Das Jahr des (nicht-)großen Umschwungs
Das stürmische Jahr 2019 ist ans Ende gelangt und hat dabei die Erwartungen der ukrainischen Gesellschaft doch nicht erfüllt. Die diametral entgegengesetzten Erwartungen, die im vergangenen Frühling geboren wurden.
Die einen erwarteten vom vergehenden Jahr einen kompletten Neustart des staatlichen Organismus. Die Befreiung von Lüge, Korruption, Armut und Krieg. Den Triumph neuer Werte, neuer Prinzipien und neuer Regeln.
Die anderen erwarteten von eben jenem Jahr den Fall in den populistischen Abgrund, wirtschaftlichen Kollaps, eine schändliche Kapitulation vor Moskau, den Zusammenbruch der ukrainischen Staatlichkeit und andere derartige Schrecken.
Am Ende hat das Land keine wunderbaren „Siege“ und auch keine globalen „Verrate“ gesehen. Die Haupterrungenschaften der vorhergehenden Regierung blieben an Ort und Stelle. Deren Hauptmängel ebenfalls.
Neue negative Züge gibt es zur Genüge, doch bisher sind sie nicht katastrophal. Es gibt einzelne positive Tendenzen, doch bisher sind sie nicht sehr beeindruckend. Und dieses undeutliche Ergebnis stimmt nicht mit dem emotionalen Hintergrund überein, von dem die Wahlen 2019 begleitet waren.
Der Wahlkampf von Wladimir Selenski [Wolodymyr Selenskyj] war auf reinen, ungetrübten, zur Schau gestellten Emotionen aufgebaut. Den Ekel vor dem regierenden Establishment. Den Glauben an die magischen Fähigkeiten eines von außen kommenden Menschen. Einer tollen Hoffnung, welche die Skepsis besiegt. Einer Euphorie, die Millionen Herzen ergreift.
Und die Kampagne von Pjotr Poroschenko [Petro Poroschenko] wurde zum Versuch dem emotionalen Anschein etwas rationales zu geben. Hinter dem soliden „Denk nach!“ verbarg sich das herzzerreißende „Fürchte dich!“ Die gezielte Anspannung der Leidenschaften wurde als der Triumph des nüchternen Urteils ausgegeben. Die fünf Minuten Hass wurden in die Form tiefgründiger Analyse gekleidet.
Sogar die Erzählung über die anstehende Aussiedlung von Rentnern und Büroangestellten nach Sibirien wurde von rituellen Auftritten begleitet: „Sehr ruhig, ohne Hysterie. Sie kennen mich, ich war nie hysterisch. Ich teile nur eine Information – das ist alles.“
Die unangemessene Begeisterung der Sieger, die für den Favoriten gestimmt hatten, ist immer noch zu spüren. Doch noch mehr ist das Trauma zu spüren, das die Besiegten durchlebten.
Wir haben eine wahrnehmbare Schicht an Bürgern erhalten, die objektiv einer psychologischen Nachsorge bedürfen, doch halten sie sich dabei für den vernünftigeren Teil der Gesellschaft.
Und diese Schicht generiert wie gehabt den Informationshintergrund, der auf die Wahrnehmung Selenskis und seiner Politik einwirkt. Dabei wirkt er überhaupt nicht so, wie es die Gegner von Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] gerne hätten.
Innerhalb von sieben Monaten vermochten es die Vertreter der neuen ukrainischen Regierung nicht nur einmal Skandale zu verursachen. Sich als inkompetent und unsauber zu zeigen. Eine Menge an Dummheiten zu veranstalten. Eine Vielzahl an Missbrauchsfällen zu vollziehen. Doch erscheinen alle Sünden des Se!Teams bereits als nicht mehr so ernsthaft: Denn sie verschwinden vor dem Hintergrund der apokalyptischen Prognosen, die von der Verliererseite verlautbart wurden.
Ein Haushaltsloch? Eine Bagatelle im Vergleich zum prognostizierten „bis Ende des Jahres erwartet das Land ein Staatsbankrott und der Dollar wird 50 oder sogar 100 Hrywnja kosten.“
Eine Stärkung des Oligarchen Kolomoiski? Kein Unglück im Vergleich zum versprochenen „nach den Wahlen wird die Privatbank sofort an Benja [Igor Kolomoiski] zurückgegeben und wir werden in der ganzen Welt die Hand aufhalten.“
Misserfolge in der Außenpolitik? Eine Kleinigkeit im Vergleich zum angekündigten „niemand wird mit dem Clown reden und die Ukraine wird weggeworfen, und uns die Visafreiheit genommen.“
Unheilbringende Gesetzesinitiativen? Nichts im Vergleich zum angekündigten „das gesamte Büroplankton [umgangssprachlicher Ausdruck für Büroangestellte] wird nach Sibirien verfrachtet.“
Wie viele reale Fehleinschätzungen das Staatsoberhaupt auch zuließ, so wird er die negative Planke nicht erreichen, die von den fremden Kopfgeburten geschaffen wurde. Der schnellfüßige Se!Achilles ist nicht in der Lage die Schildkröte des „Verrates“ einzuholen: mit den Anstrengungen der blindwütigen Hater wird sie immer vorn liegen.
