Im Jahr 1908 schrieb der überzeugte Sozialist Jack London seinen Roman „Die eiserne Ferse“ über schlechte Oligarchen, kühne Revolutionäre und über die kommende Ära der Verbrüderung der Menschen.
Mit dem Versuch einen Rückblick eines Menschen aus der Zukunft über die vergangenen, düsteren, rückständigen kapitalistischen Zeiten zu modellieren, zeichnete der Schriftsteller ein klares Bild: „Noch zu jener Zeit wurden Sahne und Butter in roher Weise aus Kuhmilch hergestellt. Die chemische Herstellung der Nahrungsmittel hatte noch nicht begonnen.“
Dem fortgeschrittenen Amerikaner eiferte der nicht weniger fortgeschrittene sowjetische Autor der zwanziger Jahren nach: „Ich denke, mit der Zeit werden wir Fabriken für künstliches Essen haben, sowie es jetzt Fabriken für Kunstseide oder synthetischen Kautschuk gibt. Im Restaurant werden Sie ein Kotelett aus Fleisch, das aus dem Labor kommt, und ein Glas Milch, die ohne Hilfe von Kühen entstand, bestellen können.“
Wie seltsam es auch klingen mag, aber am Anfang des XX. Jahrhunderts dienten die jedem verfügbaren synthetischen Lebensmittel als Zeichen der freudigen Zukunft. Heute ist der ehemalige Traum zur Wirklichkeit geworden. Wo ist nur der heitere Beifall geblieben?
Eine ähnliche Geschichte geschah mit der ukrainischen Regierung. Erinnern wir uns an unser Land zum Ende des Krisenjahres 2008. Das den Mut verlierende Volk ermüdete wegen der unendlichen Ränke und Zänke auf den Hügeln des Kiewer Stadtteils Petschersk. Die Bürger waren über die Frechheit, Straflosigkeit und gegenseitigen Deckung der politischen Elite empört. Die Menschen träumten von einem starken Mann, die Parteivorsitzenden spielten mit ihren Muskeln vor dem Publikum und sogar der Brillenträger Arsenij wollte in Gestalt eines muskulösen Supermanns auftreten.
Tja, wenn nur irgendein Hellseher den Ukrainern damals Freude bereiten könnte! Er hätte uns dann erzählen können, dass sehr bald strahlende Zukunft eintreffen wird, dass ein starker Führer eine eiserne Vertikale der Macht aufbaue, dass bekannte Staatsdiener hinter Gitter kommen würden, bis zu ehemaligen Ministern und Premierministern.
Dieses idyllische Bild hätte alle zufrieden gestellt: Die Donezker- und die Galizier, die Linken und die Rechten, die prorussischen und die Nationalisten. Und keiner hätte ahnen können, dass die Zukunft eine Falle stellen würde, genau wie die berüchtigten künstlichen Lebensmittel.
Vor drei Jahren galt die Schwäche als Hauptnachteil des damaligen Staatsoberhaupts und der Hauptgrund für die nationalen Misserfolge. In Wirklichkeit hatte Viktor Juschtschenko einen Hauptmakel – seine mangelnde Eignung. Leider ist diese Eigenschaft vielen Persönlichkeiten der ukrainischen Elite eigen, einschließlich Präsident Janukowitsch. Selbst die Atmosphäre der erhabenen Kabinette – das süßliche Machtgefühl, die dienstbeflissenen Untergebenen, die geschliffenen Arbeitsberichte – dienen der Realitätsentfernung und Verschließung in einer eigenen virtuellen Welt.
Das eigene Universum von Viktor Juschtschenko bestand aus Kochtöpfen der Bandkeramik-Kultur und Holodomor-Denkmalen. Und zum Universum von Viktor Janukowitsch gehören die Schwimmbäder und Tennisplätze in Meshihorje (Wohnsitz des Präsidenten A.d.Ü.). Über Geschmack lässt sich nicht streiten.
