Die Aussage des neuen ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskijs [Wolodymyr Selenskyj] darüber, dass man, um den Krieg im Donbass zu beenden, „einfach aufhören muss zu schießen“, wird noch lange als eine der wichtigsten Losungen seiner Wahlkampagne gelten. Was aber das Wichtigste ist: diese Worte spiegeln nicht vorrangig die Überzeugung Selenskijs und seines Umfelds wieder als vielmehr die innere Überzeugung der meisten ukrainischen Bürger, dass man für eine Beendigung des Krieges, einfach aufhören muss zu schießen und sich an ihm zu bereichern und dass der nicht endende Krieg einer der schwersten Fehler und die größte unerfüllte Versprechung des ehemaligen Präsidenten Pjotr Poroschenkos [Petro Poroschenko], sei.
Dieser Überzeugung begegnet man auf Schritt und Tritt: in soziologischen Umfragen genauso wie in Fernsehübertragungen. Es ist verständlich, dass die Ukrainer von ihrem neuen Präsidenten vor allem die Beendigung des Krieges erwarten. Aber ist ein solches Szenario überhaupt möglich?
Ich sage gleich, dass ich nicht behaupten will, dass die Beendigung der Feindseligkeiten und der Bereicherung tatsächlich zu einer Deeskalation führen würden. Dennoch ist es immer wichtig, zu verstehen, ob beide Seiten überhaupt an einer solchen Entwicklung der Ereignisse interessiert sind. Es sei daran erinnert, dass sich nicht ukrainische Streitkräfte auf russischem Territorium befinden, sondern russische auf ukrainischem. Und es ist die russische Seite, die in den besetzten Gebieten im Donbass Truppen stationiert hat, deren Hauptaufgabe es ist, die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine zu verhindern.
Als Pjotr Poroschenko zum Präsidenten gewählt wurde, machten sich die Ukrainer noch Illusionen. Das galt nicht nur für den Großteil der Bevölkerung, sondern auch für die politische und militärische Elite des Landes. Die Illusion bestand vor allem darin, zu glauben, dass Russland es nicht wagen würde, seine regulären Truppen auf ukrainischem Festland einzusetzen (obgleich es dann unklar wäre, warum sie diese in Südossetien und auf der Krim einsetzten). Deswegen schien es das Wichtigste zu sein, ausreichend Kräfte zu mobilisieren, um die „Freiwilligen“ und Söldner in Schach zu halten. Eine solche Illusion gibt es heute bei den politischen und militärischen Eliten nicht mehr; es ist offensichtlich, dass im Falle einer Durchführung von Militäroperationen von ukrainische Seite Russland nicht davor zurückschrecken würde, seine Streitkräfte einzusetzen und aus diesem Grund große Gruppierungen zur Abschreckung an der russisch-ukrainischen Grenze positioniert hat. Doch im gleichen Maße, wie die Illusion sich bei den Eliten verflüchtigt hat, hat sie sich bei großen Teilen der Bevölkerung noch verstärkt.
Es ist paradox, aber Wladimir Selenskij und sein Umfeld sind in diesem Sinne genau wie das Volk und nicht Teil der Eliten; und genau deshalb wurde er auch gewählt. Genau wie die meisten seiner Landsleute verbleibt er in einer fiktiven Welt: eine Welt, in der sich Krieg nicht lohnt, weder für die Ukraine noch für Russland.
Für Russland lohnt sich der Krieg zweifellos, vor allem aus geopolitischer Sicht. Ich will hier aber nicht verhehlen, dass auch andere Motive – zum Beispiel die Möglichkeit, sich zu bereichern – eine Rolle spielen. Bei aller Scheußlichkeit und Unmoral sind solche Bereicherungen die natürlichen Folgen eines Krieges: eben deshalb spricht man von „Plünderern“; eben deshalb folgten den Truppen der Armee oft ganze räuberische Expeditionen nach; deshalb wurden Soldaten ganze Städte zur Plünderung überlassen und die „reichen“ Verlierer von den „armen“ Gewinnern rücksichtslos ausgeraubt und eben deshalb haben sowjetische Generäle, Offiziere und Soldaten so viel aus dem besetzten Deutschland mitgenommen, wie möglich – von Koffern bis hin zu ganzen Wagenladungen. Eben deshalb ist Brechts Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ ein viel bedeutenderes Produkt der Weltdramatik als irgendwelche patriotischen Schriften. Die Rote Armee kam jedoch nicht nach Deutschland, um die Deutschen auszurauben, sondern als Reaktion auf den Angriff des Deutschen Reiches. Und das Deutsche Reich griff die UdSSR und davor die europäischen Länder an, nicht um der Bereicherung willen, sondern um den Lebensraum für die Deutschen zu vergrößern, oder?
Jeder Krieg hat ein Hauptziel und eine Ökonomie, die sich diesem Ziel anpasst: in Form von Schmuggel, Plünderungen und Raub. Ein solches Hauptziel können nur diejenigen verfolgen, die den Krieg begonnen haben und nicht diejenigen, die sich verteidigen. Die, die sich verteidigen, verfolgen erst dann eigene Ziele, wenn sie im Begriff sind, zu gewinnen. Bis dahin brauchen sie alle Kraft, um zu überleben und wenigstens ihr eigenes Territorium zu verteidigen.
Genau deshalb ist es wichtig, zu verstehen, was das Hauptziel desjenigen ist, der den Krieg begonnen hat: Putin. Dieses Hauptziel ist sehr simpel und hat sich im Kreml nicht verändert, nicht seit 2000 und auch nicht seit 1991. Das Ziel besteht in der Überwindung der „geopolitischen Tragödie“ des 20. Jahrhunderts, dem Zerfall des Russischen Reiches, dass sich die letzten Jahrzehnte seiner Existenz als Sowjetunion darstellte. Boris Jelzin glaubte fest daran, dass die GUS der Keim eines neuen Unionsstaates sei. Anatolij Tschubajs sprach von einem „liberalen Reich“. Wladimir Putin beschloss, dass das Abdriften der russischen Gebiete – und für den Kreml sind die Ukraine, Weißrussland und sogar die baltischen Länder russischen Gebiete – gestoppt werden müsse; die Versuche des Westens, genauer gesagt der EU und der NATO, ihr Einflussgebiet bis zur russischen Grenze auszuweiten, müssten ein Ende finden.
Wenn du keinen großen Krieg willst, dann fängst du kleine Kriege an. So hat es auch Putin gemacht, als er den Krieg im Donbass auslöste.
Dieser Krieg kann erst dann enden, wenn der Kreml davon überzeugt ist, dass die künftige Integration der ukrainischen Gebiete in einen gemeinsamen imperialen Raum durch nichts mehr verhindert werden kann, dass die Kräfte, die die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine und ihren Beitritt zur NATO und zur EU unterstützen, vollständig marginalisiert worden sind und dass die Mehrheit der Ukrainer bereit ist, zu Russen oder Untertanen der Russen zu werden. In der Zwischenzeit trägt der Krieg auf dem Donbass zur Schwächung der ukrainischen Staatlichkeit bei, lässt die Möglichkeit der strukturellen Integration der Ukraine in die westliche Gemeinschaft in immer weitere Ferne rücken und verstärkt die chaotischen Zustände im Land. Der Krieg wird fortgesetzt werden, denn aus Putins Sicht ist es ein „rechtmäßiger Krieg“.
Aber es gibt noch eine andere sehr wichtige Frage: Kann der russische Präsident selbst „einfach aufhören zu schießen“? Zum Beispiel, um die Sanktionen aufzuheben, um Abkommen mit Trump zu schließen, um die pro-russischen und kollaborativen Kräfte in der Ukraine zu unterstützen? Theoretisch ist eine solche Entwicklung der Ereignisse nicht ausgeschlossen. Putin könnte – ohne sich aus dem Donbass zurückzuziehen – aufhören zu schießen, um den Prozess der separaten Verhandlungen mit ukrainischen Machthabern und den Führern der „Volksrepubliken“ zu intensivieren und seine eigene Position gegenüber dem Westen zu verbessern. Aber nachdem er aufgehört hat zu schießen, wird er einem altbekannten ukrainischen Phänomen gegenüberstehen: der Gleichgültigkeit der Mehrheit der Bevölkerung des Landes gegenüber dem, was als nächstes mit und in den besetzten Gebieten geschehen wird.
Für die meisten Ukrainer liegt die Priorität darin, den Krieg zu beenden und nicht die territoriale Integrität als solche wiederherzustellen. Und sobald der Beschuss aufhört, werden sie den Donbass einfach vergessen. Die Krim vergessen sie übrigens bereits. So wie schon die Krim und ihre Annexion nicht wirklich Auswirkungen auf die politischen Entwicklungen in der Ukraine hatten, wird auch die „friedliche“ Besetzung des Donbass keine Auswirkungen haben. Die Beendigung der Eskalation hätte für Putin keine spürbaren Folgen: die Ukraine würde zwar den Krieg loswerden, nicht aber die besetzten Gebiete zurückerlangen.
Und daher wird Russland, selbst wenn es für eine Weile mit dem Schießen aufhört, nicht anders können, als den Krieg wieder aufzunehmen – und zwar in einem größeren Teil des ukrainischen Territoriums. In diesem Sinne wird eine vorübergehende Deeskalation in naher Zukunft notwendigerweise zu einer viel größeren Eskalation führen.
Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation? Nicht für eine moderne ukrainische Gesellschaft. Die Ukrainer können sich entweder weiterhin der russischen Aggression widersetzen und auf eine weitere Schwächung dessen, was vom Imperium übrig geblieben ist und auf die historische Erschöpfung der „ukrainischen Frage“ hoffen. Oder sie können sich darauf einigen, ihr Territorium in der einen oder anderen Form an Russland anzuschließen. Da es in der ukrainischen Gesellschaft jedoch weder zum einen noch zum anderen Thema einen nationalen noch einen regionalen Konsens gibt, wird die Ukraine genau wie bisher auch die nächsten Jahrzehnte krampfhaft weiterkämpfen: Die Macht, die bereit ist, sich dem Kreml zu widersetzen, wird wieder durch eine Macht ersetzt werden, die bereit ist, mit Moskau zusammenzuarbeiten; dann wird wieder jemand an die Macht kommen, der bereit ist, Widerstand zu leisten. Und so geht es weiter, bis die Zeit der „historischen Erschöpfung“ oder des Zusammenbruchs Russlands gekommen ist. Oder sogar bis es zu einer viel tiefgreifenderen und umfassenderen Spaltung der Ukraine selbst kommt, wobei sich dann die eine Hälfte mit Europa zusammenschließen und die andere sich dafür entscheidet, in einer Gemeinschaft mit der ehemaligen Metropole zu verbleiben.
3. Juni 2019 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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