Es scheint so, dass man das niederschmetternde Märchen darüber, dass es dort, wo zwei Ukrainer sind, drei Hetmans [Anführer] gibt, vergessen muss. Und die Sache ist nicht die, dass es keine Interessenten für die Bulawa [Streitkolben] des Hetmans gibt. Die Rede geht davon, dass es keine Figuren gibt, die versuchen würden, die Gesellschaft um gemeinsame Ideen und ein klar bestimmtes Ziel zu einen. Die einen Konsens anstreben und nicht versuchen, über Spaltung und Konflikt an der Macht zu bleiben oder an die Macht zu gelangen. Alle Ehemaligen und diejenigen, die darauf Anspruch erheben, nicht auf das Niveau eines Hetmans, sind kleiner, Atamane und Atamanchen. [Das ukrainische Otaman entspricht dem aus dem Russischen ins Deutsche übernommenen Ataman und steht einerseits für einen Kosakenanführer, andererseits für einen Bandenchef vor allem im russischen Bürgerkrieg auf den sich der Autor bezieht. A.d.Ü.] Und vermehrt haben sie sich über die fehlende Zentralgewalt und die Schwäche der Regierungsinstitutionen.
Denn wer sind diese Atamane? Das sind Menschen des Führertyps, die das Momentum ausnutzten und versuchten ihre persönliche Führerschaft über ein gewisses Territorium und Menschen zu festigen. In der Regel tauchten Atamane dort auf, wo es ein Vakuum der Zentralmacht gab. In der Regel waren sie wenig langlebig und fraßen sich gegenseitig auf. Es brauchte nur eine Kraft auftauchen, die in der Lage war die Anarchie zu beenden und Fügung einzuführen, wie die Aufrührer und Aufständischen auseinanderliefen und das Geraubte versteckten. Einige versteckten sich und andere waren gezwungen sich in die neue Regierung zu integrieren, mit dieser ihre Beute teilend.
Und hier geht es nicht nur um die Zeiten der Ukrainischen Revolution [circa 1917-1921] und des Bürgerkriegs [1917-1922] , als alle gegen alle kämpften, sondern auch um die Zeit nach 1991. Wir sprechen kein großes Geheimnis aus, dass die Kiewer Regierung niemals auf der Krim als auch im Donbass ankam. Und das ist keine Rechtfertigung weder für die russische Annexion der Krim noch für den von der Russischen Föderation im Donbass entfesselten Krieg. Wo es dünn ist, dort bricht es. Wenn die ukrainische Regierung auf der Krim irgendeine Stütze gehabt hätte und nicht situative Bündnisse zur Verwaltung mit den örtlichen Banditen geschlossen hätte, dann hätte man um die Halbinsel kämpfen können. Und daher kam es so, dass als Russland in den „Heimathafen“ lockte, es auf der Krim praktisch keinen ukrainischen Staatsapparat gab, und die Geheimdienste, die für die Sicherheit und Souveränität des ukrainischen Territoriums hätten sorgen können, gingen beinahe komplett in den Dienst des Feindes über.
Der Hybridkrieg Russlands rechnete mit der Ausrufung nach historischen Analoga von so genannten Volksrepubliken. Um sozusagen die Idee der Souveränität und des Rechts auf Selbstbestimmung komplett ins Absurde zu führen. Und dass die „Volksrepubliken“ in Charkiw, Saporischschja und Odessa im Geburtsprozess scheiterten, meint man bei uns nicht auf das schlechte Beispiel Donezks und Luhansk zurückzuführen, sondern auf das Fehlen von separatistischen Kräften in diesen Regionen, auf erfolgreichen Widerstand von Patrioten und rechtzeitige Maßnahmen Kyjiws. Zum Glück hat Russland die Liebe zu sich und die Bereitschaft der Bürger des Südens und Ostens der Ukraine, ihr Leben in eine „neurussische“ Hölle zu verwandeln, überschätzt.
