Jurij Andruchowytsch über „Radio Nitsch“ („Radio-Nacht“): Ich habe immer davon geträumt, einen Roman zu schreiben, der klingt


Zum ersten Mal habe ich von Jurij Andruchowytsch über „Radio Nitsch“ (Radio-Nacht) schon im Mai 2017 während der Buchmesse „Buch-Arsenal“ gehört. Jurij erzählte, dass die Handlung des Romans in einem altmodischen Grand Hotel irgendwo in den Alpen spielt. Die Hauptfigur des Romans soll der Pianist dieses Hotels werden, der die Gespräche der Barbesucher belauscht, indem er etwas vor sich hin spielt.

Von diesem Vorhaben ist nur noch das Hotel in der Schweiz geblieben, und dieses nur in einem Mini-Theaterstück. Stattdessen ist der Pianist aber zu einem Rock-Musiker geworden und statt der ruhigen vertraulichen Atmosphäre sind stürmische Ereignisse zur Zeit der Revolution, die diesmal eine Niederlage mit allen entsprechenden Folgen für den rebellierenden Protagonisten erleidet.

Höchstwahrscheinlich verbirgt sich in solchen „Ungereimtheiten“ zwischen dem Vorhaben und seiner Ausführung die Magie der Literatur, zumindest für den Schriftsteller.

Jurij, in Ihrem Roman haben die Leser schon die ganze Vielfalt der literarischen Gattungen gesehen: Schelmenroman, Liebesroman, Fantasy, Abenteuerroman, Dystopie… Zu welcher Version neigt der Autor selbst?

Der Schriftsteller und Philosoph Wolodymyr Jermolenko, der als einer der ersten „Radio-Nacht“ gelesen hat, hat eine Definition gegeben, die mir persönlich am besten gefällt – akustischer Roman. Das hat ins Schwarze getroffen. Ich habe immer davon geträumt, einen Roman zu schreiben, der klingt. Vor allem mit Musik und Sprache. Im Großen und Ganzen ist die Musik auch eine Sprache und die Sprache ist auch Musik. Das ist eine sehr wertvolle Möglichkeit für einen Schriftsteller, der so viele Konzerte zusammen mit Musikern gespielt hat und unzählige Stunden zusammen mit ihnen auf den Proben gearbeitet hat. Ich würde sagen, dass das die Möglichkeit ist, die musikalischen Eigenschaften der Sprache und die sprachlichen Eigenschaften der Musik aufzudecken.

Mir ist ein überraschendes und kühnes Detail in „Radio-Nacht“ aufgefallen. Im Text wurde ein paar Mal das Verschwinden der russischen Sprache als eine vollendete Tatsache unserer Zeit erwähnt. Haben Sie schwerwiegende Gründe für eine solche Meinung?

Dort gibt es nichts über ihr Verschwinden. Sie existiert auch weiterhin, aber sie wurde offiziell umbenannt. Jetzt heißt sie ‚die Sprache, die früher Russisch genannt wurde‘. Jeder Leser kann für sich selbst eine Erklärung suchen, was das bedeutet und warum es so passiert ist. Ich mag es, wenn die Leser ihre eigene Einbildungskraft einschalten und alles auf ihre eigene Art und Weise betrachten. Dieses Detail ist in der Tat sehr marginal, aber angesichts dessen, dass nicht nur Sie nach ihr fragen, hat es etwas in sich. Es macht neugierig. Das heißt, es hat das Potenzial für Einbildungskraft.

Einerseits ist die Hauptfigur des Romans Jossyp Rotskyj ein Patriot, Revolutionär, der sein Leben riskiert, indem er während der revolutionären Ereignisse Klavier spielt. Anderseits ist er ein ziemlich egoistischer, selbstfixierter Mann, der seine Karriere in Pornofilmen angefangen hat. Ist das also der Held unserer Zeit?

Ich kann Ihren Einschätzungen nicht zustimmen. Egoistisch, selbstfixiert? Ich würde sagen, dass er selbstlos und mutig ist. Er ist fähig, Foltern durchzustehen und nicht einzuknicken. Er ist immer bereit sein Leben für so eine inopportune, sehr späte Liebe zu riskieren. Er ist selbstironisch, vernünftig, zurückhaltend, aber gleichzeitig jähzornig. Dem Aussehen nach ist er kalt, aber zugleich fehlt ihm zumindest das selbstsichere Auftreten.

