Interview mit dem Historiker Jurij Woloschyn: „Die Kosaken waren keine Patrioten des russischen Staates“


Der renommierte Fachmann für die Geschichte des Hetmanats und für historische Demografie Professor Jurij Woloschyn von der Nationalen Pädagogischen Korolenko-Universität Poltawa veröffentlichte 2016 die Monografie „Kosaken und die Pospolita: Die Stadtgemeinde Poltawa in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts“. Als er in einem der Kapitel seiner Arbeit die Konflikte und ihre Lösung beschreibt, gelangt der Autor zu einem weiteren interessanten Gegenstand, dem System der Gerichtsverfahren im Hetmanat. Eben diesem widmet sich sein neues Buch. Die Veröffentlichung von „Kosaken-Themis“ (Kyjiw, Verlag K.I.S.) [Themis – die antike Göttin der Gerechtigkeit und Ordnung, Anm. d. Ü.] kam gerade vor kurzem auf den Markt. Im Interview mit ZAXID.NET erzählt Jurij Woloschyn über die Reform der Gerichte in der „alten Ukraine“, ihre Zuständigkeit und die Bildung der Rechtskultur in der damaligen Gesellschaft.

Rechte und Freiheiten/Privilegien über alles

Womit war die, wie Sie eingestehen, schüchterne, Reform der Gesellschaft im Hetmanat verbunden, die auf Initiative von Kyrylo Rosumowskyj durchgeführt wurde?

Die im Herbst 1763 eingeleitete Justizreform von Hetman Rosumowskyj war durch Veränderungen in der damaligen Gesellschaft bedingt. Es geht hier um den Zustand der Isolierung der sogenannten neuen ukrainischen Szlachta (des Kleinadels), die sich aus den Kosakenältesten und der früheren Szlachta gebildet hatte, die zu den Kosaken zum Dienst hinzugestoßen war und im Hetmanat sich einwurzelte. Es ist kein Geheimnis, dass in der Zeit seines Bestehens das wesentliche Gesetz das Litauische Statut von 1588 war. Dies wird insbesondere durch die Bücher der Stadtregierungen, die bis heute erhalten sind, und durch Gerichtsprotokolle belegt.

Im 18. Jahrhundert erfolgte es eine Schichtung der Gesellschaft. Die Verschlossenheit des Adelsstands wird offensichtlicher und greifbarer. Dies machte eine Standardisierung erforderlich. Der erste Versuch in diese Richtung wurde 1735 unternommen, als die „Rechte, nach denen das kleinrussische Volk Gerichtsurteile fällt“, veröffentlicht wurden. Die Gesetzgebung wurde bereits unter Hetman Danylo Apostol [1727-1734 Hetman der linksufrigen Ukraine, Anm. d. Ü.] reformiert. Anschließend wurden mehrere wichtige Dinge getan. Zunächst wurde das Litauische Statut übersetzt. Zweitens wurden zwei Ausgaben des Magdeburger Rechts übersetzt und herausgegeben, durchgeführt von dem Lwiwer Advokaten Pawlo Schtscherbytsch und dem polnischen Juristen Bartłomiej Groicki. Dies erleichterte ihre Verwendung erheblich.

Es sollte angemerkt werden, dass die Kosaken Ansprüche auf Adel besaßen. In diesem Zusammenhang findet ein Reformversuch statt, insbesondere auch der Justiz. Seit der Zeit von Hetman Kyrylo Rosumowskyj beschloss man, die alten Gerichte zurückzugeben: die Straf-, Zivil- und Landstreitigkeitsgerichte [Sąd grodzki, Sąd ziemski, Sąd podkomorski], die nach dem Litauischen Statut registriert waren. Der Historiker Oleksej Putro schrieb in einem seiner Artikel, dass die Reform von Rosumowskyj legitimiert oder bestätigt hat, dass das gesamte Kosakentum ein Rittertum und somit ein Adel ist. Im Wesentlichen, so schrieb der Historiker, adelte der Hetman das gesamte Kosakentum, obwohl es ihm nicht darum ging.

