihren Helfern. Sie erhalten das Recht, über fremde Schicksale zu verfügen. Sie gewinnen die Freiheit hinzurichten und zu begnadigen, einzusperren und in den Krieg zu treiben, Produkte der Arbeit anderen wegzunehmen und nach eigenem Ermessen zu verteilen.
Theoretisch ist dieses Modell nicht ganz schlecht: ein allmächtiger Führer, der sich mit seiner imaginären Gemeinschaft identifiziert, sich um ihren Wohlstand kümmert, und im Ergebnis gewinnen alle Menschen, die sich dieser Gemeinschaft anschließen. In der Praxis kommt es anders.
Nehmen wir eine wirkliche Gemeinschaft – etwa eine Familie, so verhütet hier der lebendige Kontakt zwischen Mitgliedern der Gemeinschaft vor der sinnlosen Grausamkeit. Man kann nicht ein Kind töten, indem man seinen Eltern erklärt, dass das zugunsten der Familie nötig ist. Das ist Absurdität, Nonsens, Unsinn.
Und für das illusorische Wohl einer imagined community kann man hunderte, tausende, sogar hunderttausende Mitglieder von ihr vernichten, ohne jemals seine eigene Richtigkeit zu bezweifeln. Im Rücken steht eine Menge von Menschen, die man niemals gesehen hat, nichts von ihnen gehört hat, aber deren Interessen man angeblich vertritt. Ein Häuflein von Ackerbauern verblasst vor dem Hintergrund von weit entfernten und abstrakten „Arbeitern“. Leicht verdrängt ein verschwommenes Bild einer imaginären Gesellschaft lebendige Menschen.
Sobald Scheininteressen der vorgestellten Gemeinschaften zum Selbstzweck werden, kommt es zu paradoxen Ereignissen. Arbeiter lässt man für das Glück der Arbeiter hungern. Das Volk wird einem Terror ausgesetzt, um es von Feinden des Volkes zu erlösen. Khmer werden im Namen der großen Khmernation massenweise vernichtet. Millionen Deutsche treibt man für Großdeutschland in den Tod. Die pompös von der Unterdrückung befreiten Menschen verlieren ihre Freiheit, ihr Vermögen, ihr Leben.
Die meisten großen Tragödien des 20. Jahrhunderts haben einen ähnlichen Hintergrund: reale Rechte und Freiheiten von lebendigen Menschen wurden durch fiktive Rechte und Freiheiten der imaginären Gemeinschaften völlig verdrängt. Einen wesentlichen Beitrag zu diesem Prozess haben leider nicht nur wahnsinnige Lustmörder und Sadisten, sondern auch Humanisten mit guten Absichten geleistet.
Dag Hammarskjöld war z. B. ein wunderbarer Mensch, glaubte aber ehrlich an Rechte und Freiheiten für Völker und Nationen. Dieser Glaube hat das Verhältnis der UNO zur Dekolonisierung Afrikas vorbestimmt. Töten weiße Kolonisten schwarze Afrikaner – so ist ein Einschreiten dringend nötig! Es handelt sich um heilige Rechte einer imaginären Gemeinschaft!
Aber wenn Afrikaner schwarze, weiße, asiatische Menschen töten – ist alles in Ordnung. Die imaginäre Gemeinschaft kämpft für die Freiheit oder löst ihre internen Probleme. Das ist ihr Recht! Das reale menschliche Leben und Tod machten Platz für ideologische Abstraktionen, und, durch Vereinte Nationen gesegnet, versank der ganze Kontinent in einem Blutbad…
Während die imaginären Gemeinschaften den lebendigen Menschen gegenübergestellt werden, verursachen sie nicht unbedingt viel Blut, provozieren aber immer viel Phantasmagorie. Die heutige Ukraine ist keine Ausnahme.
Die Lage mit Rechten und Freiheiten in unserem Land scheint immer schlechter zu werden. Aber man braucht nur die verzerrte Logik der imagined community zur Hilfe rufen, und schon entsteht ein gegenteiliges Bild. Die freiheitsliebende Ukraine lässt sich durch den Westen nicht erpressen! Wir tanzen nicht nach einer fremden Pfeife! Wir gestatten fremden Herren nicht, sich in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen! Wir lassen den niederträchtigen Teutonen nichts durchgehen! Wir sind keine Sklaven der Europäischen Union – wir sind frei, stolz und unabhängig! Ungefähr so versuchen regierungsnahe Massenmedien die Geschehnisse zu deuten.
Die Befreiung liegt aber auf der Hand! Mehr Freiheit hat keine abstrakte und verallgemeinerte Ukraine bekommen, sondern ein einziger konkreter Mensch – Wiktor Fjodorowitsch Janukowitsch. Heute handelt er so, wie er es will, ohne auf jemanden Rücksicht zu nehmen. Und es gebührt glühenden Schützern des Volkes und Verfechtern der Nation nicht, einen despotischen Präsidenten zu tadeln. Denn Janukowitsch hat lediglich nur ihren sehnlichsten Traum verwirklicht: im Namen der imaginären Gemeinschaft zu sprechen und zu handeln.
28. November 2011 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda