Der Krieg, den wir verloren haben



Pjotr Poroschenko und Wladimir Putin wurden nach Paris zu den Feierlichkeiten aus Anlass des hundertjährigen Endes des Ersten Weltkriegs eingeladen. Eine in jeder Hinsicht bedeutsame Geste. Gleich einer Ironie des Schicksals ist der 11. November genau derjenige Tag, der uns vom befreundeten Westen trennt, uns dafür aber mit unserem Feind verbindet. Es ist eine Erinnerung an eine historische Gabelung, als sowohl Russland als auch die Ukraine einen anderen Weg gingen und sich immer mehr von der restlichen Welt entfernten.

Für Emmanuel Macron und die anderen westlichen Leader ist das Ende des Ersten Weltkriegs ein wichtigeres Ereignis, behaftet mit tiefen Bedeutungen und Emotionen. Aber für Wladimir Wladimirowitsch [Putin] und Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko] ist es ein abstraktes Datum aus dem Schulbuch. Beide Präsidenten sind mit der sowjetischen Historiographie aufgewachsen, in der das Ende des Ersten Weltkrieges von der bolschewistischen Revolution und dem Bürgerkrieg verdunkelt war. Zudem wurde der vorzeitige Ausstieg aus dem Weltkrieg als großartiger Erfolg dargestellt, und die Erinnerung an ihn gezielt aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis verdrängt. Der Übergang der Ukraine von der sowjetischen historiographischen Matrix zur nationalen hat daran wenig geändert. Die Ukrainische Volksrepublik unterzeichnete einen Separatfrieden und stieg noch eher als Sowjetrussland aus, und in unserem Fall ist das Ende des Ersten Weltkrieges von der nationalen Befreiungsrevolution verdeckt, die bis Anfang der 1920er andauerte. Zudem fand die Ukraine, im Unterschied zu Polen oder der Tschechoslowakei, keine gemeinsame Sprache mit den Siegermächten und erreichte nichts auf der Pariser Friedenskonferenz. So kam es, dass der Krieg, der sich durch die aktive Teilnahme von Ukrainern in den Reihen unterschiedlicher Armeen auszeichnete, für uns im Prinzip ein fremder wurde. Faktisch waren wir von einem sehr wichtigen Teil des Diskurses in der Welt abgeschnitten. Und das zeigte sich sogar in symbolischen Kleinigkeiten.

Zum Beispiel ist der Kult um den Unbekannten Soldaten mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verbunden: in London, Paris, Rom, Washington und anderen Hauptstädten sind ähnliche Denkmäler in den 20er Jahren entstanden. Aber bei uns sind das Grab des Unbekannten Soldaten und das Ewige Feuer fest mit sowjetischer Spezifik assoziiert – es genügt, sich an das skandalöse Spiegeleibraten im Kiewer Park des Ruhmes zu erinnern, das als Aufstand gegen das „sowjetische Heidentum“ aufgefasst wurde. Obwohl die UdSSR nach vielen Jahren die schöne Idee des Westens einfach geklaut hatte.

Die Lücke in unserem kollektiven Gedächtnis hat sich auch 2014 kundgetan, in der die postsowjetische Ukraine zum ersten Mal mit einem wirklichen Krieg konfrontiert wurde.

Es wurde klar, dass sich das ukrainische Set an Analogien fast ausschließlich auf den Zweiten Weltkrieg bezieht: andere kriegerische Konflikte erinnern und kennen wir nicht. „Stellt Euch vor, dass im Jahre 1940 in England…“; „Stellt Euch vor, dass im Jahre 1942 in der Sowjetunion…“; „Stellt Euch vor, dass im Jahre 1943 in den USA…“. Sich das Jahr 1914 oder 1915 vorzustellen kommt der Mehrheit der Sofaanalysten gar nicht in den Sinn.

Obwohl die Ukrainer, vom Krieg überrascht, auf mentaler Ebene den sorglosen Bürgern der ersten Hälfte der 1910er Jahre viel näher standen als der traumatisierten und eingeschüchterten Gesellschaft Ende der 1930er.

Zusammen mit dem Ersten Weltkrieg, der in den historiographischen Hinterhof verdrängt wurde, verloren wir einen Teil unbezahlbarer menschlicher Erfahrung. Wenn diese Erfahrung nicht verloren wäre, wäre es heute in der Ukraine einfacher, die westliche Welt zu verstehen, von der ein Teil zu werden wir uns bemühen.

Und außerdem fiele es uns leichter uns selbst zu verstehen, die wir hundert Jahre nach unseren Vorfahren mit einem unerwarteten Krieg konfrontiert wurden. Der globale Gegensatz 1914-1918 gibt uns um nichts weniger Nahrung zum Nachdenken als der globale Gegensatz 1939-1945. Und ist noch dringender. Der Erste Weltkrieg lehrt, sich nicht von Verschwörungstheorien hinreißen zu lassen. Nicht Feinde und Verbündete überzubewerten, indem man über „Verschwörer“ und „hinterlistige Pläne“ spekuliert. Den Leuten, die in hohen Büros sitzen und Entscheidungen treffen, keine ausschließliche Informiertheit und diabolische Auffassungsgabe zuzuschreiben. Von ähnlichen Illusionen ist es leicht loszukommen, wenn man den berühmten „August 1914“ von Barbara Tuchman nochmals gelesen hat. Der Erste Weltkrieg lehrt ein nüchternes Urteil zu wahren, sich nicht in propagandistische Extreme zu werfen, nicht zu primitiver Xenophobie und Chauvinismus hinabzusinken.

Er erinnert an deutsche Schriftsteller, die verkündeten, dass „weder eine englische, noch eine französische Kultur jemals existiert“ habe. An französische Gelehrte, die bewiesen, dass „die Preußen nicht zur arischen Rasse gehören und in gerader Linie von den Steinzeitmenschen abstammen.“ An die hektische Umbenennung des deutschen Schäferhundes in „Elsässer“, und des Hamburgers in „liberty sandwich“. An all das, was heute komisch und absurd erscheint – aber sich nicht zu sehr von dem Unsinn unterscheidet, der vor dem Hintergrund des ukrainisch-russischen Konflikts entsteht.

Der Erste Weltkrieg lehrt ein kritisches Verhältnis zu den Experten, die angeblich in alle Geheimnisse des Daseins eingeweiht sind und den tiefen Kern des Geschehenden enthüllen. Man muss sich erinnern, dass Herbert G. Wells im Jahre 1914 als ein solcher Experte angesehen wurde, der das aufsehenerregende Buch „The War that Will End War“ veröffentlicht hatte. Und die absurde These über den Krieg, der auf ewig alle Kriege beenden werde, wurde von den Zeitgenossen für halbwegs seriös gehalten. Und der Erste Weltkrieg lehrt kein Gleichheitszeichen zwischen die Beendigung eines Krieges und die Lösung eines Problems zu setzen. In der Ukraine wird diese Idee von vielen genutzt: von prorussischen Kapitulanten, die dem Land einen raschen Frieden und Prosperität versprechen, bis zu den Ultrapatrioten, die sich schon im Voraus auf das goldene Zeitalter freuen, das sofort nach der Niederlage Moskaus eintreten wird.

Aber den am Ersten Weltkrieg Beteiligten war es beschieden, beide Illusionen zu überleben – und sich von ihrer Haltlosigkeit zu überzeugen. Die deutsche Erfahrung hat gezeigt, wie ein erniedrigender Frieden sich in innere Gegensätze umwandeln kann und niedere menschliche Instinkte weckt. Die türkische Erfahrung hat gezeigt, dass der Abstand zwischen einer Kapitulation und einem neuen grausamen Krieg weniger als ein Jahr betragen kann. Die italienische Erfahrung hat gezeigt, dass ein formal siegreicher Staat sich in der Situation eines Besiegten wiederfinden kann. Die französische Erfahrung hat gezeigt, wie ein Sieg, der für einen unermesslichen Preis erreicht wurde, zum Präludium für einen zukünftigen Kollaps wird. Die polnische, ungarische, tschechoslowakische, serbokroatische Erfahrung hat gezeigt, dass ein beendeter Krieg viel mehr Fragen hinterlässt als er Antworten gibt. Nun, das ist die Hauptlektion, die der Menschheit am 11. November 1918 erteilt wurde. Eine Lektion, deren Aneignung der kämpfenden Ukraine noch bevorsteht.

11. November 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   BJ  — Wörter: 1050

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