Den Ergebnissen der Parlamentswahlen nach könnte die Ukraine zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Einparteienmehrheit bekommen. Präsident Selenskij [Selenskyj] hat alle Chancen eine Regierung zu bilden, sich dabei ausschließlich auf die eigenen Bajonette stützend.
Monopolmacht zieht die komplette Verantwortung nach sich. Und theoretisch bedeutet das, dass das Team von Se[lenskij] alles gesellschaftliche Negative anhäufen wird.
Alle Vorwürfe werden an sie gerichtet. Alle Anmerkungen nur auf ihr Konto. Alle Kritik nur an ihre Adresse.
Doch das ist die Theorie. Und wie ist es in der Praxis?
Zum Stand heute wird dem siegreichen Selenskij nicht mehr Kritik zuteil, als dem verlierenden Poroschenko. Die Entlarvung des Ex-Präsidenten und seiner Anhänger ist wie gehabt gefragt und populär.
Es versteht sich, dass man das mit einfacher Verzögerung erklären kann.
Wladimir Alexandrowitsch [Wolodymyr Selenskyj] regiert etwas mehr als einen Monat und an ihn ist man noch nicht gewöhnt. Pjotr Alexejewitsch [Petro Poroschenko] regierte fünf Jahre und man hat sich noch nicht entwöhnt. Dazu haben die Wahlen zur Werchowna Rada noch nicht stattgefunden und wir haben immerhin eine parlamentarische Präsidialrepublik.
Doch gibt es noch einen anderen nicht weniger wichtigen Umstand. Einen Umstand, dank dessen Poroschenko und Co. weiter als Quasi-Regierung wahrgenommen werden, die Angriffe und Verspottung verdient hat. Ein Umstand, der weder in einem Monat, noch einem halben oder ganzen Jahr verschwunden sein wird.
Die Hauptdiskussionsplattform des Landes bleibt Facebook. Eben dort brodeln die gesellschaftlichen Leidenschaften. Eben dort versammeln sich die politisierten Intellektuellen aller Couleur.
Die Gefangenen von Mister Zuckerberg, welche die ukrainische öffentliche Tagesordnung formieren, doch dabei in der eigenen Informationsblase gefangen sind. Und das Fiasko von Pjotr Alexejewitsch bei den vergangenen Wahlen hat die Kräftekonstellation innerhalb dieser Blase fast nicht geändert.
Sich als im Maßstab der Ukraine als Minderheit erweisend, blieben die Anhänger des Ex-Präsidenten eine relative Mehrheit in der virtuellen Welt. Diese Mehrheit ist weiter genauso meinungsstark und aggressiv.
Sie hält den gewohnten Kurs, eine Gegenreaktion provozierend und ihre traditionellen Gegner mobilisierend, welche die Bankowaja [Präsidentensitz] im Verlaufe der vergangenen Jahre kritisierten.
Jede Aktivität der neuen Regierung wird zum Hintergrund für alte Netzauseinandersetzungen.
„Euch hat Präsident Poroschenko nicht gefallen? Aber schaut jetzt, was Selenskij anstellt! Zufrieden?!“ – „Ihr fallt über Selenskij aus dem geringsten Anlass und ohne Anlass her? Doch wer hat die ‚Verratsvorliebe‘ ausgelacht und zu Ruhe aufgerufen? Wer bekräftigte, dass man in einem kämpfenden Land das Boot nicht zum kentern bringen soll?“
Nach dem 20. Mai hat sich der hergebrachte Diskus der „Poroschenko-Bots gegen die Verratsliebhaber“ nicht erschöpft: er setzt sein eigenes Leben fort.
Zur gleichen Zeit ist die dritte Seite – die vielzahlige Wählerschaft von Präsident Se – in Facebook unterproportional bescheiden vertreten und das drängt sie in den Hintergrund.
Der Triumph von Diener des Volkes [Sluha narodu, Präsidentenpartei] bei den bevorstehenden Wahlen wird die Situation kaum kardinal ändern.
Unser Weltbild wird nicht von absoluten Ziffern gebildet, sondern von Kennziffern, die unseren Lebensraum umgeben. Dem Katholizismus hängen 1,2 Milliarden Menschen an. Dem Mormonentum nur 15 Millionen. Doch wenn Sie in Salt Lake City leben, dann wird es in ihren Augen keine kolossale Diskrepanz geben.
Die Macht des Genossen Stalin ist grenzenlos. Die Macht des Hof-Hooligans winzig klein. Doch wenn Sie ein sowjetischer Junge sind, der in eben diesem Hof aufwächst, dann ist für Sie der Unterschied zwischen den beiden willensstarken Führern nicht so offensichtlich.
Die Umfragewerte von Diener des Volkes, sich den 50 Prozent nähern, sind schockierend hoch. Der Umfragewert der Europäischen Solidarität [Jewropejska Solidarnist, Partei von Ex-Präsident Poroschenko, A.d.Ü.], der Fünfprozenthürde entgegenstrebend, ist kränkend klein.
Doch wenn Ihr intellektuelles Leben in Facebook stattfindet, wo die Partei des Ex-Präsidenten unverhältnismäßig stark ist und lediglich mit Golos [Holos/Stimme, Partei des Popsängers Swjatoslaw Wakartschuk, A.d.Ü.] konkurriert, dann ändert das viel. In Ihrer Wahrnehmung sind die Teams von Se und Po gleichwertige Größen.
Lassen wir es zu, dass die Europäische Solidarität dennoch in die neue Rada einzieht und Diener des Volkes gleichwohl eine Einparteienmehrheit bildet. Dann riskieren wir, in eine paradoxe Situation zu geraten.
Einerseits gibt es ein präzedenzloses monolytisches Parlament mit einer präzedenzlos schwachen Opposition. Andererseits ein Facebook, das lebendig Pjotr Poroschenko, Irina Geraschtschenko [Iryna Heraschtschenko] und andere Oppositionelle aus dem ehemaligen Regierungslager diskutieren wird.
Die aggressive PR der Europäischen Solidarität in den Facebook-Weiten wird von ihrer Verunglimpfung begleitet, die als intellektuelle Opposition verstanden wird. Gewohnheitsmäßig Pjotr und Co. durchnehmend, werden die Netz-Freidenker das nicht als Zuspiel für den neuen Präsidenten ansehen. Obgleich faktisch eben Se dadurch gewinnen wird.
Die neue Regierung ist daran interessiert, dass an Poroschenko und den bedingten Poroschenko-Bots auf Jahre der Nimbus der gestrigen Macht haftet.
Schlussendlich haben wir ein bezeichnendes Beispiel aus dem Leben des nördlichen Nachbarns. Vor mehr als 19 Jahren endete die Präsidentschaft des unpopulären Boris Nikolajewitschs [Jelzin]. Seit mehr als 19 Jahren regiert das Land der „vom ganzen Volk geliebte“ Wladimir Wladimirowitsch [Putin].
Die relativen Liberalen, die mit der Epoche Jelzins assoziiert werden, seit langem marginalisiert, erhalten miserable Prozente bei Wahlen zur Staatsduma, werden mit Leichtigkeit von den OMON-Polizisten in Gefängnisbusse gepackt und haben keinerlei Einfluss auf die Politik des zeitgenössischen Russlands.
Jedoch ist die liberale Intelligenz im virtuellen Raum unangemessen breit vertreten und das verwandelt sie in das bequemste Schreckgespenst.
Aus der Sicht der offiziellen Propaganda setzt sich in der Russischen Föderation der tödliche Kampf zwischen den staatsmännischen Patrioten und den ominösen Liberalen fort, die schon morgen bereit sind, das Land in die stürmischen 90er zurückzuführen. Die Tatsache, dass es in der Realität diese Kampf nicht gibt, kümmert niemanden besonders.
Fraglos ist die Ukraine nicht Russland und die kampfeslustigen Fans von Pjotr Alexejewitsch sind bei weitem keine Liberalen. Ungeachtet dessen überzeugen sie sich bereits gegenseitig, dass das Niveau der Kritik nicht mit den Vollmachten korreliert, sondern mit der Präsenz im öffentlichen Raum.
PAP [Pjotr Alexejewitsch Poroschenko] und seine Anhänger haben sich massiv bemüht, den virtuellen Diskussionsplatz Nr. 1 zu erobern und jetzt beginnen sich diese Anstrengungen ins Gegenteil zu verkehren.
Noch vor einigen Jahren galt, dass Facebook Macht bringt und der Hass zum Begleiteffekt der erhaltenen Macht wird. Doch jetzt ist es Zeit sich an eine neue Realität zu gewöhnen. An eine Welt, in der das Kind von Zuckerberg Hass bringt, doch keine reale Macht.
22. Juni 2019 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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