Spielte er in jungen Jahren in Pornofilmen? Na und? Ist das „kompromittierendes Material“? Sowas kann man höchstens beneiden. 😀

Und das Wichtigste: Er ist die Verkörperung des Gehörs, nicht des absoluten Gehörs, aber des absolut feinen Gehörs. Ist das nicht der Held unserer Zeit, in der es mit dem Gehör immer schlechter wird und wir aufhören, überhaupt einander zu hören?

Jossyp Rotskyj wohnt eine gewisse Zeit lang in der Stadt Nossorohy unweit der Karpaten, wo es Berge und Täler, und Fahrradrikschas und Elektrocars, und sogar eine Greta-Thunberg-Straße gibt… Ist das Ihr Konzept der ideellen Stadt der Zukunft?

Das ist keine Stadt der Zukunft und gar nicht ideell. Das ist eine typische moderne Stadt irgendwo in der EU. Solche Städte gibt es wahrscheinlich Hunderte in der Slowakei und Slowenien, Ungarn und Rumänien, in Polen und Tschechien. Und vielleicht auch westlicher. Aber westlicher gibt es keine Karpaten mehr. Aber bei mir sind die Karpaten ziemlich relativ. Überhaupt ist die Geografie im Roman teilweise fiktiv. Sie ist sozusagen alternativ.

Obwohl der Erzähler die globale Erwärmung ein bisschen verspottete, indem er sie globale „Verbrennung“ nennt, scheint es mir nichtsdestotrotz, dass Sie sich wegen dieses Problems ernsthaft Sorgen machen.

Ja, natürlich. Wie kann man sich keine Sorgen machen, wenn es draußen Mitte Januar ist und wir noch keinen Schnee gesehen haben? Und natürlich die Pandemie, aus der wir immer noch nicht herausfinden können. Das ist eine der offensichtlichsten Bekundungen des Ungleichgewichts zwischen der menschlichen Tätigkeit und der Natur. Ich habe die letzten Zeilen des Romans „Radio-Nacht“ im Februar letzten Jahres geschrieben, als das Virus sich uns in Riesenschritten näherte. Schon damals schien es, dass das eine komplett andere Erfahrung sein wird. Vielleicht deswegen fliehen im letzten Teil des Romans Rotskyj und Anime die ganze Zeit vor der rasenden Hitze und folglich vor riesigen Waldbränden.

Ziemlich oft erinnert der Text „Radio-Nacht“ an eine Predigt – mit christlichen Motiven und vielseitigen Anspielungen auf gewisse Tatsachen oder Personen. Ist das nicht etwa der Anfang der „Heilsbotschaft von Andruchowytsch“?

Falls da irgendwelche Elemente einer Predigt gelesen werden können, dann überwiegend einer Parodiepredigt. Was aber nicht bedeutet, dass eines der Hauptmotive – der Protagonist zerreißt sich seit Kindheit zwischen Gott und Teufel (im Roman entsprechend zwischen dem Vater und dem besten Freund) – auch eine Parodie auf dieses ewige „faust’sche“ Dilemma ist.

Schließlich mussten Protagonisten in allen meinen Romanen den Kontakt mit dem „besten Freund“ aufnehmen. Aber sie schafften es auch den Kontakt aufzugeben, ohne sich zu verkaufen.

Würde Bibliothekar Borges Sie bitten, nach Ihrem eigenen Ermessen das Bücherregal zu ordnen, wo „Radio-Nacht“ schon steht, welche Bücher würden daneben stehen?

Selbstverständlich würden sich dort die zwei Bücher befinden, aus denen ich Epigraphe entnommen habe und die von Zeit zu Zeit in der Handlung vorkommen. Das sind Robert Walsers „Der Spaziergang“ und das „Tibetische Totenbuch“. Dazu kommen Prosa und Dichtung von Edgar Allan Poe, Herman Melvilles „Moby Dick“, E. T. A. Hoffmanns Märchen und der schon erwähnte „Faust“.

