Märzaufregung


Wohin verschwand Wladimir Putin? Hängt die Abwesenheit des russischen Präsidenten mit seinem Gesundheitszustand zusammen, mit familiären Neuigkeiten oder politischen Prozessen? Und – ist er überhaupt verschwunden? Kann man einen Menschen als vermisst bezeichnen, der sich regelmäßig mit seinen Beamten trifft, Telefongespräche mit dem armenischen Präsidenten führt und, nach den Worten seines Pressesekretärs, „Hände kaputt macht“?

Beginnen wir damit, dass wir tatsächlich genau nichts über die Ab- oder Anwesenheit Wladimir Putins an seinem Arbeitsplatz sagen können. Protokollaufnahmen haben rein gar keine Bedeutung – die Pressedienste von Staatsoberhäuptern haben so viele „Vorbereitete“, dass Putin noch einige Monate auf ihnen mit Gesprächspartnern Hände schütteln kann, ohne sich vor den Leuten zu zeigen.

Worüber wir tatsächlich verfügen, dass ist die Absage des Präsidenten Russlands zu einem Treffen nach Astana zu fahren, ohne irgendwelche Begründungen. Astana, das wäre der Fall, indem wir den tatsächlichen und keinen „vorbereiteten“ Putin sehen würden.

Und, übrigens, die ganze Hysterie um das Verschwinden des russischen Präsidenten begann gerade nach der Erklärung irgendeiner anonymen Quelle aus der kasachischen Regierung über die Erkrankung des hohen Gastes. In diesem Sinne ergibt das Treffen Putins mit dem Oberhaupt des obersten russischen Gerichts, das akkurat an dem für das Treffen in Astana vorgesehenen Tag stattfand, keinerlei Logik. Das heißt, nach Astana konnte er nicht fahren, aber sich mit Lebedew treffen konnte er? Und warum fuhr er dann nicht zu dem Treffen? Und warum hat er dann vor, in der nächsten Woche dorthin zu fahren? Welche Ursache gibt es für die Verschiebung? Wenn es politische Gründe gibt, auf die es hindeutet, im Detail, dass Gleb Pawlowski, der von einer Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Putin und Nasarbajew sprach, warum tarnt er die Verschiebung des Treffens nicht mit banaler Arbeit an irgendwelchen Dokumenten, die er unterschreiben möchte? Solche „warums“ kann man noch zu Tausenden stellen, aber sie haben alle keine Bedeutung. Nehmen wir an, dass sich am Montag ein lebendiger und gesunder Putin, als ob nichts gewesen wäre, in Sankt Petersburg mit dem Präsidenten Kirgistans Almas Atambajew trifft, und einige Tage später nach Astana fliegt. Hieße das, dass alle unsere Fragen verschwinden sollten, als hätte es sie nie gegeben?

Nein, das heißt es nicht. Denn die Sache liegt nicht im Vorhandensein oder der Absage eines Treffens, sondern im politischen Prozess selbst. Und dieser Prozess erlangte nach dem Mord an Boris Nemzow eine gänzlich andere – systemzerstörende – Qualität. Von dem Niveau der Belastungen der Geschehnisse würde ich den Mord Nemzows mit der Vernichtung der malaysischen Boeing vergleichen. Eben diese Katastrophe, die Putin offensichtlich nicht organisierte und nicht wollte, zerstörte letztendlich seine Position in der internationalen Arena. Vor der Boeing mag Putin bewusst gegen alle sinnhaften und sinnlosen Normen des internationalen Rechts verstoßen haben, indem er die Krim Russland anschloss und gewaltsam auf ukrainisches Festland vordrang – die westlichen Partner Russlands kalkulierten, dass sie es mit einem steuerbaren Prozess zu tun haben. Aber nach der Boeing wurde klar, dass der Prozess komplett nicht steuerbar ist, dass die russische Führung nicht die Verantwortung für die Handlungen ihrer Soldaten und Söldner übernimmt. Und es begann bereits nicht mehr ein Prozess quälender Abstimmung von Positionen, sondern ein echter Kampf mit den Regeln seiner auswärtigen Partner.

Der Mord an Nemzow ist genauso eine Boeing, nur innenpolitisch. Der frühere erste Vize-Premier erlaubte sich deshalb auch, Antikorruptionsberichte zu schreiben, sich an oppositionellen Aktionen zu beteiligen und ohne Personenschutz unterwegs zu sein, überzeugt von der Beständigkeit der Eliten, der Festigkeit des Gebäudes, das noch in den Jahren der Regierung Boris Jelzins errichtet wurde. Und sprach im Vorhinein über seine mögliche Ermordung auch deshalb, weil er als einer der Ersten spürte, dass dieses Gebäude zerfällt. Und nun muss niemand mehr etwas erspüren, alle haben es gesehen.

Ungeachtet aller Gerüchte über die Diktatur und Alleinherrschaft Putins, die buchstäblich sofort nach dem Sieg des neuen Präsidenten bei den Wahlen im Jahr 2000 aufkamen, war Putin niemals Alleinherrscher. Aber er war ein Garant des Systemerhalts und des Erhalts der Möglichkeiten einer Gruppe von Personen, die ihn an die Macht gebracht hatte.

Und daher, dass diese Gruppe in den Jahren der Regierung Putins um seine eigenen Emporkömmling erweitert wurde, duldete die Situation keine besonderen Veränderungen. Von einer relativen politischen Selbständigkeit Putins kann man erst seit seiner Rückkehr in den Kreml nach der Präsidentschaftszeit Dmitrij Medwedjews sprechen, seiner bekanntesten „kleinen Rochade“. Aber die Zeit, in der Putin prinzipielle politische Entscheidungen selbst traf, beläuft sich überhaupt nur auf das letzte Jahr, seit dem Beginn der Krim-Operation. Aber gerade seit diesem Moment hört Putin ein bisschen auf, Garant für die Interessen derer zu sein, die ihn an die Macht brachten. Und der Mord an Nemzow demonstriert, dass es keine Garantie mehr gibt, nicht nur für das Leben, sondern auch für die Sicherheit der Vertreter dieser kleinen Gruppe von Menschen, die das neue, jelzinsche und nachjelzinsche Russland errichteten.

Das, was jetzt im Kreml vor sich geht, und vorgehen wird in Abhängigkeit vom Auftauchen und Verschwinden Putins, dieser Prozess der Rückkehr zu Garantien, erfordert ernsthafte personelle Umbauten und politische Veränderungen. Dabei ist es nicht nur wichtig, ob Putin den Präsidentenposten bewahrt oder nicht, sondern auch, welche realen Vollmachten er auf diesem Posten hat oder nicht etwa zum Putin vor der Krim zurückkehrt. Wichtig ist auch, ob Dimitrij Medwedjew seinen Ministerpräsidenten-Posten behält oder nicht oder vielleicht zum Ministerpräsidenten im Umfang der „putinschen“ Möglichkeiten wird. Und wenn Medwedjew geht, wer kommt dann auf seinen Posten und mit welchen Vollmachten? Und das ist nur ein kleiner Teil der Veränderungen, die wir verfolgen sollten, denn die Hauptveränderungen könnten in den Machtorganen vor sich gehen, der Präsidialverwaltung, der Führung der großen Staatskonzerne. Und vorhersagen, welche Machtverhältnisse sich daraus ergeben, kann heute niemand. Eins ist klar: die Märzaufregung wird anhalten.

14. März 2015 // Witalij Portnikow

Quelle: Lewyj Bereg

Wladimir Putin tauchte inzwischen gestern wieder auf:

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 954

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