Wäre der anfängliche Fluss an Hass gegenüber Selenski etwas kleiner gewesen, dann hätte es Wladimir Alexandrowitsch schwerer. Der ukrainische Staatsführer würde allein den positiven Erwartungen der eigenen 73-Prozent-Wählerschaft gegenüberstehen.
Diese Erwartungen sind übermäßig überhöht, widersprechen nicht selten einander und sind nur schwerlich praktisch zu realisieren.
Im Kontrast zu den Erwartungen des Volkes würde die Politik von Se[lenski] als offene Enttäuschung aussehen. Doch dem Präsidenten zu Hilfe kommen die ebenso sehr überhöhten – nur negativen – Erwartungen der relativen 25 Prozent. Und im Kontrast zu diesen sieht Selenski vorteilhaft aus.
Nehmen wir den kürzlichen Gipfel der Normandie-Vier in Paris. Mit welchen riesigen Resultaten und diplomatischen Wundern er auch gekennzeichnet wurde.
Von der Sache her blieben die Seiten auf ihren Positionen, die sie auch vorher einnahmen. Doch im Vorfeld des Pariser Treffens wurde eine Kapitulation Kiews bereits als vollzogene Tatsache vorgebracht und der Hysteriegrad in der ukrainischen Gesellschaft auf ein Höchstmaß gebracht.
Im Ergebnis wirkte das Fehlen des erwarteten „Verrats“ bereits selbst wie ein strahlender „Sieg.“ und nach dem wenig ergebnisreichen Treffen mit Putin stiegen die Umfragewerte von Se[lenski] spürbar.
Das ständige „Wölfe! Wölfe!“, das von den Hassern Selenskis geschrien wird, bringt gegengesetzte Früchte. Doch das Publikum, das den Garanten nicht verdaut hat, ist nicht in der Lage auf die irrationale Strategie zu verzichten: da dieses es schaffte, hart an die eigene Rationalität zu glauben. Der Patient, der sich selbst für den Arzt hält, kann nicht genesen.
Tausende Denunzianten der neuen Regierung erwiesen sich als in einer emotionalen Falle eingeschlossen – jedoch in diese Falle riskieren auch die freiwilligen Anwälte von Se[lenski] zu gelangen.
Uns ist das Prinzip „wenn Jewtuschenko gegen die Kolchose ist, dann bin ich dafür!“ sehr vertraut. Wenn der nördliche Nachbar gezielt dein Land in den Schmutz zieht, dann will man schweren Herzens die ukrainischen Probleme und Mängel gern kleiner machen.
Wenn ein relativer Kisseljow oder Solowjow von der „faschistischen Junta“ in Kiew erzählen, dann beginnen wir die Augen vor den realen Aktionen der einheimischen Radikalen zu verschließen. [Gemeint sind die Vorzeigemoderatoren des russischen Staatsfernsehens Dmitri Kisseljow und Wladimir Solowjow, A.d.Ü.]
Wenn die besiegte Seite damit fortsetzt, Galle zu spucken und das acht Monate nach den Wahlen, dann tritt bei vielen der Wunsch auf sich für die Sieger einzusetzen. Sogar in den Situationen, in denen es die Sieger offensichtlich nicht verdienen.
Was dem Land und der Gesellschaft zu empfehlen ist, ist eine tatsächlich rationale Kritik der Se!Präsidentschaft. Eine Kritik, die auf den Handlungen des Regierungsteams basiert und nicht auf der verinnerlichten Beziehung zur Persönlichkeit Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] oder Pjotr Alexejwitsch [Poroschenko]. Eine Kritik, die nicht mit den Traumata des Wahlkampfes 2019 verbunden ist. Manchmal verlangt die Zukunft es, von der kürzlichen Vergangenheit zu abstrahieren. Und wahrscheinlich ist dies das Beste, was man dem politisierten Ukrainer am Vorabend des neuen Jahres 2020 wünschen kann.
30. Dezember 2019 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda