„Von Kiew ist es nicht weit, aber Besuch bekommen wir keinen.“



Im Zuge der Fortsetzung des Projekts „Das Alter stärken“ besuchten wir ein Altersheim in der Siedlung Nastaschka.

Das gemeinsame Sozialprojekt von ‚Westi‘ (Nachrichten) und ‚Reportjor‘ mit dem Ziel, Rentnern in Altersheimen Hilfe anzubieten, geht weiter. Einmal im Monat fahren unsere Korrespondenten heraus in verschiedene Städte, um mit eigenen Augen zu sehen, wie die einsamen Alten leben, was sie benötigen, wovon sie träumen. Wir hoffen, dass sich unserem Projekt diejenigen anschließen, denen das Schicksal der Menschen, die ihren Lebensabend innerhalb staatlicher Mauern verbringen müssen, nicht egal ist.

„Zu uns kommen wenige“, so freut sich die Leiterin des Altenheimes in der Siedlung Nastaschka (Oblast Kiew) über unseren Besuch. „Es kommt vor, das Gläubige kommen, die den Großmüttern von Gott erzählen. Zu Neujahr kam ein Abgeordneter des Oblastrats. Und das waren auch schon unsere Gäste. Und dass, wo wir doch – mit zwei Stunden Fahrtzeit – wirklich nicht weit weg sind von der Hauptstadt. Und nach Belaja Zerkow sind es gerade mal 30 km.“

Das Altersheim ist verhältnismäßig klein. Momentan leben hier alles in allem neun Menschen, von denen nur vier nicht bettlägerig sind. Der jüngste von ihnen ist der 62-jährige Opa Sascha. Seine Frau starb, das Haus fing an zu verfallen, Geld und Kraft für die Reparaturen hatte er nicht. Die hochbetagte Anastasija Jewdokimowna ist 97 Jahre alt. Mittlerweile zählt sie zu den bettlägerigen Bewohnern, aber vor zwei Jahren bat sie sich noch aus, nach Hause zu fahren ‚in die Ferien’. „Aber es kommt auch sowas vor: Eine Großmutter feierte bei uns ihren 101. Geburtstag. Sie hatte so einen humorvollen Spruch: ‚Ich habe alle Zaren überlebt.’“, erzählt uns die Leiterin. „Jeder hat ein anderes Schicksal, aber alle brauchen menschliche Wärme und Austausch.“

Das Gebäude, in dem die Alten untergebracht sind, wurde vor 60 Jahren gebaut. Das Dach wurde seitdem kein einziges Mal ausgebessert. Darüber, wie lange die Schieferplatten noch durchhalten, möchte keiner etwas sagen. „Die Elektroinstallationen müssen ausgetauscht werden. Und dazu zählen wir noch nicht mal die Waschmaschinen und Boiler“, sagt Jelena Andrejewna. „Gerade jetzt ist die Kälte hereingebrochen, aber es ist unmöglich die Heizung anzuschalten. Aber nicht, weil wir sparen müssen. Bei uns muss alles zusammenpassen mit den Fristen und den Normen, die Kiew für den Strom- und Gasverbrauch festlegt. Aber wir kommen kaum damit hin. Dadurch hatten wir im letzten Winter in den Zimmern Temperaturen bis 18ºC. Die Alten haben unter zwei Bettdecken geschlafen.“

Die Eheleute Ljudmila Polikarpowna (76 Jahre) und Grigorij Iwanowitsch (64 Jahre) haben sich hier, im Altersheim, kennengelernt und sind nun schon zwölf Jahre zusammen. „Ljuda, die seit ihrer Kindheit eingeschränkt ist, lebte immer mit ihren Eltern und es fiel ihr sehr schwer, sich an unsere Struktur hier zu gewöhnen. Sie hatte schon ein Jahr bei uns verbracht, als Grischa ankam. Er hat keine Beine und damals hatten wir keinen Rollstuhl zur Verfügung, also brauchte er permanent Hilfe. Und dann sahen wir, dass Ljuda mal mit ihm spazieren ging, ihm mal Zigaretten kaufte, ihm mal ein Buch vorlas. Sie wurde wirklich Grischas zweite Hälfte. Nach einiger Zeit ließen sie sich standesamtlich trauen und bald darauf auch kirchlich. Sie sagten dann: „Jetzt kann uns wirklich keiner mehr trennen“, erzählt Jelena Gardaman.

