Mehr Schaden als Gewinn - Die Fußball-EM 2012 aus ukrainischer Sicht


Die Fußball-EM gehört in der Ukraine neben den für den 28. Oktober geplanten Parlamentswahlen zu den absoluten Höhepunkten des Jahres 2012. Das Land hat viel investiert, um neben Polen Co-Gastgeber der Meisterschaften zu werden, man hat sich bereits seit vier Jahren auf dieses sportliche, aber auch gesellschaftliche, kulturelle und nicht zuletzt politische Großereignis vorbereitet. Doch die Erwartungen der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger an die EM haben sich nicht erfüllt.

Imageverlust für die Ukraine

Die EM 2012 wurde von Anfang an als Prestigeveranstaltung für die Ukraine insgesamt, vor allem aber für die politische Führung des Landes begriffen. Bereits nach seinem Amtsantritt im März 2010 erklärte Präsident Janukowytsch die Vorbereitungen für das Turnier zur Chefsache. Dafür wurde eigens ein Vize-Premierminister (Borys Kolesnikow) im Kabinett von Asarow ernannt. Janukowytsch setzte und setzt insbesondere auf die Meisterschaften, um die Parlamentswahl 2012 gewinnen zu können. Er braucht die “Erfolgsstory EM 2012“, um sein eigenes Image im In- und Ausland zu verbessern.

Doch von einer Erfolgsstory für Janukowytsch und die Ukraine kann nach derzeitigem Stand kaum die Rede sein. Die EM-Vorbereitungen im Land sind mit einer Reihe von handfesten internationalen Skandalen verbunden. Egal, ob Proteste von Tierschützern wegen der unmenschlichen Aktionen zur Tötung von Straßenhunden, Korruption beim Bau von Flughäfen, Stadien und Verkehrsinfrastrukturprojekten, Debatten um überhöhte Hotelpreise, der Fall Tymoschenko und die daraus folgenden politischen EM-Boykotte durch europäische Politiker oder der Skandal um die übertrieben zugespitzte BBC-Dokumentation über Rassismus und Xenophobie im Land: Die Ukraine wird derzeit neben dem prosperierenden Co-Gastgeberland Polen als „Enfant Terrible“ Europas wahrgenommen und immer öfter in einem Atemzug mit der letzten Diktatur Europas – Weißrussland – genannt.

Die Folge: Die EM-Städte werden während der Spiele von sehr viel weniger europäischen Touristen und Fußballfans besucht, als man erwartet hatte. Selbst die Fans, die sich für die Reise in die Ukraine entschieden haben, kommen vorwiegend mit Charter-Flügen oder Billig-Fluglinien am Spieltag an, um gleich nach Spielende ohne Übernachtung heimzufliegen. Und sogar all jene Fußballmannschaften, die alle Spiele in der Ukraine austragen werden (inkl. dem Bundesteam) scheinen der Ukraine nicht wirklich zu trauen – nur zwei von insgesamt acht Nationen (Frankreich und Schweden) ließen ihre Spieler für die EM-Zeit in der Ukraine einquartieren. Die restlichen sechs Teams haben ihre Lager in Polen aufgeschlagen und fliegen nur für die Wettkämpfe in die Ukraine.

Insgesamt sieht es also derzeit alles danach aus, als würde die Fußball-EM mehr Schaden als Gewinn für das Image des Landes bedeuten. Einmal mehr scheint die Ukraine hier wichtige Chancen vertan zu haben.

Die Korruption kennt keine Grenzen

Unterschiedliche Quellen berichten, dass die Ukraine für die EM-Vorbereitungen bis zu 10 Milliarden Euro (100 Milliarden Hrywnja) ausgegeben hat. Ca. 2 Milliarden davon stammen von privaten Investoren (vor allem von einheimischen Oligarchen), die restliche Finanzierung (ca. 8 Milliarden) für neue Flughäfen, Stadien, Straßen und sonstige Infrastrukturprojekte wurde über den Staatshaushalt finanziert. Eine enorme Summe für ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt 2011 ca. 137 Milliarden Euro und dessen Jahresstaatshaushalt im selben Jahr ca. 32,2 Milliarden Euro betrugen.

Angesichts der Tatsache, dass die Infrastruktur der Ukraine bislang eine große Schwachstelle des Landes war, wären diese Investitionen auch schön und gut – wenn die enormen öffentlichen Mittel wirtschaftlich und sparsam eingesetzt würden. Dies ist aber laut zahlreicher Medienberichte nicht der Fall. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass bis 50% der investierten Steuergelder veruntreut worden sind. Die EM-Vorbereitung förderte die Korruption im Lande – bis zu 4 Milliarden Euro sollen in die privaten Taschen von Oligarchen gegangen sein. Die Rekonstruktion des Olympia-Stadions in Kiew beispielweise kostete dem Staatshaushalt über 400 Millionen Euro, gleichzeitig baute der Unternehmer Rinat Achmetow in Donezk für nur 150 Millionen Euro ein neues Stadion (die “Donbass-Arena”) und ein weiteres neues Stadion in Dnipropetrowsk kostete den Oligarch Kolomojskij lediglich 80 Millionen Euro.

Die EM-Vorbereitungen waren demnach lediglich eine gute Gelegenheit für ukrainische Oligarchen und hohe Beamte, die Staatskasse zu plündern. Sie bedeuteten jedoch keinen wirklichen Impuls für die Entwicklung des Landes.

Der politische Boykott der WM-Spiele – die richtige Strategie

Spätestens nach der Verurteilung von Ex-Premierministerin Julia Tymoschenko im Herbst 2011 begann in europäischen Hauptstädten die Diskussion um mögliche Sanktionen gegen das Janukowytschs-Regime. Nach der ziemlich misslungenen Sanktionspolitik gegen Lukaschenko in Weißrussland sind sich viele Politiker einig, dass die Sanktionen gegen Janukowytsch und seinen Staatsapparat vor allem symbolischen Charakter haben sollten. Der Boykott der Fußball-EM passt hier als Sanktionsinstrument sehr gut, denn es war Janukowytschs Traum, am Rande der Turniere als stolzer Gastgeber europäische Staatsoberhäupter empfangen zu dürfen. Gerade dieses Vergnügen wollen europäische Politiker und hohe Beamte ihm jedoch nun vorenthalten.

Der EM-Boykott gegen die Ukraine sollte insofern keinen sportlichen, sondern einen rein politischen Charakter haben. Er sollte auf den Boykott der politischen Führung mit Janukowytsch an der Spitze abzielen, welche für politische Gefangene wie Oppositionsführerin Julia Tymoschenko oder Ex-Innenminister Juri Luzenko verantwortlich ist. Auf keinen Fall aber darf jedoch der Sport und dürfen mit ihm die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger boykottiert werden. Die Bevölkerung, die seit mehreren Monaten unter den Vorbereitungsmaßnahmen zur EM leidet, hat das europäische Fußballfest wohl verdient.

Es ist außerdem wichtig, dass sich europäische Politiker mit den Opfern des Regimes Janukowytsch solidarisieren. Daher ist es von Bedeutung, dass alle hochrangigen Fußballfans, die zu den EM-Spielen in die Ukraine fliegen werden, offizielle Anfragen über den möglichen Besuch von politisch Gefangenen (nicht nur Tymoschenko, sondern auch Luzenko, Filiptschuk, Iwaschtschenko und andere) stellen.

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Dr. Kyryl Savin ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung Kiew.

Der Beitrag erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung

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