Außerdem würde es dort Borges selbst, mit seinen Essays, geben.

Unabhängigkeit vom Netz“ ist einer der Lebensgrundsätze von Jossyp Rotskyj. Es ist bekannt, dass Sie kein Profil in keinem sozialen Netzwerk haben oder je zuvor gehabt haben. Was ist, Ihrer Meinung nach, die größte Gefahr dieser modernen Erscheinung?

Das Wort „Gefahr“ ist wahrscheinlich übertrieben. Obwohl der Romanheld Jossyp Rotskyj, der sich ständig in der Zone der Ausspähung befindet, tatsächlich Gründe gehabt hat, um genau dieses Wort zu benutzen.

Was mich persönlich betrifft: Ich finde, dass es ein wesentlicher Nachteil der sozialen Netzwerke ist, dass sie uns einen Schein der Kommunikation schaffen, indem sie die wirkliche Kommunikation aus unserem Leben verdrängen.

Sie lenken uns sehr aggressiv von etwas Wichtigerem, Echtem und Sinnvollem ab.

Wir schaffen uns tausende Friends, Followers etc. an. Aber das sind alle keine echten Menschen, sondern genauer gesagt nur ihre digitale Versionen, sehr vereinfacht und flach, so ein Ersatz. Ersatz-Menschen, die nur mit Ersatz-Kommunikation beschäftigt sind – was kann trauriger sein?

Trauriger kann vielleicht nur noch die Unfähigkeit oder Unmöglichkeit sein, sich dieses Sachverhalts bewusst zu sein. Gut. In Ihren vorherigen Büchern sind sehr markante und überzeugende Antagonisten. Theophil in „Radio-Nacht“ setzt diese Tradition würdig fort. Verraten Sie uns das „Rezept“ eines gelungenen Antihelden.

Wer wird denn seine gelungenen Rezepte verraten? 😀 Sobald ich sie verrate, werden mir alle diese Bösewichte nicht mehr gelingen.

Nein, ernsthaft: ich glaube, dass es keine Rezepte gibt. Sie schreiben einfach einen wirklichen Menschen. Sie fangen an, ihn zu sehen, zu spüren. Sie können von ihm in der Nacht träumen. Sowohl Protagonisten als auch Antagonisten und alle anderen können Sie einfach im Traum sehen oder sich einbilden.

Im Roman wird viel Aufmerksamkeit Geheimorganisationen gewidmet. Ist das der Tribut der heutzutage populären „Verschwörungstheorien“ oder läuft alles wirklich darauf hinaus?

Es ist nicht so, dass ich an „Verschwörungstheorien“ Gefallen habe, eher umgekehrt. Ich gehöre zu denjenigen, die denken, würden die „Verschwörungen“ über die Schicksale unserer Welt entscheiden, würde sie nicht so chaotisch sein.

Aber zugleich ist das keine so schlechte Sache für die Handlungsentwicklung. Wenn man einen Roman schreibt, kann man sich das Spielen mit „Geheimorganisationen“, „Geheimdiensten“ usw. leisten.

Und später am Schluss des Romans kann man sie auslachen, indem man lustig alle vorherigen Vorstellungen des Lesers (und übrigens auch die eigenen) zerstört.

Stellen wir uns vor, dass Sie die Möglichkeit einer einmaligen Übertragung mit dem schon bekannten Label „Radio-Nacht“ haben. Über was wird Ihre erste und einzige Sendung sein?

Nein, warum soll ich mich mit einer ersten und einzigen Sendung beschränken? Früher oder später werde ich allerdings mein eigenes nächtliches Radio eröffnen, sicherlich mit dem gleichen Namen.

Ich werde dort beliebte Musik übertragen, sie kommentieren, Gedichte der besten Dichter lesen und Geschichten erzählen.

Eine einzige Übertragung stellt mich gar nicht zufrieden. 😀

13. Januar 2021 // Oleh Poljakow, Schriftsteller

Quelle: Ukrajinska Prawda Schyttja

Übersetzerin:   Alina Onopriienko  — Wörter: 1479

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