Leben nach dem Tod: Verwandte der auf dem Majdan ermordeten Aktivisten und Milizionäre darüber, wie sie sich in den letzten zwei Jahren verändert haben



„Als sie die Leiche meines Mannes nach Hause brachten, dachte ich, dass ich nicht mehr als einen Tag überlebe“, sagt Tatjana, die Witwe des Physiklehrers Sergej Bondartschuk, erschossen auf dem Majdan am 20. Februar 2014. „Noch zwei Tage nach dem Mord hatte ich zwar alles verstanden, wartete aber trotzdem darauf, dass er anruft. Oder ich erhalte eine Mitteilung in der steht, dass er lebt“, erinnert sich Olga, die Witwe des ermordeten Bataillonsfeldwebels der Streitkräfte des Inneren, Sergej Spitschak. Der stille Schmerz stoppte das Herz, nahm den Atem und die Kraft zum Weiterleben. Es zeigte sich, dass im Gefühl des Schmerzes die Barrikaden zwischen den Opfern nicht mehr fühlbar sind.

Es vergingen zwei Jahre und diejenigen, die diesen Schmerz überstanden haben, sahen eine andere Realität. Tatjana schreibt Bücher und Gedichte, beschäftigte sich als Freiwillige. Olga widmet sich ganz ihrer Tochter. In ihrem Leben ist weiterhin viel Trauer, aber es fand sich auch ein Ort der Freude. Reportjor sprach mit Angehörigen der Getöteten und fand heraus, wie diese zwei Jahre ihr Leben verändert haben.

Nicht verheilende Wunde


Wer trauert: Jekaterina Schapowal, Rentnerin, Kiew.
Um wen trauert sie: Sohn Sergej Schapowal. Getötet am 18. Februar 2014 während der Zusammenstöße vor der Werchowna Rada.

„Ich gehe zu allen Gerichtsverhandlungen, wo ich die des Mordes an meinem Sohn Beschuldigten sehe. Das sind Berkut-Leute aus Charkow – Lukasch und Schapowalow. Einmal zeigte ich Schapowalow ein Foto meines Sohnes im bestickten Hemd und sagte, er werde ihn sein ganzes Leben lang im Traum erscheinen. Er antwortete, dass er ihn nicht umgebracht hat. Ja nicht umgebracht, aber den Befehl gegeben. Er hätte es aber nicht tun müssen. Nach den Gerichtsverhandlungen brauche ich zwei Tage, um zu mir zu kommen.

Ich blieb allein in der Wohnung. Vor neun Jahren habe ich meinen Mann beerdigt und vor zwei Jahren den Sohn. Ihre Fotos stehen nebeneinander. Ich betrachte sie jeden Abend und frage: „Meine Männer, ihr habt mich allein gelassen. Warum?“

Sergej hat mit seinem Tod meiner Enkelin und mir eine Rente erarbeitet – wir erhalten 4000 Hrwynja (ca. 137 Euro) im Monat. Zweimal hat man uns eine Kompensation gezahlt – 120.000 Hrwynja (derzeit ca. 4140 Euro). Bis Juli letzten Jahres war der Nachlass auf die Bezahlung der Kommunalabgaben 50 Prozent. Aber dann haben sie das gestrichen. Sie sagten, dass sie Kriegsteilnehmern zustehen, aber diesen Status hat mein Sergej schließlich nicht. Sie gaben uns auch noch tausend Quadratmeter Land in Bykowna. Aber wir können es bisher nicht nutzen, es liegt im Wald und das Stück ist umstritten.

Aber weder Geld noch Land kompensieren tatsächlich etwas. Ich lebe aus Gewohnheit. Nach zwei Jahren ist die Wunde ein wenig vernarbt. Aber nicht sehr, nur ein paar Millimeter.“

Liebe, erschossen von einem Scharfschützen


Wer trauert: Wladimir und Tatjana Bondartschuk, Starokonstantinow, Gebiet Chmelnizkij
Wen betrauern sie: Vater und Ehemann Sergej Bondartschuk. Getötet am 20. Februar auf der Instituts-Straße

Wladimir: „Es wird nie leichter werden. Auch wenn alle Vollstrecker und diejenigen, die ihnen den Befehl gaben, auf der Anklagebank sitzen. Deshalb spüre ich keine Befriedigung, wenn ich während der Gerichtsverhandlungen auf die schaue, die hinter dem Gitter sitzen. Wir, die Verwandten der Helden der Himmlischen Hundert, stehen uns sehr nah, leben praktisch wie eine Familie. Obwohl es auch solche gibt, die sich entfernten. Das betrifft die älteren Leute. Es fällt ihnen schwer, über materielle Folgen zu sprechen, schwierig, die Bilder der Erschossenen zu betrachten. Diese Arbeit tun Rechtsanwälte für sie. Wir haben keine Angst mit unserem Schmerz allein zu bleiben, obwohl wir spüren, dass die Aufmerksamkeit vonseiten der Gesellschaft weniger geworden ist. Das ist natürlich, es sind zwei Jahre vergangen, im Land ist Krieg und die Aufmerksamkeit der Menschen konzentriert sich inzwischen auf etwas anderes.“

Tatjana: „Bei meinem Mann und mir war es eine Studentenliebe. Er war Physiker, ich Philologin. Wir heirateten im dritten Studienjahr, man gab uns ein Zimmerchen im Wohnheim, im Keller. Aus seinen vergitterten Fenstern konnte man nur die Schuhe der Passanten sehen. Wir lebten von zwei Stipendien, kauften zwei Teller, zwei Tassen. Aber es war so ein Glück… Und es hielt dreiunddreißig Jahre. Als man ihn tötete, fühlte ich, dass ich die Hälfte meines Herzens verlor.

Ich erinnere mich, wie ich über seinem Leichnam sitze und denke, dass ich im nächsten Augenblick sterbe. Man brachte ihn verletzt, eine Kugel traf von der Mitte her alle Organe. Damals schrieb ich ihm einen Brief, legte ihn in die Tasche seines bestickten Hemdes. So begrub ich ihn. Seither schrieb ich ihm fast täglich einen Brief. Ich legte sie auf einen Stapel vor das große Portrait, so ergab sich ein Buch, das ich an seinem Geburtstag herausbrachte. Es heißt „Liebe, von einem Scharfschützen erschossen.“

Ich lebe in der Straße mit dem Namen meines verstorbenen Mannes. Nach ihm hat man auch das Gymnasium benannt, in dem er arbeitete. Kompensation habe ich erhalten. Aber über Geld kann ich nicht sprechen. Und die Aufmerksamkeit der Gesellschaft brauche ich auch nicht. Mit meinem Überleben werde ich auf andere Weise fertig – ich helfe denen, die auch leiden. So ging ich in die Freiwilligenbewegung. In unserem Wohngebiet gibt es 14 Familien, die Familienangehörige im Krieg verloren haben, ich unterstütze sie. Ich helfe auch verelendeten Kindern in der Zone der Antiterroroperation (ATO) Minute gibt, flechte ich Netze für die ATO. Ich weine nur, wenn es niemand sieht, vor dem improvisierten Museum, in das ich eine Ecke meines Hauses verwandelt habe. Ich habe dort seine Fotografien und Sachen vom Majdan zusammengestellt.

Ich spreche mit den Verwandten anderer Getöteter. Galina Didytsch lernte ich zum Beispiel noch auf dem Majdan kennen, als unsere Männer noch lebten. Wer konnte wissen, dass wir dann, im Januar 2014 still über diese Straßen gehen, auf denen man beide brutal erschlägt. Ihr geht es schon besser, ihr Sohn hat geheiratet. Und der Enkel Nikolaj Dsjawulskijs geht zur Universität. Das Leben steht nicht auf der Stelle, es besteht nicht nur aus Trauer. Es gibt auch Freude.“

Leben lernen


Wer trauert: Igor Guryk, Oberhaupt der Organisation „Familie der Helden der Himmlischen Hundertschaft“, Ivano-Frankiwsk.
Um wen trauert er: den Sohn Roman. Er war 20 Jahre alt, getötet am 20. Februar auf der Instituts-Straße

„Mich überkommt oft eine Welle der Enttäuschung. Doch ich nehme mich zusammen und verstehe, dass ich allein nichts tun kann. Denn nicht alles hängt von Politikern und der Regierung ab. Und von uns einfachen Leuten auch. Wir sollten bewusster sein, das ist dieses Ideal, für das auch mein Sohn gestorben ist. Wir haben viele Probleme. Die Gesetzgebung war nicht darauf vorbereitet, den Titel „Held der Ukraine“ auch posthum zu verleihen. Es kam so, dass sie Privilegien für Verwandte nicht vorsieht. Aber wir arbeiten daran, bereiten eine Gesetzesänderung vor.

Für jede Familie versprach man eine Kompensation von einer Million Hrwynja. Aber dieses Geld fand sich nicht im Budget. Deshalb beschloss man, die Summe zu teilen und jährlich 120.000 Hrwynja auszuzahlen. Fast alle haben Grundstücke erhalten. Wer eine größere Wohnung brauchte, dem gab man eine. Uns wies man zum Beispiel eine zu. Schwerer ist es für die, die in den östlichen Gebieten leben. Der Vater des getöteten Wladik Subenko, der in Charkow wohnt, hat sehr viele Schwierigkeiten: Man hat ihm auch kein Land gegeben. Und mit der Erinnerungstafel haben sie sich nicht beeilt. Aus der Verwaltung des Präsidenten rufen sie Charkowsker Beamte an, bestehen darauf. Aber dort antworten sie, wo wir doch dezentralisiert sind, entscheiden sie selbst, was sie wann tun. Das ist eine schwere Arbeit. Alles muss man selbst lenken. Ich führe mit Herz und Verstand. Darin besteht jetzt auch mein Lebenssinn. Ich lernte, mit der Trauer zu leben. Wenn du die ganze Zeit weinst, änderst du gar nichts.“

Keine Erleichterung


Wer trauert: Jelena Iwanenko, Mutter dreier Kinder, Dergatschi, Charkower Gebiet
Wen betrauert sie: Ehemann Alexej, Musiker, Konzertmeister des Orchesters des militärischen Teils der Streitkräfte des Inneren. Getötet am 18. Februar 2014.

„Weniger als ein Jahr nach dem Tod Alexejs starb seine Mutter – sie hielt den Schmerz nicht aus. Der Vater blieb allein. Ich wohne zusammen mit drei unserer Kinder und der Tochter seiner verstorbenen Schwester. Sie ist schon erwachsen und hilft mir.

Ich halte die Verbindung zu den Verwandten anderer getöteter Milizionäre nicht. Ich versuche überhaupt, nicht unnötig viel mit Menschen zu reden und nicht auf die Straße zu gehen. Die Welt hat sich verschlossen. Ich denke, dass es ein negatives Verhältnis zu unserer Familie gab. Besonders am Anfang. Aber besonderes Unbehagen im Verhältnis zu uns spüre ich nicht.

Als mein Mann getötet wurde, halfen uns alle: seine Kollegen, Freiwillige und einfach engagierte Menschen. Jetzt denken an uns seine Musiker-Freunde. Sie versprechen ,zum Jahrestag zu kommen. Die Streitkräfte haben vor dem Grab Alexejs eine Bank und ein Tischchen aufgestellt. Den Grabstein haben wir von unserem eigenen Geld bezahlt. Der Staat blieb auch nicht unbeteiligt – ich erhielt eine Dreizimmerwohnung in Kiew. Den Kindern zahlt man eine Hinterbliebenenrente. Aber leichter wird es nicht. Ich weiß nicht, wie das bei Anderen ist, aber mich heilt die Zeit nicht.“

„Mir steht keine Rente zu.“


Wer trauert: Jelena Machammadi Kamangar, Kiew
Um wen trauert sie: den Sohn Iwan Tepljuka, 21-jähriger Wehrdienstleistender der Streitkräfte des Inneren. Getötet am 18. Februar während der Protestaktionen.

„In diesen zwei Jahren habe ich nichts Negatives gegenüber mir gespürt und gesehen. Ehrlich gesagt habe ich gar nichts gesehen. Iwan war kein Milizionär, kein Berkut-Angehöriger. Er war Wehrpflichtiger. Als er auf dem Majdan stand, konnte er zwei, drei Tage nicht ans Telefon gehen. Er konnte ohne Wasser leben. Ich wusste nichts, er erzählte nichts. Und er verbot mir, dorthin zu kommen. Zum letzten Mal sahen wir uns am 13. Februar, eine Woche vor seinem Tod. Man schoss auf ihn von hinten aus 25 Metern Entfernung. So sagte es mir der Rechtsanwalt. Durchschossen waren Herz, Lunge, Leber…

Der Arzt in der Leichenhalle sagte, dass mein Iwan und sein Mit-Wehrpflichtiger Maxim Tretjak mit der gleichen Waffe getötet wurden. Aber den genauen Todeszeitpunkt hat uns niemand gesagt. Er war mein einziges Kind. Aber eine Rente steht mir nicht zu. Sie sagten, er war kein Kriegsteilnehmer und zudem arbeitete er vor dem Wehrdienst nirgendwo. Nachlass auf die Zahlung der Kommunalabgaben gab es zuerst, aber dann nahmen sie diesen wieder. Ich erhielt die Versicherungssumme und 100.000 Hrwynja Kompensation. An Neujahr überwiesen sie noch einmal dreitausend Hrwynja, die Gewerkschaft wies diese an. Diese Last, sie ist für ein ganzes Leben.“

Die Tochter weiß alles


Wer trauert: Jelena Sachartschenko, Charkow.
Wer wird betrauert: Ehemann Witalij Sachartschenko, Major der Abteilung 3005 der Streitkräfte des Inneren. Er wurde verletzt am 19. Februar während der Protestaktionen, er starb am 2. März im Krankenhaus.

„Negatives gegenüber unserer Familie gab es hier in Charkow nicht. Das ist nicht diese Stadt. Als es die Chance gab, Witalij zu retten, haben uns die Menschen sehr geholfen. Jetzt schon nicht mehr. Aber ich bitte auch nicht darum, man gab uns eine Wohnung, ich arbeite, erhalte eine Hinterbliebenenrente. Unsere Tochter ist jetzt vier Jahre alt. Sie weiß alles. Sie weiß, dass sie einen Vater hatte, dass er umkam. Ja, das Leben steht nicht auf der Stelle. Aber es gibt keine Erleichterung. Vielleicht käme sie, wenn es eine gerechte Aufklärung gäbe.“

20. Februar 2016 // Margarita Tschimiris

Quelle: Reportjor

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1847

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