Kiew. Sanfte Heimat
Für die Mehrheit der Freunde und Bekannten ist die Stadt der Kindheit nun unermesslich weit entfernt – tief im Gedächtnis vergraben, zerteilt durch kilometerlange Eisenbahngleise und die Streifen der Autobahnen, eingezäunt mit den Toden der Nächsten.
Meine Stadt der Kindheit ist bei mir. In Kiew wurde ich geboren, wuchs ich auf, verbrachte ich mein ganzes bewusstes Leben und werde hier auch weiterhin leben.
Anfang der 90er Jahre, nach dem Zerfall der UdSSR, war die „nationale Frage“ aktuell. Als Kind aus einer russischsprachigen Familie, das entsprechend den Erfordernissen der Zeit in einer ukrainischen Schule lernte, löste ich diese schlau, indem ich mich an Bulgakow satt las. Deshalb antwortete ich, als man mich fragte, ob ich Russin oder Ukrainerin bin, voller Überzeugung: Kiewerin. Und argumentierte mit Zitaten Bulgakows. So handele ich bis jetzt. Michail Afanasewitsch unterschied bekanntermaßen nicht Russen, Ukrainer, Polen, Juden, sondern Kiewer und Nichtkiewer.
„Es waren sagenhafte Zeiten, diese Epoche, als in den Gärten der schönsten Stadt unserer Heimat die jugendliche Generation in Trauer lebte. Damals wurde in den Herzen dieser Generation die Gewissheit geboren, dass das ganze Leben in Weiß gehüllt dahingeht, ruhig, still, Morgendämmerungen, Sonnenuntergänge, der Dnepr, der Kreschtschatik, sonnige Straßen im Sommer, im Winter nicht kalter, nicht rauher, sondern dicker, zärtlicher Schnee“ – diese Zeilen aus der Erzählung „Die Stadt Kiew“ kenne ich auswendig seit meinem neunten Lebensjahr.
Ich gebe zu, besondere Illusionen bezüglich des „Lebens in Weiß“ hegte ich schon damals nicht mehr. Aber bereits damals gab es für mich Orte, die mir bis jetzt verblieben sind und wohl auch in Zukunft für immer bleiben werden, ohne die „die schönste Stadt unserer Heimat“ nicht sein kann. All diese Orte sind verbunden mit Petschersk.
In meiner Kindheit war ich besonders stolz darauf, dass die Metrostation Arsenalnaja (die erste des unterirdischen Teils der Gleise!) die tiefste der Welt war. Und dass die Kanone auf dem Arsenalnaja-Platz von meinem Urgroßvater rekonstruiert worden war (eigentlich hatte er die vorhandene Kanone in ein Denkmal verwandelt).
Urgroßvater war Leiter einer der Abteilungen der Fabrik „Arsenal“. Ein strategisches Unternehmen mit enormer Bedeutung und Verantwortung, dafür hoch geachtet! Die Familie lebte in einem alten Haus auf der Moskowskaja, einer geraden und schattigen Straße, die sich anschmiegte an die riesigen Werkshallen. Die verrußten Wände aus rotem Ziegelstein ragten über dem ganzen Stadtviertel empor. In der Mitte der Moskowskaja kreuzten sich Gleise – und in den Leib der Fabrik fuhr die Lokomotive.
Vor zwanzig Jahren gab es natürlich weder Schienen noch Lokomotiven mehr. Aber ich erinnere mich an sie! Und höre sogar das Klirren des Metalls, das Schnaufen der plumpen Maschinen. Ich erinnere mich an dieses Bild, dass die kindliche Phantasie aus den Erzählungen der Erwachsenen erschuf.
Und wenn ihr einmal mit mir zu Fuß durch die Moskowskaja geht – vom Kino „Sorjanij“ zur Metro, zeige ich euch die alte Werkspförtnerloge (jetzt zugemauert); die Fenster des Hauses Nr. 15, in deren Wänden meine Mutter das Laufen lernte, die Schule, in der mein Vater lernte (an der Ecke Moskowskaja/Andrei-Iwanow-Str.) und das Tor, das die Lokomotive verschlang (wenige Schritte vor dem Appellationsgericht und jetzt verschlossen).
Nach dem Krieg kaufte Urgroßvater Alexej auf einem der Kiewer Flohmärkte eine alte deutsche Uhr. Eine Wanduhr aus rotem Holz mit wunderbar geschnitzten Flügeln, kleinen Türmchen, „Tuberkeln“, geschmiedeten durchbrochenen Einsätzen, schlanken Pendelarmen; und jede halbe Stunde gab die Uhr ein feierliches „Bommm-m“ von sich. In einer Tonlage, lang und gedehnt. Der Schlag ertönte über einem Zifferblatt aus Porzellan und durchfloss den Raum.
Für den Betrieb war der Uhr ein Schlüssel beigefügt. Ein schwerer, von der Zeit dunkel gefärbt, mit einem Monogramm auf dem Griff. Ich war als kleines Kind überzeugt: Dies ist der Schlüssel von Buratino, denn golden war er ja. Er war lediglich verfärbt und es lohnt sich, ihn ein wenig zu reiben und jeder beliebige, noch so heimliche, Wunsch erfüllt sich. Nur gelang es mir nicht, ihn zu reiben, denn man versteckte den Schlüssel vor mir. Allerdings hat man ihn nie gemäß seiner Bestimmung verwendet, denn die Uhr funktionierte nicht.
„Diese Uhr wird an dem Tag stehenbleiben, an dem ich sterbe.“, sagte meine Urgroßvater, als er sie nach Hause brachte. Erworben hat er sie übrigens auf dem Jevbas.
Ach, Kiewer, wisst ihr, was der Jevbas ist? Nämlich der Jüdische Basar. Ein Lebensmittelmarkt an der Ausfahrt aus der Stadt, an der Auffahrt zur Brest-Litowsker Chaussee. Der Bezirk des jetzigen Platzes des Sieges. In den 60ern baute man an dem Ort des Marktes einen Zirkus, die versumpfte Niederung verwandelte sich in einen belebten Transportknotenpunkt und vom Evbas blieb nur die Bezeichnung – im Namen eines winzigen Cafes, verloren im Torbogen der Starowoksalnaja-Straße.
Großvaters Vorhersage erfüllte sich. Er starb auf dem Bahnsteig der Metro an einem Herzanfall. Es geschah ein einem Freitag, daher machte sich bis Montag niemand Sorgen, man glaubte, er wäre nach Niwki auf die Datscha gefahren (ja, zu dieser Zeit gab es in Niwki Datschen). Später, als der genaue Todeszeitpunkt festgestellt wurde, ergab sich, dass die Uhr auf die Minute genau zur gleichen Zeit stehen blieb. Und so viele Jahre stand. Sie zum Laufen zu bringen konnten wir nicht. Genauer gesagt, wir schafften es, aber nach einer halben Stunde blieb sie wieder stehen. Wir gaben auf. Heute geht sie immer noch nicht, hängt im Mutters Wohnung, „einfach als Schmuck“. Würde man sie schmieren und die Mechanik ausbessern wollen, wo fände man heutzutage in Kiew einen erfahrenen Uhrmacher? In Kiew gibt es keine Uhrmacher mehr. Und Schuhmacherläden sind auch nur wenige geblieben. Zu Zeiten meiner Kindheit gab es sie an jeder Straße. Erst recht an der Moskowskaja.
So ist Petschersk. Von der Moskowskaja nach links, ein wenig geradeaus und man kommt in den Park.
Die Spaziergänge meiner Kindheit und Jugend führten entlang der Wege des Marinskij-Parks, die damals noch nicht mit Platten verunstaltet waren, nicht zertreten von politischen Mahnwachen.
Die Spaziergänge meiner Mutter in Kindheit und Mädchenjahren führten über die Wege des Watutin-Parks. In einer der Ecken stand ein Sockel, geschmückt mit einer Granitschale. „Dort ist das Blut der Rotarmisten“, hatten sie ihre Eltern erschreckt. In der Schale gab es natürlich kein Blut von Rotarmisten, Mutter prüfte es, als sie etwas größer war. Und ich sah natürlich auch nach, als ich die Geschichte zum ersten Mal von ihr hörte. Ihr könnt es selbst kontrollieren, die Schale steht immer noch dort, genau gegenüber dem zentralen Eingang in den Marinskij-Park.
Die Spaziergänge meines Vaters in Kindheit und Jugend führten durch den Sowjetskij-Park. Die berühmte „Teufelsbrücke“, die Brücke der Verliebten, geschlagen zu Beginn des Jahrhunderts zwischen zwei smaragdgrünen Hügeln, wurde nach dem Krieg restauriert. Die Jungen der Nachbarshöfe setzten häufig über auf die Seite des Kreschtschatik-Parks (dort, wo der Wasserturm steht, jetzt ein Wassermuseum), aber nicht über die Brücke, sondern unter ihr durch, sich an den metallenen Streben festklammernd wie Affen. Im Übrigen war es für sie nicht das wichtigste, Mut und Tapferkeit zu demonstrieren, sondern das Radio zu erreichen, das unter dem Bauch der Brücke hing. In diesen Jahren war der Radioempfänger noch groß, er spielte Walzer und Foxtrott und war nicht einfach nur eine Seltenheit, sondern eine wunderbare Kostbarkeit. Mein Vater, der verwegenste Junge aus Petschersk, bemächtigte sich dieses Schatzes.
