Jurij Luzenko: Die Ukraine der widerspenstigen Seelen
Auf die letzten Jahre zurückblickend, meine ich, dass die Theorie der Konfrontation zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine mehr als alles andere der Ukraine geschadet hat. Gefangen in diesem Schema haben wir viele Fehler begangen. Und ich auch.
Jetzt sind beide Hälften quitt: sich gegenseitig zum Trotz wählten sie nacheinander ihre eigenen verständnislosen Führer, die offen den Leuten in die Seele spuckten und ihre Taschen umkrempelten.
Also ist die Zeit einer Neubewertung gekommen.
Ich denke, dass die Ukraine tatsächlich geteilt ist, doch anders, nicht nach sprachlich-historisch-religiösen Prinzipien. Die gesamte Geschichte der Ukraine besteht aus dem Kampf zwischen dem europäischen und dem asiatischem Modell des Staates und der Gesellschaft.
Seit dem 13. Jahrhundert wurde Danilo Galizkij für die einen zum Helden, für die anderen Alexander Newskij. Der eine wählte das Leben im Aufstand und der Erwartung der herrschaftlichen Krone, um gemeinsam mit den europäischen Verbündeten der (Goldenen) Horde den eigenen Staat abzuringen. Der andere ertrank im Blut der eigenen, um vom Khan den Anhänger der Macht und das Bucharaer Scheitelkäppchen mit der stolzen Bezeichnung „Mütze des Monomachs“ zu erhalten.
Das sind unsere zivilisatorischen Scheidewege: Teil der Horde zu werden oder trotzig für das eigene zu kämpfen. Oft ohne Chancen auf den Sieg, doch mit dem Gefühl der eigenen Würde. In allen Zeiten hat diese Wahl zwischen Zusammenarbeit und Widerstand Helden geboren, die mit Blut und Glauben das schiefe Rad der ukrainischen Geschichte vorangetrieben haben.
Von dort kommen Chmelnizkij, Sirko und Masepa, Schewtschenko, Lesja Ukrainka und Franko, die Sitscher Schützen, die Leute der Cholodnij Jar Republik und der Machnowschtschina, Konowalez, Kowpak, Grigorenko, Lukjanenko, Gorini und Tschornowil, Stus, Lina Kostenko. Die Ukraine der widerspenstigen Seelen, des lodernden Feuers des nationalen Willens und der menschlichen Würde, lebte zu allen Zeiten.
Sie wurde vom polnischen Säbel und der zaristischen Axt niedergehauen, wurde mit dem stalinistischen Horror des Golodomors und der kommunistischen geistigen Sklaverei gewürgt. Öfter als andere und schmerzhafter als alle anderen waren die eigenen. Vor dem Ende des tragischen 20. Jahrhunderts schien es, dass diese widerspenstige Ukraine im Blut ertränkt wurde und später im Küchenkonformismus.
Doch das Jahr 1991 gab uns allen die Chance. Bezeichnend ist, dass die alten zivilisatorischen Scheidewege in den Handlungen zweier ukrainischer Vorsitzender der Werchowna Rada erneut wiederhergestellt wurden. Iwaschko wählte Moskau und Krawtschuk die freie Ukraine.
Die Chance den eigenen Staat zu errichten, fiel den Ukrainern in schweren Zeiten zu. Man braucht nur daran zu erinnern, dass die Ukraine und Belarus die einzigen sind, die nach 1991 eine Staatlichkeit schufen. Die anderen – von Tschechien bis Litauen – stellten den vorher verlorenen Status wieder her.
Dank Gott und den Helden wurden bei uns die Traditionen der Ukrainischen Volksrepublik, der Westlichen Ukrainischen Volksrepublik und der nationalen Intelligenz bewahrt. Mit dieser Kerze ging man tastend in der Finsternis des postsowjetischen Halbfriedhofs in das unbekannte Europa.
Die Ereignisse der Jahre 1991 und 2005 zeigten, dass es nicht gelang automatisch die kommunistische Tradition mit dem demokratischen Modell auszuwechseln. Der Vergiftungsgrad der Eliten und der Gesellschaft erwies sich als bedeutend größer, als man sich vorstellen konnte.
Ich denke nicht, dass das Problem in der nichtdurchgeführten Durchleuchtung der kommunistischen Funktionäre und der Angehörigen des Geheimdienstes lag. Wie die Erfahrung zeigte haben die weit von ihnen entfernten Lewtschenkos, Swaritschs und Tschernowezkijs den neuen Staat konsequenter vernichtet, als die alten Tschekisten und Stalinisten.
Die Massennostalgie nach der autoritären Ordnung, die Bereitschaft die Freiheit mit der Wurst zu tauschen, die Weigerung die betrügerischen imperialen Mythen zurückzuweisen zeugen davon, dass das Problem der nationalen Wiedergeburt sich als bedeutend tiefer erwiesen hat, als die Überwindung des Widerstandes der „Ehemaligen“. Wie schwer es auch sein mag, aber man muss zugeben, dass wir alle in dem einen oder anderen Grad der Sünde der totalitären pseudeokommunistischen Praktiken, welche die Ukraine physisch und geistig vernichten, schuldig sind. Die Sünde der schweigenden Zustimmung, wie auch die Sünde der unmittelbaren Beteiligung, betrifft, mit einzelnen Ausnahmen, Millionen Ukrainer. Von mir selbst weiß ich, wie schwer es zu begreifen ist, doch ohne Anerkennung dieser traurigen, historischen Tatsache und der Reue können wir den Widerstand dieses vom Wesen her sklavischen Modells der Ukraine als Teil der Horde nicht überwinden.
Es reicht nicht Stalin und dessen Nachfolger im Kreml zu verfluchen. Es ist unvernünftig alle Probleme auf das deformierte Bewusstsein eines Teils der ukrainischen Gesellschaft umzulegen, der unter Bedingungen der gestohlenen nationalen Freiheit und Vernichtung der Persönlichkeit aufgewachsen ist. Bevor wir für uns die Ukraine zurückholen, müssen wir uns selbst als normale, moderne Europäer mit einem Gefühl der eigenen Würde und Verantwortung für das eigene Haus zurückholen.
Meiner Meinung nach muss man einen landesweiten Akt der historischen Reue und des Einverständnis für die Zukunft der Ukraine beschließen. Dessen Sinn besteht im Ende der Sünde des Kommunismus und dem gesetzlichen Verbot jeglicher Propaganda und Praxis der totalitären Vergangenheit.
Das Beispiel des Nachkriegsdeutschlands, welches, halb vernichtet, in sich die Kraft für die moralische Verurteilung und Säuberung fand, ist ein ausdrucksvoller Beleg dafür. „Die schnelle Wiedergeburt Deutschlands nach 1945 und die lange Stagnation Russlands nach 1991 stehen fraglos mit der Demut der ersteren und der Hochmut der letzteren zusammen“, schreibt der französische Historiker Alain Besancon.
Wir errichten die Ukraine unter den Bedingungen des Pluralismus und haben kein Recht auf eine Politik des „Feuers und des Schwerts“, mit der vor langen Zeiten alle Staaten Europas – von Spanien zur Zeit der Reconquista bis Polen zur Zeit der Pazifizierung – errichtet wurden.
In der heutigen Ukraine haben die Leute ein vollständiges Recht auf jegliche Überzeugung – leider sogar auf antiukrainische. Doch das Recht den Staat zu lenken, eine Fortsetzung des Bürgerkrieges aufzuzwingen, der in der Vergangenheit wurzelt, das Recht Landsleute zu verstümmeln, und dies sogar mit staatlichen Mitteln, kann man ihnen nicht geben!
Lina Kostenko hat hundertmal Recht: das unbestrafte Böse regeneriert sich wieder! Die moralische Verurteilung und Reue stoppt die Degradierung des Projekts der europäischen Ukraine. Die Skelette der Vergangenheit in blutigen Budjonnymützen sollen den 46 Mio. Ukrainern das normale Leben nicht nehmen.
Ich wiederhole mich: das Problem besteht nicht in den Unterschieden zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine. Die Tradition der freiheitsliebenden Odessiten, Charkower und der Dnepranwohner ist nicht schwächer als die der Lwower und der Wolhynier. Ein Teil der Ukraine lebte glücklicher in der aufgeklärten Monarchie von Lwow bis Venedig, wo es ukrainische Schulen und objektive Gerichte gab und ein Parlament gewählt wurde. Der andere musste in der zaristischen Despotie überleben, wo „vom Moldawier bis zum Finnen alle in allen Sprachen schweigen, aber prosperieren“.
Geographisch-politische Unterschiede gibt es in allen größeren europäischen Ländern – in Deutschland, Italien, Spanien, Frankreich. Doch sie haben eine allgemeine Sicht auf die Zukunft. Und wir in der Ukraine haben kein Problem in den regionalen Konflikten der Sprachen oder Konfessionen, sondern im Antagonismus der beiden Zukunftsmodelle – Demokratie und Despotie, Konkurrenz der freien Leute und Konzentrationslager mit einem „weisen“ Führer.
Heute ist dieser Unterschied gut zu sehen, wie niemals zuvor. Wir sind erneut in der Sackgasse einer totalitären Struktur. Die letzten Ereignisse zeugen davon, dass alles sogar schlimmer ist, als in der Zeit von Kutschma.
Nach den letzten Präsidentschaftswahlen ist die schleichende Restaurierung der Sowjetisierung im Kleid der Stabilisierung von den Stalindenkmälern und den Tänzen mit roten Flaggen in die unbegrenzte Macht der kriminellen Oligarchie übergegangen, die alle staatlichen Strukturen für die Unterdrückung und Ausraubung der Gesellschaft nutzt.
Alle, außer der Kirche, unterliegen der Tributzahlung für den Khan (der dritte Buchstabe des Worts Chan ist seit einer gewissen Zeit nicht mehr „n“, sondern „m“ [im Russischen/Ukrainischen Wort für Rüpel, Bauer A.d.Ü.]), und wenn dann raucht die Kirche den Weihrauch der Geistigen Internationale der Einheit der „Welt der Horde“ (Anspielung auf die russische Welt A.d.Ü.).
Eben diese Union der vom Wesen her totalitären, antiukrainischen Ideologie und kriminellen Praxis der Machthaber ist die Hauptherausforderung des 20. Jahrestages der wiedergeborenen Ukraine.
Jedoch braucht man nicht in Verzweiflung zu verfallen. Die Geschichte ist ein weiser Lehrer. In den Erinnerungen Marco Polos las ich irgendwie, dass die damaligen (und das ist das 13. Jahrhundert) chinesischen Verbrecher, die Angst vor der brutalen Folter für Gesetzesübertretungen hatten, Gift bei sich trugen, um es bei einer Festnahme unverzüglich zu schlucken. Doch die damaligen Ordnungshüter wussten davon und trugen ein Stück Hundekot bei sich, den sie geschickt den festgenommenen Verbrechern in die Kehle steckten, damit dieser das Gift herausbrach.
Janukowitsch und dessen Kleptokraten beobachtend, bin ich mehr davon überzeugt, dass sie die Rolle eines spezifischen Gegengifts erfüllen, unter dessen Einfluss die kranke ukrainische Gesellschaft sich endlich vom Gift des Horden-Modells der Ukraine reinigen soll.
Die Hauptsache ist die Angst, die Gleichgültigkeit und die Verzagtheit abzulegen. Ich verachte Juschtschenko nicht für die Untätigkeit auf seinem Posten, sondern dafür, dass er den Ukrainophoben die Haut des vom Maidan erschlagenen Drachen verkauft hat. Das Gefühl, dass alles käuflich ist und alle sich fürchten, ist eine nahrhafte Umgebung für die Neostalinisten. Daher rasen sie, wenn es bei jemandem feste Überzeugungen gibt und er unter dem Druck von Drohungen nicht wegläuft, sondern das Gefängnis wählt.
In diesem Kontext ist die Verhaftung Timoschenkos – die Unmöglichkeit ihre Autorität und Ergebenheit der Sache gegenüber zu vernichten – der Beginn des Endes des Regimes.
Obgleich die Mathematiker sagen, dass dies eine notwendige, doch keine hinreichende Bedingung für die Erweckung der Ukraine ist.
Folge ihres kolonialen Status im Verlaufe von Jahrhunderten wurde die ständige Neigung der Gesellschaft zu einfachen Lösungen von schwierigen Problemen, der Wunsch die Verantwortung für Veränderungen auf Führer zu legen. Sogar der Ausbruch der Volksenergie in der Zeit der Orangen Revolution änderte nur die Personen an der Macht, doch änderte die Gesellschaft wenig. Treffend schrieb darüber der Essayist Jurij Prochasko: „An die Magie des Maidans glaubend, dachten wir, dass er uns mit Bewegung versorgt, als ob der Wind ins Segel bläst und das Schiffchen sich von selbst bewegt. Doch man hätte rudern sollen“.
Die Hauptsache ist heute (wie gestern) nicht so sehr das Gesicht des Oppositionsführers, sondern die Schaffung einer effektiven gesellschaftlichen Kontrolle über die Arbeit der Politiker. Die europäische Ukraine beginnt bei jedem. Dies ist das Land, wo die Bürger frei sein wollen und täglich bereit sind dafür mit jeder Regierung zu kämpfen. Denn wenn im Staubsauger der Beutel mit Staub gefüllt ist, dann reinigt man ihn. Das ist leicht zu begreifen. Schwerer ist es täglich zu handeln.
Die Zeiten des blinden Glaubens an strahlende Führer sollten der Vergangenheit angehören, einem rationalen Dialog des arbeitgebenden Volkes mit dem angestellten Team der Reformer Platz gebend. Es reicht bereits nicht mehr aus die Altersschwäche und die Megakorruption der Regierung Janukowitsch zu zeigen. Man benötigt einen konkreten, quartalsweise vorgeschriebenen Plan einer Eurosanierung der Ukraine, den die vereinte Opposition der Gesellschaft vorlegen soll.
Natürlich sollten in diesem Programm die ukrainische Identität, die politischen Freiheiten, die Oberhoheit des Rechts und die wirtschaftliche Konkurrenz anerkannt werden. Doch ich wünschte mir sehr, dass die Basis unserer Eurosanierung nicht nur das Bruttoinlandsprodukt, sondern auch der Bruttoinlandsoptimismus, die Liebe und das Glück sein werden.
Die Ukraine hat das verdient!
16. August 2011 // Jurij Luzenko, ehemaliger Innenminister der Ukraine aus dem Lukjanowkaer Untersuchungsgefängnis in Kiew
Quelle: Serkalo Nedeli