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Zwischen zwei "K"

Michail Dubinjanski: Kompromiss und Konformismus

Je mehr man in der Ukraine über die Beendigung des Kriegs und die Vereinigung des Landes spricht, um so klarer erscheint vor uns die Sichtweise eines alten sowjetischen Witzes: der Kampf für den Frieden, der keinen Stein auf dem anderen lässt.

Derzeit rufen die Friedensverhandlungsnarrative des Staates ein bitteres Grinsen hervor. Die erfolgreiche Reintegration der Regionen Lugansk [ukr. Luhansk] und Donezk erscheint als Utopie. Und nicht nur das, problematisch sieht darüber hinaus die Wiederkehr der situativen Einheit aus, welche die verstümmelte Ukraine im Jahre 2014 durchlebte.

Der Dialog im Rahmen des damaligen Euromaidan, der in verfeindete Cluster zerfiel, ist nicht weniger schwierig als die Gespräche mit dem Kreml. Die 45 evakuierten Ukrainer zurückbringen und aufnehmen, das ist ebenso eine nicht weniger knifflige Aufgabe wie das Durchdringen zu den sechs Millionen Einwohnern der besetzten Gebiete.

Und jetzt dreht sich die Frage schon nicht mehr darum, was mit den Menschen in Donezk, Lugansk oder Simferopol, sonder eher darum, was mit denen in Winniki [ukr. Wynnyky] und Nowyje Sanschari [ukr. Nowi Sanschary] zu tun ist. Die letzten Jahre hat man demonstriert, wie sehr wir uns voneinander unterscheiden. Und die letzten Tage haben gezeigt, wie ungeduldig wir miteinander umgehen. Und dabei sind wir wirklich begrenzt dadurch, dass wir uns auf einer Seite der Front befinden.

Die Bürger, die sich mit der unabhängigen Ukraine identifizieren und Kiew in der Konfrontation mit Moskau unterstützen, haben unterschiedliche Werte, moralische Prioritäten und Zukunftsvorstellungen. Dieses bizarre Puzzle lässt sich nicht lösen, es ist unmöglich, mit den Knobelaufgaben des Donbass und der Krim zurechtzukommen.

Wie können wir alle miteinander leben in einer Ukraine? Die Antworten auf diese akute Frage unterscheiden sich nicht weniger als die Ukrainer selbst. Aber im Großen und Ganzen führt all diese Vielfältigkeit zu zwei grundsätzlichen Strategien. Zur Wahl zwischen den zwei „K“: Kompromiss und Konformismus.

Das Stützen auf Kompromisse zwingt zum Einanderaushalten, zum Respektieren fremder Interessen und Überzeugungen, zu gegenseitigen Zugeständnissen. Der Kompromiss zwingt zum Frieden damit, dass Ihre Werte nicht universell sind, und Millionen Mitbürger sich niemals in Gleichgesinnte verwandeln. Und damit, dass Ihr Blick auf die ukrainische Zukunft sich nicht vollständig verwirklichen lassen kann. Und dass die Ukraine weder ein normaler Nationalstaat wird noch ein kosmopolitisches Musterparadies noch zum Kristalltraum des Etatisten noch eine Bastion des siegreichen Liberalismus.

Bis zum Krieg hielt man diesen Weg für den einzig annehmbaren für das Land, aber die russische Aggression hat das Verständnis für Kompromisse grundsätzlich diskreditiert. Zu Beginn hat sich der Spielraum für Kompromisse unvermeidlich eingeengt, die Anhänger der Russischen Föderation wurden ausgeschlossen. Dafür gerieten viele in die Versuchung, diesen Spielraum noch weiter einzuschränken und dabei sämtliche Hindernisse auf dem Weg zum eigenen Ideal auszuräumen.

Die Grenze zwischen dem Gegner und dem Feind verwischt ständig: Bis hin zur Idee des Polittechnologen Gryniw [Ihor Hryniw, Chef des Wahlkampfstabes von Petro Poroschenko 2019, A.d.R.], dass die Präsidentschaftswahlen ebenfalls Krieg sind. Heute macht das Wort „Kompromiss“ wieder die Runde.

Die theoretische Politik der neuen ukrainischen Führung tendiert ausgerechnet zur Kompromissschließung. Aber das praktische Handeln der Bankowaja [Sitz des Präsidenten, A.d.R.], verbunden mit den Minsker Vereinbarungen, riskiert die weitere Diskreditierung des Kompromisses als Begriff. Jegliche Abweichung von den Dogmen erscheint als Hintertür, durch die der Kreml einbrechen kann mit prorussischen Kämpfern. Sich mit jedem beliebigen Kompromiss an eine schändliche Kapitulation anzunähern, fällt dann umso leichter.

Was tun, wenn der Pfad der Kompromisse versperrt ist? Dann bleibt nur das zweite „K“, der Konformismus. Dutzende Millionen Mitbürger in Gleichgesinnte zu verwandeln, ist unrealistisch. Aber dank des Konformismus kann man sich eine Illusion davon schaffen, dass Dutzende Millionen Ihre Gleichgesinnte geworden sind. Mit der leichten Hand des Präsidenten Se[lenski] reichert sich die öffentliche Meinung mit dem spöttischen Memo #какаяразница an.[Was spielt es für eine Rolle.“ Bezugnahme auf die Neujahrsansprache von Präsident Wolodymyr Selenskyj in der er die Ukrainer dazu anhielt, mehr nach Gemeinsamkeiten als nach Unterschieden zu suchen. A.d.R.] Für gewöhnlich stellt man ihn in Gegensatz zur ideologischen Orthodoxie des späten Poroschenko.

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Aber die Realität dieses Gegensatzes ist nur Schein. Es ist eher so, dass das konventionelle Konzept „Armee. Sprache. Glaube.“ nur vollständig realisiert werden kann auf Kosten der konformistischen Position „Was spielt es für eine Rolle!“.

Wenn Sie die große Ukraine als einen monoethnischen und monokulturellen Raum sehen, kann Ihr Gegenüber an die Internationalität appellieren und streiten. Aber der Normalbürger, für den es keinen Unterschied gibt, wird nicht anfangen zu streiten. Wenn Sie das ganze Land mit Standbildern von Stepan Andrejewitsch [gemeint ist der Nationalist und Chef der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) Stepan Bandera, A.d.R.] und Roman Josofowitsch [gemeint ist der Nationalist und Nazikollaborateur Roman Schuchewytsch, A.d.R.] überziehen wollen, kann Sie Ihr Gegenüber an den Totalitarismus und ethnische Säuberungen erinnern. Aber der Normalbürger, für den es keinen Unterschied gibt, wird nicht anfangen zu streiten. Wenn Sie auf den Konservatismus und die Archaik spekulieren, kann Ihr Gegenüber auf den gegenwärtigen, souveränen Staat setzen. Aber der Normalbürger, für den es keinen Unterschied gibt, wird nicht anfangen zu streiten. Wenn Sie an den Schrauben namens Nationale Sicherheit drehen wollen, kann Ihr Gegenüber mit den Bürgerrechten und -freiheiten winken. Aber der Normalbürger, für den es keinen Unterschied gibt, wird so oder so nicht anfangen zu streiten.

Auf diese Weise werden die gleichgültigen und schweigenden Landsleute für Sie etwas angenehmer als die ehemaligen Mitstreiter vom Maidan, die nicht Ihr Weltbild teilen.

Das Fehlen von Überzeugungen ist gegenüber fremden Überzeugungen zu bevorzugen. Das Fehlen von Prinzipien ist besser als fremde Prinzipien.

Der Kompromiss gewährt dem aktiven Bürger, Anknüpfungspunkte zu finden und gemeinsam zu handeln. Konformismus ermöglicht es einer Gruppe aktiver Bürger, die übrigen Gruppen zu ignorieren, die Sorge um das Land zu privatisieren und eigene Werte als allgemeine zu positionieren. Das fremde Schweigen kann als Zustimmung interpretiert werden. Die fremde Passivität als Unterstützung. Die fremde Anpassungspolitik als ideologische Evolution. Und das alternativlose Fortschreiten der gewünschten Agenda wie ein neuer Gesellschaftsvertrag.

Für viele von uns in der Ukraine bleibt Pjotr Poroschenko [ukr Petro Poroschenko, 2019 abgewählter fünfter Präsident der Ukraine, A.d.R.] die Verkörperung des nationalen Enthusiasmus. Doch die damalige Ukraine bestand nicht nur aus Enthusiasten, sondern auch aus Konformisten. Auch aus Beamten, denen völlig egal war, welche Parolen zu skandieren waren. Aus Lehrern, die bereit waren, alles zu unterrichten, egal was und wie. Aus Städtern, die gleichgültig waren gegenüber Schtschors [gemeint ist der bolschewistische Divisionskommandant Mykola Schtschors, A.d.R.] und Konowalez [gemeint ist der Nationalist und Gründer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) Jewhen Konowalez, A.d.R.] und deshalb die aufsehenerregenden Umbenennungen nicht anfechten. Aus kleinen Leuten, die weder eine eigene Meinung haben noch diese laut aussprechen.

All das trieb dazu an, an ein triumphales Nation-Building zu glauben und befähigte zum Sicheinschließen in einer Informationsblase. Die gleiche Blase, die vorigen Frühling platzte und dabei das Hauptproblem des Konformismus als gesellschaftlichen Anker bloßlegte. Und dass Millionen Ukrainer, welche vor ein paar Jahren noch als ein „weises Volk“ und eine „erweckte Nation“ angesehen wurden, sich in eine dunkle und verachtenswerte Bevölkerung verwandelten.

Und an Stelle der Ukraine, einträchtig in gelb-blau gestrichenen Zäunen, tauchte ein Land auf, wo im Gebiet Poltawa evakuierte Mitbürger mit Steinen verjagt werden, im Gebiet Ternopil mit Gebeten, und im Gebiet Lwiw mit dem Singen der Hymne. Ein Land, in dem die nationale Solidarität eine leere Phrase geworden ist. Ein Land, das sich nach wie vor im Zwiespalt befindet zwischen zwei „K“.

22. Februar 2020 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

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Übersetzer:   Andre Müller — Wörter: 1229

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