Leviathan 2.0
Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das kann man auch auf Putin, Janukowitsch, Poroschenko, Jazenjuk, Saakaschwili und andere Helden und Antihelden unserer Zeit beziehen. Laute Worte von Wladimir Wladimirowitsch (Putin), die Lipezker Fabrik von Pjotr Aleksejewitsch (Poroschenko) und das goldene Stangenbrot von Wiktor Fjodorowitsch (Janukowitsch) rücken in den Mittelpunkt und verdecken komplexere systemische Erscheinungen.
Daher sollen viele Entwicklungen der neuesten ukrainischen Geschichte ohne Bezug auf die Persönlichkeiten begriffen werden.
Also: Wie würde der Euromajdan ohne Janukowitsch, Asarow, Sachartschenko und oppositionelle Anführer aussehen? Ohne abgedroschene Parolen und Gesänge?
Tatsächlich erlebten wir Ende 2013 eine Auseinandersetzung von normalen Menschen mit Staatsmenschen, eine Schlacht der Ukrainer mit dem Hobbes’schen Leviathan.
Bewaffnet mit den Gummiknüppeln der Berkut (inzwischen offiziell aufgelöste Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei, A.d.R.) versuchte der Staat die einstigen Freiheiten zu beenden und dem Volk zu demonstrieren, wer der Herr ist. Einige Bürger zeigten sich damit nicht einverstanden und so begann die Auseinandersetzung.
Auf der einen Seite standen große und kleine Beamte, Polizei und Truppen des Innenministeriums, Staatsangestellte und weitere staatliche Ressourcen bis hin zu dem eingestellten Metrobetrieb in der Hauptstadt.
Auf der anderen Seite befanden sich Privatpersonen, private Bekannte, privat organisierte Zelten, Autos, Lebensmittel, Heizmittel, Medikamente und Autoreifen.
Im Endergebnis war die private Initiative Hunderttausender Ukrainer stärker als der zentralisierte Staatsapparat – der Majdan siegte.
Die Zukunft der Ukraine schien beschlossen zu sein. Der bezwungene Leviathan würde zu einem gutmutigen Taschentier mutieren. Der Staat würde künftig ins Privatleben seiner Bürger nicht rücksichtslos eingreifen, der einfache Bürger würde sich stark und frei fühlen, die bürokratischen Hürden würden verschwinden, der Privatsektor würde es alles zum Erfolg bringen.
Dieses idealistische Bild zeichnete sich zum 22. Februar 2014.
Dann entflammte der Krieg mit Russland. Trotz der Pflichtreden über Liberalisierung und Deregulierung entwickelte sich der staatliche Organismus in eine andere Richtung.
Der Krieg ist des Leviathans natürlicher Lebensraum. In diesem Lebensraum, in dem das staatliche Gewaltmonopol zum größten Wert wird, ist die Einschränkung persönlicher Rechte und Freiheiten unvermeidbar, während der bürokratische Apparat mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet wird. Das galt und gilt für jedes Land im Kriegszustand, von Putins Russland bis Roosevelts USA.
Bemerkenswert ist, dass auch eine niederschmetternde Niederlage und beschämende Kapitulation die Steigerung des staatlichen Drucks nicht aufhalten kann. Erinnern wir uns an das Vichy-Regime, das die Dritte Französische Republik 1940 ablöste.
Alles, was den einfachen Menschen Leid und Elend zufügt, stärkt die Staatsmenschen. Die Staatsmaschine gleicht dem von Robert Sheckley beschriebenen außerirdischen Blutegel – mit Bomben beworfen, saugt er die Energie auf und wächst augenblicklich.
Mit der beginnenden Aggression Russlands gewann unser Leviathan seine Machtstellung zurück, die er auf dem Euromajdan verloren hatte. Die ausgerufene Teilmobilisierung scheint sein erster bedeutender Erfolg zu sein. Der Staat demonstrierte, dass er der legitime Herr über seine Bürger, deren Leib, Leiden und Leben ist. Der Wille des Herrn versetzt die einen Menschen in die Schützengräben, die anderen in die Flucht; wieder andere beeilen sich mit Darbringungen für die unternehmenslustigen Diener des Leviathan.
Vom militärischen Standpunkt aus betrachtet kann der Erfolg der Mobilisierung bezweifelt werden, vom Standpunkt des Staats jedoch war die Mobilisierung ein absoluter psychologischer Erfolg.
Es kommt noch mehr.
Jede vom Krieg verursachte medienwirksame politische Maßnahme breitete die Machtstellung der Staatsmenschen gegenüber den einfachen Menschen aus.
Kriegssteuer? Die Obrigkeit verlangt von ihren Bürgern eine Zusatzabgabe.
Entkommunisierung? Die Obrigkeit entscheidet darüber, was die Bürger zu sehen haben und was nicht.
Antischmuggelkampagne? Die Obrigkeit legt fest, wie die Bürger deren persönliche Güter und das eigene Geld zu verwalten haben.
Einstellung des Eisenbahnverkehrs mit der besetzten Krim oder des Luftverkehrs mit der Russischen Föderation? Die Bewegungsfreiheit der Bürger hängt von der Obrigkeit ab.
Einige dieser Schritte scheinen berechtigt und notwendig zu sein – im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt! Die anderen sind es nicht. Ungeachtet unserer Vorbehalte stärken sie die Staatsbürokratie, indem sie diese mit zusätzlichen Handlungsmöglichkeiten ausstatten. Mehr Verbote, Einschränkungen und Vorschriften bedeuten mehr Vollmachten und dementsprechend mehr Missbrauch.
Wenngleich es keine heimtückische Absicht, sondern ein gesetzmäßiger allgemein üblicher Prozess ist, die Ukrainer können gewinnen oder verlieren, der Staat bleibt in jedem Fall der Nutznießer. The house always wins.
Man kann dem widersprechen: Der Krieg habe auch dem Staat geschadet, der Staat habe die Kontrolle über die Krim und den Donbass verloren. Dieser Blick ist jedoch oberflächlich. In der Tat ist der Kiewer Leviathan nicht mehr Herr über diese Regionen, aber dort traten noch grausamere und abscheulichere Ungeheuer die Herrschaft an.
Der kremlergebene Leviathan auf der Krim sowie der separatistische Leviathan im Donbass räumen dem Volk überhaupt keine Freiheiten ein und stehen standardmäßig über Recht und Gesetz. In den letzten anderthalb Jahren schrumpfte die Größe des privaten Raums in der ganzen Ukraine, während sich die Staatsmacht räumlich ausbreitete. Das gilt insbesondere für die besetzten Gebiete, die Tendenz zeichnet sich jedoch überall in der Ukraine ab.
Oft wird verkündet, dass der Staat von den radikalen schwer bewaffneten Jungs in den Sturmhauben gefährdet wird. Das ist nicht ganz richtig. Die friedlichen Einwohner von Kiew, die nach den Ereignissen des 30. November 2013 auf den Majdan kamen, stellten eine echte Gefahr nicht nur für Janukowitsch und Sachartschenko, sondern auch für den Leviathan selbst dar. Denn deren Ziel war Protest gegen die Gewalt.
Dagegen stellen die heutigen bis an die Zähne bewaffneten Radikalen eine Bedrohung für Pjotr Aleksejewitsch und Arsen Borisowitsch (Awakow, der Innenminister, A.d.R.), aber keinesfalls für das System, dar. Denn deren Ziel ist Verbreitung der Gewalt nach eigenem Ermessen. Werden sie siegreich sein, bekommt der Leviathan noch eifrigere Diener als Poroschenko und Awakow – das Staatsmonster wird sich bis in beispiellose Dimensionen ausdehnen. Im Endeffekt ist es zweifellos ein gewinnsicheres Spiel für das Ungeheuer.
Einige von uns freuen sich aufrichtig über die Erstarkung der Staatsmacht und fordern die „Fortsetzung des Festmahles“. Denn heute wird dieser Prozess mit den richtigen Losungen begleitet, unter den Staatsmännern finden sich ein paar gute Kerle und das staatliche Gewaltmonopol kann heute gegen unsere Feinde gerichtet werden.
Es gibt ein „Aber“. Die offizielle Rhetorik verändert sich im Laufe der Zeit, die einen Staatsbeamten werden durch die anderen ersetzt, die durch den Staatsapparat akkumulierten Vollmachten bleiben aber weiterhin bestehen. Je umfangreicher diese sind, desto größer ist die Gefahr, dass der Leviathan morgen auch Sie zu verschlingen wünscht.
Die ukrainischen IT-Fachleute konnten sich davon bereits überzeugen. Deren Selbstverständnis als Salz der bürgerlichen Gesellschaft wurde jüngst durch eine präzedenzlose Durchsuchungswelle erschüttert.
Inwiefern wird sich die Situation verändern, wenn der militärische Konflikt im Donbass doch eingefroren wird? Es scheint, die Rückkehr zum friedlichen Leben würde es dem Staat schwermachen, sich als Heimat anzubieten und seine Handlungen durch eine „Carte blanche“ zu rechtfertigen.
Der Leviathan entwickelte aber mittlerweile starke Muskeln und Eigeninteressen. Er ist bereit, seine Vollmachten nicht nur auf Kriegskosten, sondern auch anderweitig zu erweitern.
Dies kann beispielsweise unter dem Banner der Reformen und Eurointegration vonstattengehen. Die europäische Erfahrung ist vielfältig, die Reformen sind verschieden. Man könnte dabei die Grundwerte entlehnen, die Europa zur Blüte verhalfen: Rechtstaatlichkeit, Unantastbarkeit des Privateigentums, unternehmerische Freiheit. Zugleich könnte man die bürokratischen Mechanismen kopieren, die das alte europäische Potenzial heute zerstören und eine Quelle der gegenwärtigen Probleme in der EU sind.
Welche Erfahrung unser wachsender Leviathan zu entlehnen bevorzugen mag – bleibt wohl eine rhetorische Frage.
Und was bevorzugen wir?
16. Oktober 2015 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda