Janukowytschs Dilemma: Kein Assoziierungsabkommen wenn Tymoschenko hinter Gittern bleibt
Die heutige Situation in den EU-Ukraine-Beziehungen lässt sich nach dem harten Urteil im Tymoschenko-Fall am 11.10.2011 als verfahren beschreiben. Einige Wochen vor dem geplanten EU-Ukraine-Gipfel am 19.12.2011 ist die Frage immer noch offen, in welchem Format dieser Gipfel stattfinden, wer daran teilnehmen und ob das Assoziierungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU paraphiert wird. Die Paraphierung des Abkommens scheint immer unwahrscheinlicher zu sein. Präsident Janukowytsch spricht sogar von „einer Pause in der ukrainischen EU-Integration“. Doch wenn Janukowytsch diese Pause tatsächlich nimmt, wird sie voraussichtlich lange dauern.
Tymoschenko soll im Gefängnis bleiben
Am 11.10.2011 wurde Julia Tymoschenko, die ehemalige Premierministerin und Gegenkandidatin Janukowytschs bei den Präsidentschaftswahlen, wie erwartet zu sieben Jahren Haft verurteilt. In dem von Richter Rodion Kirejew verlesenen Urteil wurden aufgrund der „Uneinsichtigkeit“ Tymoschenkos keinerlei mildernde Umstände festgestellt. Zwei Tage später machte der SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine) ein weiteres, am 12.10.2011 gegen Julia Tymoschenko, eingeleitetes Verfahren öffentlich. Mittlerweile wird gegen Tymoschenko in wenigstens drei weiteren Fällen ermittelt (alle haben mit der Tätigkeit Tymoschenkos Firma „Einheitliche Energiesysteme der Ukraine“ zu tun, die in der Ukraine in den 90er Jahren mit Gas gehandelt hat). Gut informierte Quellen aus der Umgebung des Präsidenten berichten, dass Janukowytsch Tymoschenko auf jeden Fall im Gefängnis halten will und dafür beliebige politische Kosten in Kauf nimmt. Somit ist für Janukowytsch in den Gesprächen mit dem Westen eine Freilassung Tymoschenkos nicht verhandelbar.
Es ist deutlich, dass bei allen Verfahren gegen die Oppositionsführerin persönliche Motive dominieren. Allen Informationen nach hat Wiktor Janukowytsch die Entscheidung Julia Tymoschenko weiter in Haft zu lassen allein getroffen und war unzugänglich für rationale Argumente. Offensichtlich soll für die Öffentlichkeit in der Ukraine und auch außerhalb das Image von Julia Tymoschenko als „demokratische Oppositionsführerin“ ein für alle Mal demontiert werden. Selbst wenn es eventuell in der Berufung (wahrscheinlich vor dem 19.12.2011) zu einer Aufhebung der Strafe aus dem ersten Gerichtsverfahren kommen könnte, soll sie jetzt den Stempel der Wirtschaftskriminellen erhalten und vorbestraft bleiben. Präsident Janukowytsch hat offensichtlich die ständigen Erwähnungen seiner Jugendstrafen durch Tymoschenko nicht verwunden; daher sind ihm sind die Folgen dieses persönlichen Rachfeldzuges zumindest egal. Zudem geht man in der ukrainischen Führung allem Anschein nach davon aus, dass sich die Wogen der internationalen Empörung nach wenigen Monaten glätten werden und die Europäische Union einlenken wird, um das Assoziierungsabkommen endlich abzuschließen.
Forderung der Beitrittsperspektive – Gesichtswahrung für Janukowytsch
Jetzt wird die bereits angedeutete Verwendung Julia Tymoschenkos als Geisel bei den Verhandlungen mit der EU deutlich. Die kürzlich aufgestellte Forderung Janukowytschs, doch in den Assoziierungsvertrag mit der EU eine Beitrittsperspektive für die Ukraine aufzunehmen, wird direkt mit dem weiteren Schicksal Tymoschenkos verbunden. Dennoch würde auch ein Einlenken der EU in dieser Frage nicht zu einer Freilassung führen. Diese Forderung, die der Vorgänger Wiktor Janukowytschs, Wiktor Juschtschenko, ebenfalls aufstellte, war einer der Gründe dafür, dass dieses Abkommen nicht bereits 2009 zustande kam. Die durch die ukrainische Seite initiierte Scheindiskussion über eine Beitrittsperspektive im Assoziierungsabkommen ist eindeutig als Janukowytschs Option zu bewerten, aus den Verhandlungen mit der EU auszusteigen und dabei sein Gesicht zu wahren. Klar wird dadurch jedoch auch, dass Wiktor Janukowytsch nicht begreift, dass eine solche Vorgehensweise bei Verhandlungen mit der Europäischen Union zumindest unüblich ist.
Die Erfüllung der Forderungen der Vertreter der Europäischen Union, Julia Tymoschenko die Teilnahme an den Parlamentswahlen 2012 und später an den Präsidentschaftswahlen 2015 zu ermöglichen, ist unwahrscheinlich. Das Problem besteht darin, dass die herrschende Führungsriege sich über diese Verfahrensserie die Option auf eine reguläre Machtübergabe verbaut hat. Denn jetzt eröffnet eine Wahlniederlage in der Ukraine gleichzeitig den Weg ins Gefängnis. Julia Tymoschenko hat bereits mehrfach angekündigt, dass Wiktor Janukowytsch dereinst für seine Taten ins Gefängnis kommen wird. Innerhalb dieser Konstellation ist also für die Partei der Regionen und Wiktor Janukowytsch die Abhaltung fairer Wahlen nicht mehr möglich. Sie werden mit allen Mitteln versuchen weiter an der Macht zu bleiben, um nicht der Rache der jetzigen Opposition ausgesetzt zu sein. Die Regierenden in der Ukraine werden demzufolge weiter versuchen Julia Tymoschenko als Druckmittel gegenüber der EU zu benutzen, sind jedoch nicht ernsthaft bereit auf EU-Forderungen einzugehen. Tymoschenko kann damit allenfalls über einen internen Deal in der Ukraine frei kommen. Ihre politische Partizipation ist jedoch vonseiten der ukrainischen Führung und insbesondere von Janukowytsch definitiv nicht mehr vorgesehen.
Janukowytsch vor zwei Integrationsangeboten
Die EU steht nun vor dem Dilemma, einerseits die Ukraine an sich zu binden, mittelfristig die Demokratisierung in der Ukraine voranzutreiben, die Ukraine nicht an Russland „zu verlieren“ und andererseits ihre eigenen Standards nicht aufzugeben. Nach dem Aufschub des Besuchs von Wiktor Janukowytsch in Brüssel am 20.10.2011 war die Freude auf russischer Seite offensichtlich. Dort besteht nun ernsthaft die Hoffnung, die Ukraine in die neuen „integrativen“ Projekte von Wladimir Putin einbeziehen zu können. Der Artikel Wladimir Putins vom 03.10.2011 in der Zeitung „Iswestija“ nach seiner Kür als neuer Präsidentschaftskandidat war demnach vor allem an die ukrainischen Eliten gerichtet. Vorher wurden Janukowytsch, so wird jedenfalls in der ukrainischen Opposition spekuliert, von Putin neue Argumente für den russischen Vektor bei ihrem Treffen am 24. September vorgelegt. Mit dem Aufschub der Reise Janukowytschs nach Brüssel wurden die EU-Kritiker innerhalb der ukrainischen Führung bestärkt; sie können nun mit noch größerem Nachdruck konstatieren, dass in der EU niemand auf die Ukraine warte. In Russland hingegen wartet man auf die Ukraine. Zu bieten hat man dort aber nur wenig. Dennoch wurde in den letzten Tagen in vielen Verlautbarungen von offizieller Seite eine Integration in die Zollunion zumindest nicht mehr ausgeschlossen.
Wiktor Janukowytsch kann jedoch unterstellt werden, dass er weiterhin nicht zum Statthalter von Russlands Gnaden im kleinrussischen Gouvernement werden möchte. Die Aussicht auf billigeres Gas ist zwar ein Argument für den Beitritt zur Zollunion, ist jedoch gleichzeitig wenigstens an die Aufgabe der Kontrolle über das ukrainische Gastransportsystem geknüpft. Die angestrebte Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft kann auch nur mit westlicher Technologie erfolgen. Russland ist in dieser Hinsicht weiterhin ähnlich rückständig wie die Ukraine. Andererseits würde sich Wladimir Putin, im Gegensatz zur EU, nicht an zweifelhaften Wahlen in der Ukraine stören – im Gegenteil. Die oft kolportierte persönliche Abneigung zwischen Wladimir Putin und Wiktor Janukowytsch würde dabei auch in den Hintergrund rücken. Das Hauptargument für eine Abkehr von der EU-Integration ist demnach die zweifelhafte Garantie für „ein weiter so wie bisher“.
Hinter diesem zweifelhaft selbstbewussten Auftreten steht die Überzeugung, dass die Ukraine über genügend eigene Ressourcen (Rohstoffe, Arbeitskräfte, Forschung) verfügt, um allein ohne die Europäische Union und ohne Russland bestehen zu können. Sollte sich Brüssel nicht erpressen lassen, werden sich auch die Beziehungen zu anderen Institutionen des Westens, wie der Weltbank und dem IWF noch mehr verschlechtern und von diesen Institutionen sind die Finanzen der Ukraine extrem abhängig.
Spätestens im September 2011 geriet die Hrywnja verstärkt unter Druck. Im Zuge der Krise der Staatsfinanzen in Europa begann sich die ukrainische Bevölkerung auf eine weitere Verschlechterung – der ohnehin sehr angespannten wirtschaftlichen Verhältnisse – in der Ukraine einzustellen. Daher erhöhte sich der Import von langlebigen Wirtschaftsgütern und es wurden verstärkt Hrywnja-Ersparnisse in Devisen getauscht. Allein im September musste die Zentralbank einen Rückgang der Devisenreserven um 3 Milliarden US-Dollar melden. Im Oktober schwächte sich der Devisenabfluss ab und trotzdem verfügte die Zentralbank Ende Oktober nur noch über knapp 34 Milliarden US-Dollar,. ohne Aussicht auf einen neuen Kredit aus dem Westen. Einzig China erklärte sich anscheinend bereit der Ukraine einen Kredit zu gewähren. Die sich bereits seit längerem abzeichnende weltweite konjunkturelle Abschwächung wird über das Einbrechen der ukrainischen Exporte die ukrainische Führung zu einer Reaktion zwingen. Sollten dann die Türen in Brüssel und Washington verschlossen sein, wird ihr wohl nur der Kotau in Moskau übrigbleiben. Die EU muss auf diesen Fall vorbereitet sein und soweit es ihr aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Probleme möglich ist, der Ukraine entsprechende Angebote unterbreiten.
Der Präsident Janukowytsch steht heute vor der Wahl zwischen zwei ernsten Integrationsangeboten von der EU und Russland. Er muss sich dabei zügig für eine der beiden Optionen entscheiden, andernfalls drohen der Ukraine Selbstisolation und eine zweifelhafte „Multivektor-Außenpolitik“ a la Lukaschenko. Heute ist ein Vertragsabschluss mit Russland jedoch wahrscheinlicher als eine Einigung mit der EU über das Assoziierungsabkommen, die Beitrittsperspektive und Tymoschenko. Für die Einigung mit Russland würde die Ukraine jedoch einen hohen Preis zahlen und interne Machtkämpfe würden sich verstärken. Ob Janukowytsch und seine Führungsriege sowie die Partei der Regionen dann weiter in ihrer bisherigen Form bestehen bleiben, ist stark zu bezweifeln.
Der Beitrag erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung