Den nächsten Jahrestag des Euromaidans hat das Land in einem Zustand der Ungewissheit begangen, wie im November 2013.
Damals erwartete der aktive Teil der Gesellschaft den Gipfel in Brüssel und jetzt erwartet dieser Teil der Gesellschaft mit Bangen den Gipfel in Paris.
Den Platz des aggressiven und unberechenbaren Janukowitsch [Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch] hat der gutwillige, doch nicht weniger unberechenbare Selenskij [Präsident Wolodymyr Selenskyj] eingenommen.
Das leichtfertige Verhalten der Bankowaja [gemeint ist der Amtssitz des Präsidenten, A.d.Ü.] droht Massenproteste zu verursachen. Doch wird der neue Maidan – wenn einer kommt – bereits nicht mehr von der Vorsilbe „Euro“ begleitet werden.
Also gibt es einen Anlass über diese bezeichnende Vorsilbe und die Rolle, die sie für die moderne Ukraine spielte, nachzudenken. Das Verhältnis der gelb-blauen und der blau-gesternten [Flaggen] zu bewerten – vor sechs Jahren und heute.
Das energische „Weg von Moskau! Nach Europa!“ ist wie gehabt aktuell für unsere Gesellschaft. Doch in den letzten Jahren wurde offensichtlich, dass sich hinter dieser Formel zwei verschiedene zivilisatorische Ansätze verstecken können.
Zwei alternative Ansichten der ukrainischen Gegenwart und Zukunft.
Im ersten Fall ist Europa das Ziel. Und Russland ist das ärgerliche Hindernis auf dem Weg zum Traum.
Etwas in der Art des Alkoholikernachbarn, der die Ukrainer nicht aus der überdrüssig gewordenen Kommunalka in die neue gut eingerichtete Wohngemeinschaft ziehen lassen will. Entsprechend dient der Bruch mit dem Imperium lediglich als Mittel zur Erreichung des Ziels, der notwendigen Bedingung für den Übergang zu den europäischen Werten.
Für Brüssel muss man sich unbedingt von Moskau verabschieden, von der russischen Propaganda für die BBC-Standards, vom nachbarlichen Autoritarismus für die europäische Demokratie und die Menschenrechte.
Doch im zweiten Fall ist das Ziel der Weggang von Russland selbst.
Vom chtonischen Bösen, das die Ukraine im Laufe von Jahrhunderten quält. Und die aktuelle Annäherung an Europa ist lediglich ein Mittel zum Erreichen des Ziels.
Die Eurointegration ist insofern wichtig, als sie die Ukrainer vom Imperium entfernt. Doch wenn die europäischen Werte der nationalen Emanzipation zuwiderlaufen, so kann und muss man diese missachten.
Doch wenn die Europäische Union die Erwartungen als Anti-Kremlwaffe nicht rechtfertigt, dann verliert die Hinwendung nach Europa komplett ihren Sinn. Weitaus logischer wäre es da sich auf den verblichenen Stepan Andrejewitsch und den seligen Roman Iosifowitsch auszurichten. [gemeint sind die Nationalisten und Nazikollaborateure Stepan Andrijowytsch Bandera und Roman Jossypowytsch Schuchewytsch, A.d.Ü.].
Mit anderen Worten, ein Teil von uns fuhr von Anfang an zur Station „Eurointegration“ mit dem Zug der Dekolonisierung. Ein anderer Teil fuhr umgekehrt zur Station „Dekolonisierung“ mit dem Zug der Eurointegration.
Als der Euromaidan begann, überwog im gesellschaftlichen Bewusstsein offensichtlich der erste Trend. Doch der ukrainisch-russische Krieg popularisierte vorhersagbar die zweite Sichtweise: Die Union mit Europa ist lediglich ein Hilfsmittel im ewigen Kampf mit Moskau. Und der national-patriotische Konsens, der sich in den Jahren der Präsidentschaft Poroschenkos ergeben hat, erwies sich eben näher an dieser Position.
Zur gleichen Zeit vollzogen sich auf der Ebene der propagandistischen Rhetorik keine besonderen Änderungen.
Bereits im aktuellen Frühling wählte die Partei des Ex-Präsidenten für sich den stolzen Namen „ES“ [Europäische Solidarität; die Abkürzung wäre auf Deutsch EU]. Obgleich sie sich hätte „NS“ nennen müssen – Nationale Solidarität.
Die Kernwählerschaft von Pjotr Alexejewitsch schätzt die Tagesordnung der Souveränität mehr, als die der Integrationsprozesse. Und Sprache, Glaube und Armee bedeuten für sie weitaus mehr, als die europäischen Demokratiestandards oder die Menschenrechte, die der Wähler der „ES“ bereitwillig im Namen der nationalen Sicherheit opfert.
Europa als Mittel auffassend, setzen Zehntausende Patrioten aus Trägheit damit fort Europa als Ziel zu benennen. Doch das patriotische Zwiedenken gerät in die Sackgasse, wenn die Angelegenheit Kompromisse mit dem Kreml betrifft.
In dieser schmerzhaften Frage dissoniert die Empfindlichkeit unserer Eiferer zu offensichtlich mit dem Pragmatismus der Europäer, die den ukrainisch-russischen Konflikt recht bald regeln wollen.
Ein greller Marker ist die Evolution der einheimischen Proteststimmung in den vergangenen sechs Jahren.
Im Herbst 2013 wurden die Massenproteste von der Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union provoziert.
Doch im Herbst 2019 wurden Massenproteste von der berüchtigten „Steinmeier-Formel“ hervorgerufen, die von einem soliden europäischen Politiker, dem ehemaligen Außenminister und derzeitigen Bundespräsidenten Deutschlands, vorgeschlagen wurde.
Und das ist leider Gottes nicht die Grenze.
Vor uns liegt der Gipfel der „Normandie-Vier“, der für den 9. Dezember geplant ist.
Doch im Vorfeld dieses Treffens werden die Führer der beiden führenden europäischen Länder bereits nicht mehr als vollwertige Verbündete der Ukraine angesehen.
Die patriotische Öffentlichkeit sieht in ihnen Paktierer, die bereit sind Putin zuzuspielen und den willensschwachen Laien Selenskij zu unannehmbaren Zugeständnissen zu überreden.
Nehmen wir an, dass in Paris eine Entscheidung verkündet wird, die in Kiew als schändliche Kapitulation aufgefasst wird. Und diese Entscheidung wird öffentlich vom europäischen Establishment abgesegnet.
Auf diese Weise könnten wir einen neuen Maidan erhalten, der nicht nur gegen die ukrainische Regierung gerichtet ist, sondern auch faktisch gegen die Europäische Union. Das bei aktiver Teilnahme von Oppositionspolitikern, die sich selbst „Europäische Solidarität“ nennen.
Dieses surrealistische Sujet hat alle Chancen real zu werden. Sogar wenn der Dezembergipfel ohne den erwarteten „Verrat“ auskommt, gibt es keine Garantien, dass der schmerzhafte Moment der Wahrheit nicht etwas später folgt.
Wie von den anwachsenden logischen Widersprüchen wegkommen? Wie die europäische Zustimmung zum Minsker Prozess mit dem patriotischen Unmut vereinbaren und dabei den deklarierten Kurs nach Europa beibehalten?
Es gibt ein passendes Rezept.
Es reicht zu unterstreichen, dass das wirkliche Europa nicht Merkel, Macron oder Steinmeier ist, sondern etwas komplett anderes.
Dass das derzeitige europäische Establishment, in dem es Kompromisse mit der Russischen Föderation gutheißt, die Ideale des wirklichen Europas verrät.
Dass der protestierende Veteran der Antiterroroperation oder der oppositionelle ukrainische Abgeordnete dagegen diese Ideale verteidigt.
Dass man das wirkliche Europa errichten kann, ohne auf die ausufernde Brüsseler Bürokratie zu schauen und es gelingt noch besser und cooler.
Allgemein riskiert die patriotische proeuropäische Tagesordnung auf ein selbstgenügsames „Wir werden unser eigenes Europa mit Blackjack und Wjatrowitsch haben!“ hinauszulaufen. [Gemeint ist der ehemalige Chefhistoriker Wolodymyr Wjatrowytsch, der demnächst Parlamentsabgeordneter der Europäischen Solidarität wird. A.d.Ü.] Und dieser Ansatz gefällt sehr vielen.
Mit dem eigenen Europa gibt es garantiert keine Probleme, von diesem braucht man keine unangenehmen Überraschungen erwarten, es unterstützt einen immer in der Konfrontation mit Moskau und wird allen ukrainischen Erwartungen entsprechen. In Wahrheit wird der Begriff der europäischen Werte – der auch so bereits schwammig ist – jede Andeutung auf einen konkreten Inhalt verlieren.
23. November 2019 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
Den ersten Kommentar im Forum schreiben