Die Reform der Justiz wurde durch soziale Bedürfnisse und Versuche ausgelöst, diese Gesellschaft irgendwie zu verändern. Ich würde es nicht aufklärerische Reformen nennen, die damals im Russischen Reich stattfanden. Meiner Meinung nach entwickelten sich die Prozesse in der „alten Ukraine“ in die entgegengesetzte Richtung, was dem in der Rzeczpospolita, also Polen-Litauen existierenden System entsprach. Rechte und Freiheiten waren eine „Spezialität“ des gesamten Hetmanats. An sie hielt man sich. Warum eigentlich wurde diese Ausrichtung an Russland, an das Moskauer Zarenreich, trotz verschiedener Versuche, einschließlich der Union von Hadjatsch, nie gebrochen? Weil alle Zaren, auch Peter I., die Rechte und Freiheiten der Kosaken garantierten.

Wir können viel über die Attackierung dieser Rechte und die Einschränkungen der außenpolitischen Aktivität sprechen, aber die russischen Herrscher garantierten die Einhaltung der genannten Punkte. Damit das Hetmanat dem Reich treu blieb, mussten die Rechte und Freiheiten gesichert werden, was der polnische König und der Sejm nicht konnten. Stattdessen haben die Moskauer Zaren – intuitiv oder ausdrücklich – ständig darauf geachtet.

Die Kosaken waren keine Patrioten des russischen Staates. Für sie war der Staat nicht wichtig. Der Zar war von großer Bedeutung. Er war es, der ihre Rechte garantierte. In diesem System könnte ein autonomes oder quasi-autonomes Gebilde nicht existieren, wenn es keinen direkten Zugang zum Landesherrn gäbe. Zunächst war dies ein König. Mit ihm stritten sie sich und entzweiten sich, und dann erschien der Zar.

Wie wurde das neue Justizsystem gebildet und wie hat sich seine Funktionsweise verbessert?

Die Historiker Dmytro Miller und Oleksandr Lasarewskyj stellten fest, dass der Prozess der Bildung von Gerichten im Hetmanat langwierig war. Beispielsweise musste die Zuständigkeit der Regimentsgerichte ermittelt werden, die alle Fälle leiteten. Entsprechend zeitaufwendig war die Bevollmächtigung der Gerichte und ihrer Struktur. Wie effektiv ein solches System war, ist schwer zu sagen. Aber anscheinend hatte es eine gewisse Wirkung, denn es gab eine Kultur der Klagen vor Gericht, die sich später im neunzehnten Jahrhundert zur berühmten kleinrussischen Prozesssucht entwickelte.

Manchmal verzögerten die Gerichte einige Prozesse. Jemand ist bei der Gerichtsverhandlung nicht erschienen. Der Wosnyj oder Minister, der die weitreichenden Befugnisse von Polizei, Gerichtsvollzieher und sogar Gerichtsarzt vereinte, musste den Angeklagten dreimal aufrufen. Er reichte entweder persönlich eine Eingabe an das Gericht ein oder in Gegenwart von Zeugen, „guten Leuten, Gutgläubigen“, und hinterließ diese Vorladung auf dem Grundstück auf der Erde. Und nur wenn der Beschuldigte dreimal nicht vor Gericht erschien, wurde die Sitzung ohne seine Teilnahme abgehalten.

Nach welchem Prinzip wurde die Zusammensetzung des Stadtgerichts von Poltawa gebildet? Was waren, modern gesprochen, die Kriterien für die Integrität der Amtsträger der Kosaken-Themis?

Im Wesentlichen doublierten die Stadtgerichte in ihrer Zusammensetzung die Regimentsgerichte. Dort tagten hochrangige Regimentsoffiziere, und Vorsitzender des Gerichts war der Oberst. In Poltawa war das Iwan Kowanko. Nach dem Litauischen Statut sollten die Mitglieder des Gerichts gute Menschen, fromm, keusch, würdig und rechtskundig sowie schreibkundig sein. Alle Mitglieder des Gerichts sollten einen Eid darauf schwören, dass sie fair urteilen würden. In dieser Hinsicht ist Andrij Runowskyj, der Regimentswagenmeister, ein sehr interessantes Beispiel für soziale Mobilität. Er war der Sohn eines Priesters aus Perejaslaw, absolvierte die Kyjiwer Mohyla-Akademie, wurde aber kein Geistlicher. Runowskyj ging zum Büro des Generalstabs und leitete es sogar für einige Zeit. Anschließend wurde er Regimentsschreiber und Regimentswagenmeister von Poltawa. Dieser Mann hatte viele Höfe in Poltawa und viel Land außerhalb der Stadt. Runowskyj machte damals eine recht erfolgreiche Karriere. Und sein Sohn wurde auch ein Regimentswagenmeister.

Welche Fragen und sozialen Gruppen wurden von der Zuständigkeit des Stadtgerichts abgedeckt?

Im Stadtgericht wurden freie, angesehene und anständige Menschen vor Gericht gestellt. Da die Kosaken Ritter waren, waren sie sicherlich angesehen und anständig. Von der Gesamtzahl der von mir analysierten Klagen reichten 66 Prozent der neue Adel ein, vom sehr kleinen bis zum hohen. 24 Prozent sind von gewöhnlichen Kosaken. Folglich wurden 90 Prozent der Klagen von Vertretern des herrschenden Standes eingereicht. Es geht im weitesten Sinne um Kosaken. Oft ist in den Gerichtsdokumenten eine Demonstration der Identität der Adligen gegenüber den einfachen Kosaken zu sehen. Zum Beispiel, wenn der Gerichtsvorsteher von den Opfern Prügel empfing, dann tat er dies in Gegenwart des Adels, was in der Praxis der Kosaken der Poltawaer Hundertschaft bedeutete. Die übrigen Angeklagten waren nach meinen Berechnungen russische Aristokraten und Geistliche. Bauern wurden im Kosakengericht nicht vor Gericht gestellt.

In der Zuständigkeit der Stadtgerichte gibt es zwei Aspekte: „Kleinere Fälle, ohne Blut, wo es nicht an die Kehle geht“ (zivile) und „so blutige Fälle, wo es um Strafen an die Kehle, Halsgerichtsbarkeit geht“ (kriminelle). In der Sprache der Quellen handelt es sich um Petitionen und Straffälle. Bei der Betrachtung jedes einzelnen von ihnen wurden unterschiedliche Gesetze angewendet. In zivilrechtlichen Fällen beklagten sich die Opfer, die diejenigen beschuldigten, die ihnen Schaden zugefügt hatten. In den Kriminalfällen waren staatliche Institutionen oder jemand von hohen Beamten Kläger. Meiner Meinung nach war dies ein Versuch, Gewalt zu kontrollieren und das Monopol für deren Anwendung auf den Staat festzulegen.

Gestaltung der Identität

Von welchen Rechtsnormen zusätzlich zum dritten Litauischen Statut ließen sich die Gerichte des Hetmanats in der Praxis leiten?

In den meisten Fällen stützten sich die Stadtgerichte auf die Normen des Litauischen Statuts. In Zivilsachen sind es fast 88 Prozent, in Strafsachen 38 Prozent. Darüber hinaus gab es eine Kombination von juristischen Normen, die das Magdeburger Recht, das „Buch der Ordnung“ [Book of Orders von 1631] und „die höchsten Anordnungen“ seiner Kaiserlichen zaristischen Majestät einschlossen. Letzteres kann man als Versuch des zaristischen Reiches interpretieren, seinen Einfluss auf das Justizsystem des Hetmanats zu erweitern. Diese Dekrete dienten allerdings nur der Milderung des Urteils. Um so mehr, wenn die Frage die Todesstrafe betraf, dem strengen Litauischen Statut folgend durch die Verbannung ersetzt wurde.

Im Russland des 18. Jahrhunderts wurde die Todesstrafe nicht praktiziert. Nachdem die Kaiserin Jelisaweta Petrowna die Kiewer Heiligtümer besucht hatte, wurde diese Strafe mit einem Moratorium belegt. Diese Linie wurde von Katharina II. fortgeführt. Nur zwei Verbrecher wurden hingerichtet – der Anführer des großen Kosakenaufstands Omeljan Puhatschow [Jemeljan Pugatschow] und der Organisator des Staatsputsches Wassili Mirowitsch. In der örtlichen Gemeinde ging es den Richter nicht darum, dass jemand hingerichtet werden sollte. Stattdessen wurden die Täter zur ewigen Verbannung nach Sibirien geschickt oder körperlich bestraft.

Wie verbreitet war das Hinzuziehen von Anwälten, die zu dieser Zeit als Prokuratoren (Staatsanwälte) oder Rechtsbeiständen bezeichnet wurden? Wie wurde der Verhandlungsgrundsatz zwischen den Parteien gesichert?

Wenn wir uns die Gerichte des Hetmanats ansehen, haben wir ein komplettes Gerichtsverfahren, ähnlich dem europäischen. Während des Verfahrens gab es eine Verhandlung. Antragsteller erschienen möglicherweise nicht zum Prozess und vertrauten die Vertretung ihrer Interessen Anwälten an, die eine wichtige Rolle gespielt haben. Es scheint mir, dass ein Zivilprozess ohne Anwälte tatsächlich unmöglich war.

Es gibt keine Zeugnisse dafür, dass man um Anwalt zu werden irgendwo studierte. In der Regel waren sie Kanzleiangestellte verschiedener Institutionen. So vertrat die Interessen des Bürgermeisters von Poltawa Pawlo Rudenko vor Gericht der Magistratsschreiber Petro Kotljarewskyj, der Vater des Klassikers der ukrainischen Literatur.

Anwälte arbeiteten nicht kostenlos. Man traf mit ihnen eine Vereinbarung. Sie erhielten damals eine Menge Geld, etwa 60 Rubel pro Jahr. Iwan Bachtin, der Anwalt aus Hluchiw, der die Interessen des ehemaligen Generalrichters Jakiw Sulyma vertrat, schlug seinem Klienten vor, „den Richter mit einer Summe günstig zu stimmen“, um den Prozess zu gewinnen.

Wie wirkte sich die imperiale Modernisierung auf das Rechtssystem des Hetmanats und die Rechtskultur seiner Bewohner aus?

Das Hetmanat hatte eine einzigartige Rechtskultur, bevor Katerina II. mit aufklärerischen Reformen begann. Es gibt große Diskussionen darüber, wie diese Veränderungen in der „alten Ukraine“ Wurzeln geschlagen haben. Meine sehr subjektive Meinung ist, dass die Justizreform Rosumowskyjs daran erinnert, wie heute öffentliche Anhörungen des Parlamentarischen Ausschusses für Bildung und Wissenschaft stattfinden: streicht eure Innovationen, damit wir leicht Dozenten und Professoren werden können, wir brauchen kein Englisch. Und dann führte dies zur Rückkehr zum alten Justizsystem, das bereits vor [Bohdan] Chmelnyzkyj war.

Zwar hat die Justizreform im Hetmanat die Arbeit der Gerichte etwas klarer gemacht. All dies basiert jedoch auf dem Dritten Litauischen Statut, einem Recht, auf das sich die sogenannten russischen Woiwodschaften Polen-Litauens, der Rzeczypospolita, stützten. Dies war kein Modernisierungsprozess, sondern eine Konservierung des Alten. Die Kosakenältesten und die gemeinen Kosaken suchten ihre Rechte und Freiheiten zu behaupten, die weitgehend den Rechten in der Rzeczpospolita ähnelten.

In dieser Zeit entsteht die kleinrussische Identität, die auf dem Chasaren-Mythos und der Wahrung von Rechten und Freiheiten basiert. Dies ist wiederum eine Modernisierung des unter den polnischen Adligen verbreiteten sarmatischen Mythos. Besonders deutlich belegen dies Porträts der Kosakenobersten im sarmatischen Stil. Die Kosaken hatten ihre eigene Geschichte (die Chroniken von Hryhorij Hrabjank, Samijlo Welytschko und Samowydez), ihr eigenes Rechtssystem und ihre eigene Identität. Das heißt, alle Attribute einer vormodernen Nation. Ich denke, dass die Kosaken nicht in den Trend der europäischen Aufklärung fallen. Sie hatten ihre eigene Sicht.

6. Juni 2019 // Serhij Schebelist

Quelle: Zaxid.net

Übersetzer:    — Wörter: 1912

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