Wenn man von der Moskowskaja nach rechts statt nach links abbiegt, die Straße überquert auf die ungerade Seite der Straße des Januar-Aufstands, stößt man auf eine weitere für mich denkwürdige Route. Von 1998 – 2002, von der 8. bis zur 11. Klasse, lief ich zweimal in der Woche zum Pionierpalast, in die Schule für Jugendjournalisten „Jun-Press“. Zunächst als Schülerin, die letzten anderthalb Jahre als Lehrerin für die Gruppe „Kinderredaktion“. Hier begann im Grunde meine Journalistik. Ende der 90er Jahre waren der Park des Ruhms, die Parkstraße oder die Hänge hinter dem Askold-Grab und weiter abwärts zum Grünen Theater noch nicht so aufgemotzt wie jetzt. Dort wucherte unaufhaltsam das Grün, im Dickicht hoher Gebüsche konnte man sich leicht verirren, aber hier und da auf eine ganzgebliebene Bank stoßen…
Von ganz anderer Art war Lipki mit seinen ruhigen Wohnkomplexen 2- und 3-geschossiger Villen. Ohne das blau gestrichene Bollwerk des Stabes der Partei der Regionen, ohne das Pathos der „Lipskier Villa“ („Geben Sie mir Foie gras! Ist es denn frisch?“), ohne die Büros von Siwkowitsch, Schtscherban, Swaritsch, Paschinski. Dafür mit einem zauberhaften Puppentheater, voller Anmut, die nie verstanden, nicht begriffen werden kann von denen, die in den „Lipskier Villen“ leben. Genauso können sie nicht verstehen, wie wunderbar das brüchige, aber trotz allem noch imposante Klower Schlosswar; wie vielfältig und bunt war die Ausstellung in den Sälen des Kiewer Stadtmuseums.
Jetzt sitzt hier das Oberste Gericht. Gut rekonstruiert, aber der Stuck an den Decken, die glänzenden Läufe der Marmortreppen und die Skulpturen in den Nischen – alles irgendwie unecht, als ob sie nur zur Dekoration aufgestellt wären. Zu tadellos, zu glamourös. Spiegel sogar an allen Wänden, neu, aber „auf alt gemacht“ und glänzend. Früher aber waren sie antiquarisch, von der Zeit dunkel verfärbt und mit grauen Flecken übersät. Wo sind sie jetzt, wessen Landgüter schmücken sie? Die Exponate des Historischen Museums von Kiew, in Pappkartons geworfen, gehen zugrunde irgendwo in den Kellern des Ukrainischen Hauses.
In diesen Kartons waren Fotografien von Gymnasiasten, Federmappen und Blaupausen von Gymnasiastinnen, Services vornehmer Familien, Büsten Podolsker Rabbiner und Doktorenköfferchen. In ihnen Andenken an Menschen, deren Grabeshügel auf dem Baikowij bereits eingeebnet wurden und mit Gras bedeckt sind. Niemand erinnert sich an sie. Außer denen, die irgendwann einmal diese Spuren vergangener Zeiten gesehen haben. Wem erschollen die Zeilen von Vertinskij: „Kiew, sanfte Heimat, ich träumte von dir“…
Faktisch hat sich die Stadt in zwanzig Jahren nicht allzu sehr verändert. Ich bin einfach erwachsen geworden und sehe sie nun mit anderen Augen.
Nehmen wir einmal die Bankowaja-Straße. Gibt es auf ihr irgendwelche wesentlichen Gebäude? Richtig, die Präsidialadministration! Aber früher – fallt mir nicht um! – hätte ich geantwortet: Das Gorodetskij-Haus.
Von der Seite der Bankowaja aus hat es drei Etagen, vom Iwan-Franko-Platz aus sechs. Es wurde als ein „profitables“ Haus gebaut, d.h. die Wohnungen wurden vermietet. In den Kellern gab es einen gut ausgestatteten Kuhstall, damit die Mieter ihre Kinder sogar in der Stadt mit frischer Milch verwöhnen konnten.
Früher war ich mir vollkommen sicher, dass die Wände dieses Hauses lebendig waren. Die wunderlichen Lebewesen, die auf allen Seiten an ihnen klebten, stellten sich nur bewegungslos, konnten aber eigentlich in jedem Moment die Flügel schwingen und mit dem Schwanz schlagen. Nashörner, Frösche, Molche, Löwen, Adler,…
Und am Aufgang gab es ein Krokodil. Aber – pssst – ihr dürft es niemandem sagen, dass es sich an der Treppe befindet. Jeder muss es selber finden, streicheln und einen Wunsch im Stillen äußern. Eine Aufgabe für die Schlauen: Kann man einmal das Krokodil streicheln, dann bedeutet es, dass es nicht weit entfernt ist. Aber häufig beginnen die Menschen pedantisch das Dach zu betrachten, die Gesimse, die Bögen der oberen Etagen.
Ja, während meiner Kindheit konnte man das Krokodil streicheln. Jetzt gelangt man nicht mehr zu ihm, ringsherum sind Absperrungen errichtet. Bleibt nur eins: am Zaun stehen und ihm leise zureden, den Wunsch zu erfüllen. „Überleg es dir, Krokodil! Ich hab zwei deiner Art auf der Jagd erwischt. Jetzt ist eins ausgestopft auf der Datscha und das andere zu Hause“, sagte einmal ein bekannter „Tuschka“-Abgeordneter*, der Hand in Hand mit einer anderen „Tuschka“ über die Bankowskaja spazierte. Einer von denen, die im „Egoist“ „Foie gras“ verlangen.
*Tuschka: ironische Bezeichnung für einen Parlamentsabgeordneten, der aus opportunistischen Gründen von einer Partei zur anderen wechselt (d.Ü.)
16. Februar 2011 // Sonja Koschkina
Quelle: Lewyj Bereg