Etwas anderes ist viel wichtiger. In der realen Welt wurden die Ideen von Juschtschenko ignoriert oder sabotiert, deswegen hat er dem Staat weniger Schaden eingerichtet als er konnte. Die Einfälle vom starken Janukowitsch werden sofort ausgeführt, und sein schädlicher Wirkungsgrad nähert sich der Eins. Der Millionenstaat wurde zum Geisel der Launen und Phobien eines einzelnen Menschen, der in einer Parallelwelt lebt.
Die politische Kraftlosigkeit von Viktor Juschtschenko war kein Übel, sondern das Heil für unseren Zustand. Sie erzeugte die natürlichen Hemmungen und Gegengewichte, sorgte für eine schwächliche Balance der Kräfte und freien Wettbewerb. Das alles wurde mit dem Machtantritt eines langersehnten Häuptlings ohne viel Federlesens zerstört.
Dank der Anstrengungen des mächtigen Janukowitsch wurden die Sicherheiten vernichtet, mit deren Hilfe der Machtwechsel in der Ukraine vergleichbar friedlich und schmerzfrei verlief. Die Abrechnung mit Julia Timoschenko brachte den politischen Kampf auf eine neue und ziemlich gefährliche Stufe. Und genau das wollten Millionen von Bürgern!
Genau diese Elite hinter dem Gitter zu sehen war die Idee fixe der Nation in den Jahren 2008 und 2009. „Auf die Pritschen mit ihnen, den Halunken, auf die Pritschen!“ Der Stein kam ins Rollen – ich gratuliere Ihnen!
Die harte Verhaftung von Lady Ju begeisterte ihre Feinde im Süd-Osten leider kaum. Die Bestrafung der verfluchten „Diebin Julka“ hat das Leben der Donezker Massen nicht verbessert und rettete das Rating der Regierung noch vorm Sinken.
Der Timoschenko-Prozess war das zentrale Ereignis des Jahres. Über die Richter-Marionette, den Herrn Kirijew, brach der verdiente Schimpfsturm herein. Man vermute, dass viele Kritiker nicht über die Abhängigkeit des Dieners der Themis empört waren, sondern über seine abhängige Haltung gegenüber dem „schlechten“ Janukowitsch. Ohne Tadel ist keiner: Die ukrainische Gesellschaft hat noch nie eine unabhängige Justiz eingefordert.
Sogar ziemlich fortgeschrittene Bürger hielten die Judikative für den Anhang der Exekutiven. Es wurde gemeint, dass der starke und gerechte Präsident eigenhändig die Diebe und Gangster einsperren solle. In 2011 konnten wir sehen, wie dieses Modell in der Praxis funktioniert. Zu den schlimmsten „Banditen“ sind selbstverständlich die politischen Gegner der Bankowaja Straße (Sitz der Administration des Präsidenten A.d.Ü.) geworden. Und aus der Sicht des starken Präsidenten ist es absolut gerechtfertigt.
Im Übrigen haben nicht nur Regimegegner einen Platz auf den Gefängnispritschen gekriegt. Es gab Zeiten, wo die Massen sich über die Straflosigkeit des bösen Losinskij (ehemaliger Abgeordneter des Blocks Julia Timoschenko, der einen Dorfbewohner erschoss A.d.Ü.) empörten. In dem sich dem Ende neigenden Jahr bekam der Abgeordnete–Mörder fünfzehn Jahre Gefängnisstrafe. Wo ist die heftige Freude? Sie ist nicht da. Denn mit der Einsperrung von Losinskij hat sich in der Ukraine nichts verbessert.
Die Verhaftungen von Sündenböcken aus der Reihe der Direktmandatsträger und korrupten Beamten werden auch nichts verändern. Das Problem liegt doch nicht an den Herren Landik (Roman Landik verprügelte in einem Restaurant eine Frau und sitzt derzeit in Untersuchungshaft, sein Vater ist Parlamentsabgeordneter A.d.Ü.) oder Galizkij (Wladimir Galizikij ist der ehemalige Chef des „Arbeitsamts“. Bei ihm wurden im Arbeitszimmer Wertsachen und Bargeld im Wert von 7,5 Mio. Dollar gefunden A.d.Ü.), sondern am System selbst. Die Rechtsprechung, die von Hand gesteuert wird, sieht nur musterhafte Schauabrechnungen mit einzelnen Spielverderbern vor.
Was gehörte noch zum Gentlemen-Set eines idealen ukrainischen Führers? Strikte Kontrolle über den wirtschaftlichen Bereich? Die Fähigkeit mit dem Großkapital fertig zu werden? Eine stürmische Kampagne im Kampf gegen die Korruption? In allen diesen Aspekten ist Viktor Janukowitsch seinem Vorgänger überlegener.
In dem zu Ende neigenden Jahr hat die Regierung eindeutig dem Kapital gezeigt, wer im Lande der König sei.
Der kleine Beamte jagt dem kleinen Unternehmer Angst ein, vor dem großen Beamten zittert das große Business, und der auf fünf Jahre gewählte Präsident ist mächtiger als jeder Oligarch-Milliardär. Kein Geld der Welt schützt den inländischen Geldsack vor dem Zorn der Bankowaja.
Aus Angst vor Unannehmlichkeiten schließt der Oligarch Kolomjskij seine eigene Zeitung, und der Oligarch Shewago bereitet sich auf die Evakuierung nach London vor. Wenn Achmetow mit der Zeit in Ungnade fällt und gezwungen sein wird einige Aktiva der Familie Janukowitsch abzugeben, wird diese Wendung das Volk kaum überraschen.
Mit einem ordentlich aufgepumpten Bizeps und unter der gemeinsamen Parteiflagge betreiben die regierenden Bürokraten die Neuverteilung des Eigentums. Die unter Druck gesetzten Unternehmen vermissen die Zeiten, wo man zwischen den konkurrierenden zwei Machtzweigen lavieren konnte. Die Eigentumsrechte sind in Nichts verwandelt worden. Investoren schrecken vor der Ukraine zurück, wie vor einem Leprakranken. Und das Land rutscht immer weiter nach unten, nach allen möglichen Ratings. Das vorhergesagte „Ausbrennen der Korruption mit glühenden Eisen“ stellte sich als banale Suche nach Weichenstellern heraus. Anders konnte es gar nicht laufen.
Die Politik Janukowitschs verstärkte logischerweise die Korruption: Diese Pufferzone zwischen dem administrativen Druck und lebenswichtigen Tatsachen. Gleichzeitig mit der Monopolisierung der Macht ist der Markt der korrupten Dienstleistungen monopolisiert worden, was zur automatischen Erhöhung der Tarife führte.
Das Jahr 2011 erfüllte viele Erwartungen des Volkes: eine stärkere Konzentration der Macht, mehr Kontrolle, eine stärkere staatliche Einmischung in die Wirtschaft, mehr Verhaftungen und Urteile. Doch was für ein Missgeschick: Die allgegenwärtige Steigerung verschärfte eindeutig die inneren Misstände und Mängel.
Interessant ist es auch, dass die heutige traurige Erfahrung die gesellschaftliche Anforderungen kein bisschen beeinflusst hat. In der Ukraine wird weiterhin ein eiserner Führer benötigt, der alle strammstehen und dem leisesten Wink gehorche ließe, der die Wirtschaft und Rechtsprechung eigenhändig steuern würde, der die Schlechten einsperren, und deren Eigentum gerecht verteilen würde.
Das Wichtigste ist, dass dieser hervorragende Anführer nicht aus dem Donbass stammen und nicht Viktor Janukowitsch heißen solle. Und dann gehen bestimmt alle innigen Träume der Ukrainer in Erfüllung!
31. Dezember 2011 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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