„Er ist ein guter, ein unschuldiger und versöhnlicher Mensch. Als er im Krankenhaus lag, habe ich mich um ihn gekümmert. Irgendjemand musste ihm doch die Wäsche waschen, seine Wunde säubern. Und wenn ich krank bin, dann hilft er mir. Bringt mir ein Glas Wasser. Solche Kleinigkeiten. Aber hier bedeutet das eine Menge“, bekennt Ljudmila Poliparkowna.

„Ich habe selbst darum gebeten, hierher zu können. Mein Sohn ist 60 Jahre alt. Wie soll er sich um mich, das Haus und den Gemüsegarten kümmern?“, rechtfertigt sich Pjotr Fjodorowitsch. Die Krankenschwester gibt aber zu, dass der Sohn ihres Schutzbefohlenen ein starker Trinker ist. „Der Großvater hat einfach Angst mit ihm zu leben. Es kommt bei uns nicht selten vor, dass Angehörige die Alten schlagen und ihre Rente kassieren.“ Doch Pjotr Fjodorowitsch diente zu seiner Zeit in Fernost und ist 25-mal mit dem Fallschirm gesprungen. Zu klagen ist einfach nicht seine Art. Außer wenn es um sein Gedächtnis geht: „Ach, ich vergesse schon alles… Tabletten für mein Gedächtnis, das wäre schon gut.“

„Glücklich war ich nur in meiner Kindheit, in der Nähe meiner Mutter. Ich war unglücklich verheiratet. Also, er war schon ein guter Kerl, aber er hat getrunken und sich oft geprügelt. Kinder hatte ich zwei. Die sind vor kurzem gestorben. Ach, und wie ich geweint habe. Erst seit kurzem bin ich wieder etwas zu mir gekommen und denke mir: ‚Andererseits kann ich meinen Nachbarn auch bis zum Morgengrauen von meinem Leben erzählen’“, gibt die 76-Jährige Wera zu. Die Krankenschwester fügt noch hinzu: „Wenn die Großmütter bei uns aufgenommen werden wollen alle ein Einzelzimmer, denn sie sind ja gewöhnt an die Einsamkeit. Aber nach zehn Tagen etwa bitten alle in ein Zimmer mit weiteren Bewohnern umziehen zu können. Und es kommt auch vor, dass sie nicht einschlafen können. Dann vertreiben sie sich bis tief in die Nacht die Zeit mit Gesprächen.“

„Was soll ich denn über mein Leben erzählen? Das ist eigentlich kein Leben. Es gab da zwei Ehemänner, beide tranken. Ich habe drei Söhne zur Welt gebracht, sie aufgezogen, ihnen alles gegeben. Aber dann kam das Alter und weder sie noch meine Schwiegertöchter brauchen mich. Weder mich noch meine Rente. Und sie haben mich dann auch vor einigen Tagen hierhergebracht“, erzählt die 84 Jahre alte Großmutter Anja schmerzvoll. Sie wischt ihre Tränen weg, wendet sich an die Krankenschwester: „Ihr habt es schwer mit uns, Mädchen. Wir sind kranke Leute. Sag das nicht so, leg das nicht dorthin – dann brechen wir einen Streit vom Zaun. Und all das haltet ihr aus. Danke euch.“

Was im Altersheim benötigt wird:

Kontakte:
Gebiet Kiew, Nastaschka, uliza Zentralnaja 6
Leiterin: Jelena Andrejewna Gardaman
Tel. +380 (97) 998-86-29

Kontakt zum Autoren: Vlad_Abramov{ät}vesti.ua, Tel. +380 (67) 245-57-45

12. Oktober 2016 // Wlad Abramow

Quelle: Westi Reportjor

Übersetzerin:   Franziska Jokisch  — Wörter: 1002

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