Die Ukraine hat überlebt, obgleich in zurechtgestutzter Form. Separatismus und Atamanentum kamen nicht durch. Doch was haben wir in Wirklichkeit? Die moderne Ukraine erinnert an eine postsowjetische feudale Schöpfung, die so tut, als ob sie eine moderne Demokratie sei. Es ist banal, aber eine Demokratie ist kein Alleserlaubtsein. Diese Behauptung kennen alle und nutzen diese in der Regel, wenn es darum geht, die Basis für die Realisierung irgendeines autoritären Projekts zu legen. Doch in Wahrheit sieht alles anders aus. In der Ukraine gibt es hinreichend wenig Demokratie, doch sehr viel Anarchie. Sie ist aufgeteilt in eigene feudale Lehngüter, die von örtlichen „Autoritäten“ und auf der Ebene des gesamten Landes von Oligarchengruppen gehalten werden.
Sein Schärflein zur ukrainischen zerrüttenden Anarchie hat, fraglos, auch der Krieg beigetragen. Insofern die ukrainische Armee zu Beginn der Aggression verteidigungsunfähig war, so musste man sich mit allen möglichen Mitteln retten. Darunter der Schaffung von Freiwilligenbataillonen unter dem Kommando von verschiedenen neuartigen Atamanen. Die Geschichte der Freiwilligenbataillone, des „Rechten Sektors“ und später des Nationalkorps und der Nationalen Folgschaften/Druschyni, ihre Unkontrolliertheit und Selbstherrlichkeit verdienen eine ernsthafte Untersuchung. Führen wir nur die zahlreichen Exzesse mit der Anwendung von Waffen weit entfernt von der Frontlinie vonseiten des Rechten Sektors, Veteranen der Antiterroroperation und einfach von Banden unter dem Deckmantel hehren Patriotismus an.
Vor welchem Feind und was eben verteidigten beispielsweise mit Schützenpanzern und Mörsern die Gruppierung des „Rechten Sektors“ im weit entfernten Transkarpatien, was praktisch am anderen Ende des Landesteiles ist, indem Krieg herrscht? Wer erlaubte den faktischen Raubüberfall mit der Nutzung von Kriegstechnik bei der Neuverteilung der Kontrolle über die Schmuggelströme an der Grenze? Das Fehlen von Strafen vonseiten der bevollmächtigten Staatsorgane für diesen Raubüberfall sagt der ukrainischen Gesellschaft und der internationalen Öffentlichkeit mehr, als es jemand gern hätte. Die freie Bewegung von illegalen, bis an die Zähnen bewaffneten Gruppen im Land, die Willkür gegenüber der Zivilbevölkerung in der Zone der Antiterroroperation (es geht nur um die durch Ermittlungen belegten Fakten) bezeugen, dass es in der Ukraine keinen Rechtsstaat gibt. Dass die Ukraine ihren Verteidigern alles zu vergeben bereit ist, damit sie nur an der Frontlinie bleiben.
Wenn im Land Rechtsnihilismus herrscht, der durch Korruption und das Fehlen eines Rechtsschutzsystems geboren wurde, kann nicht einmal die Rede von gerechten Gerichtsverfahren sein. Und das bedeutet auch vom Schutz der Bürger. Rechtlose Menschen, die der Hoffnung auf Gerechtigkeit beraubt sind, sind am Leichtesten auf die Straße zu bringen. Ihnen in den Kopf einhämmern, dass diejenigen, die „unseren“ Hetman von der Regierungsmacht entfernten, sogar über den Weg einer demokratischen Wahl, sind keine Patrioten der Ukraine. Denn es gibt nur den patriotischen Verteidiger. Und an der Macht sind nur Verräter, die in jedem Moment bereit sind, die Ukraine „preiszugeben“. Sogar sich selbst zum Schaden, denn warum haben diese Leute um die Regierungsmacht gekämpft, um sie sofort an den Feind zu übergeben?
Doch gibt ihnen eine derartige Protesttätigkeit im Falle vieler Aktivisten, die mit ihrem Aktivismus nicht schlecht lebten, ein zweites Leben, das Gefühl zu einer großen Sache zu gehören und die Hoffnung bald wieder im großzügig bezahlten leichten Job zu sein. Gleichgültig, dass eine Zerrüttung des Staates stattfindet, der im Kriegszustand ist. Gleichgültig, dass derartige Massenaktionen ein Riesenpotenzial binden, dass in eine wichtige Richtung gelenkt werden könnte.
Die revolutionäre „Marussja“ [gemeint ist Olena Sambul, die sich im Netz Marussja Swirobij nennt. Drohte unter anderem Präsident Selenskyj zu ermorden. Gehört zum sektenhaften Umfeld von Ex-Präsident Poroschenko. A.d.Ü.] interessiert das Schicksal des Staates nicht, sie macht damit für sich Werbung, dass sie zur Ermordung der politischen Gegner aufruft. Es ist klar, dass „Marussja“ niemanden von der Oppositionsplattform umbringen wird, doch werden einige Staatsanwälte und Richter von wichtigen Sachen abgehalten. Und wieviel Futter das für die Fernsehsender Medwedtschuks [gemeint ist Wiktor Medwedtschuk, der ehemalige Chef der Präsidialverwaltung unter Leonid Kutschma und nunmehriger Chef der Partei Oppositionsplattform. Russlands Präsident Putin ist Taufpate einer der Töchter. A.d.Ü.] und Russland gab, ist schon schwer zu zählen. Doch nicht nur Aktivisten, die dafür kämpfen, dass der „silberhaarige Hetman“ [Petro Poroschenko, A.d.Ü.] sich nicht vor Gericht verantwortet, helfen dabei die Anarchie im Land zu verbreiten. Er steht selbst nicht hintenan und zieht bei jeder Gelegenheit eine Show a la „Hochzeit in Malinowka“ [sowjetische Komödie über den russischen Bürgerkrieg in der Ukraine. A.d.Ü.] ab. Das letzte Mal [am 1. Juli] „erlangte er Ruhm“ in der ganzen Welt mit der Bitte an den Richter, dass der den Staatsanwalt auf die Toilette lassen solle, denn dieser habe sich eingeschissen. Diese Missachtung der staatlichen Institutionen und vor allem gegenüber dem Institut des Präsidenten, der er selbst vor kurzem war. Manchmal sind Emotionen sogar nützlich, doch gespielte, vorher geplante sind ekelhaft. Widerwärtig ist es zu beobachten, wie der nächste Halunke, der seine Haut retten will, eine Revolution in eine kleinrussische Satire verwandelt.
Eine derartige Show mit einem Ataman und ohne verfolgend, wird es klar, warum die Ukrainer so leicht in ihrem Zorn und ihrem Durst nach Herstellung von Gerechtigkeit entbrennen. Entflammen und erlöschen. Und all das deswegen, weil es in der ukrainischen Gesellschaft keinen konkreten Handlungsplan nicht einmal in kurzfristiger Perspektive gibt. Dass in der Regel der Handlungsplan eng verbunden mit der Person eines konkreten Atamans ist. Dazu gibt es keine Kader, die fähig zur systematischen Regierungsarbeit sind. Und daher enden alle ukrainischen Revolutionen mit der Regenerierung des alten Systems. Die Revolution hat noch nicht geendet, doch im System wächst bereits, wie bei einem Regenwurm, der amputierte Teil des Körpers nach.
Damit niemand die Regenerierung des Systems stört, wird ein zahlreiches Heer herbeigerufen. Alle oligarchischen medialen Ressourcen rühmen nicht nur ihren Atamanen und Herrn, sie legen sich maximal ins Zeug, um die Gesellschaft zu desorientieren. Zusammen mit den bezahlten „Botfarmen“ mobilisieren sie die Leichtgläubigen unter dem Banner der neuesten Atamane. In der Praxis kann man sogar die heißesten Aufrührer und Nichteinverstandenen mit dem System leicht neutralisieren, indem man sie in den Kampf für den nächsten „heiligen“ Retter der Ukraine schickt. Obgleich es bereits Zeit ist, die Ukraine vor ihren Rettern zu retten.
3. Juli 2020 // Wassyl Rassewytsch
Quelle: Zaxid.net
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