Die Minsker Sackgasse
Vor drei Jahren annektierte Russland die Krim, danach stieß es separatistische Bewegungen in den südöstlichen Regionen der Ukraine an. Der Kreml förderte damals das Projekt „Neurussland“, das acht ukrainische Oblaste umfassen sollte, von Charkiw im Osten bis Odessa im Süden. Das Szenario ließ sich jedoch nicht realisieren. Den Ukrainern gelang es durch ihren Einsatz in Armee, Freiwilligenbataillonen und einer breiten Freiwilligenbewegung die großangelegte russische Aggression zu stoppen.
Waffenstillstand auf dem Papier
Zwar konnte das Land nicht vollkommen aus dem Griff der Okkupanten und örtlichen Kollaborateure befreit werden, aber immerhin gelang es der Ukraine die separatistische Bedrohung örtlich zu begrenzen und die Frontlinie in einzelnen an Russland grenzenden Gebieten in den Oblasten Donezk und Luhansk (kurz ORDLO, ORDLO steht für „bestimmte Kreise der Oblaste Donezk und Luhansk“ in den Minsker Vereinbarungen, A.d.Ü.) zu stabilisieren.
Die ukrainische Führung bekannte sich gemeinsam mit westlichen Regierungspolitikern dazu, dass eine Lösung des Konflikts ausschließlich auf politisch-diplomatischem Weg zu suchen sei. Zu diesem Zweck wurden mehrere Verhandlungsplattformen geschaffen, in deren Rahmen die Konfliktparteien unter Beteiligung von Vermittlern versuchen sollten, einen Ausweg aus der „Ukraine-Krise“ zu finden.
Wichtigster Verhandlungsort war die weißrussische Hauptstadt, wo im September 2014 das erste Minsker Abkommen unterzeichnet wurde. Das Abkommen sah eine unverzügliche beidseitige Einstellung der Kampfhandlungen vor, den Abzug jeglicher ungesetzlicher bewaffneter Formationen und Söldner, lokale Selbstverwaltung in den ORDLO, die Durchführung lokaler Wahlen sowie eine Amnestie für alle Beteiligten.
Die ukrainische Seite bekräftigte, man fühle sich der friedlichen Lösungsvariante des Konflikts verpflichtet und verabschiedete die entsprechenden Gesetze. Diese Schritte wurden in Gesellschaft und Expertenkreisen ziemlich kritisch, als Zugeständnisse an Moskau und die prorussischen Kämpfer, aufgenommen. Ohnehin wurden die Waffenstillstandsvereinbarungen nicht vollständig eingehalten. Vielmehr nahm die Intensität der Kämpfe zu, was schlussendlich zur Unterzeichnung des zweiten Minsker Abkommens im Februar 2015 führte.
Die von den politischen Führungsspitzen der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs geführten Gespräche dauerten 16 Stunden, zur selben Zeit eroberten die russischen Okkupanten einen wichtigen Eisenbahnknoten in der Stadt Debalzewe. Für den russischen Präsidenten Wladimir Putin stellte die Eskalation im Osten ein zusätzliches Druckmittel gegen die Ukraine dar. Solange jedoch in Minsk die Verhandlungen des Normandie-Quartetts andauerten, hielten die ukrainischen Streitkräfte ihre Stellung, sie verließen den Brückenkopf in Debalzewe erst nach einigen Tagen.
Minsk II wurde zur Neuauflage des ersten Abkommens. Wichtigster Punkt war nach wie vor die vollständige und andauernde Waffenruhe, deren Einhaltung sich jedoch als problematisch erwies. Die Konfliktparteien einigten sich auf einen Abzug schwerer Waffen, der von einer speziellen Beobachtermission der OSZE überwacht werden sollte. Zu einem nicht minder wichtigen Punkt des Abkommens wurde der Gefangenenaustausch nach der Formel „alle für alle“. Das waren aber auch schon die einzigen Errungenschaften von „Minsk“, obwohl auch diese nach und nach von Moskau blockiert wurden.
So erpresst Moskau Kiew, indem es zuallererst die Umsetzung des politischen Teils des Abkommens verlangt: einen Sonderstatus für die ORDLO, dessen Verankerung in der Verfassung, eine Amnestie für die Kämpfer und die Durchführung von Wahlen in den vorübergehend besetzten Gebieten. Erst danach erklärt sich Moskau bereit, Kiew die Kontrolle über den 400 Kilometer langen Grenzabschnitt zu übergeben, über den Russland den Osten mit regulären Armeeeinheiten, Söldnern und Waffen versorgt.
Die ukrainische Führung geht nicht auf diese Erpressungsversuche ein, obwohl die Reihenfolge der Schritte im Minsker Abkommen genau so festgeschrieben wurde: zuerst die Wahlen, dann die Schließung der Grenze. Kiew besteht auf einer prioritären Umsetzung derjenigen Punkte, die die Sicherheit des Landes garantieren. Moskau spricht im Gegenzug vorwiegend über die politische Seite des Abkommens. Die Art und Weise, in der Moskau mit den vereinbarten Punkten nach Gutdünken jongliert, kann die Ukraine nur ablehnen.
Politische Zugeständnisse an Russland werden in der Gesellschaft, die darin Verrat und Kapitulation sieht, negativ aufgenommen. Präsident Petro Poroschenko versteht die Situation und übt keinen Druck auf das Parlament aus. Dem Westen kann er mitteilen, für eine vollständige Implementierung des politischen Teils des Minsker Abkommens fehle die nötige Unterstützung der Abgeordneten. Würden die Gesetze trotz allem durchgedrückt, könnte dies zu gesellschaftlichen Unruhen mit unvorhersehbaren Folgen führen, so wie im August 2015, als rechtsradikale Kräfte vor dem Parlament eine Granate warfen und vier Kämpfer der Nationalgarde ums Leben kamen und hunderte Menschen verletzt wurden.
Schleichende Okkupation
Heute spricht man in der Ukraine immer öfter davon, dass die Minsker Abkommen wirkungslos seien. Die Gespräche in der weißrussischen Hauptstadt dauern zwar an, die Resultate bleiben allerdings gering: der Gefangenenaustausch wurde eingestellt, der Waffenstillstand existiert nur auf dem Papier, die Kämpfer beschießen zivile Objekte und zerstören die Infrastruktur im Donbass.
Anstatt sich unter Wahrung des Gesichts still aus dem Osten der Ukraine zurückzuziehen, fährt Russland fort Waffen in die Region zu liefern. Gleichzeitig verbreitet es weltweit Märchen, wonach das Land keine Terroristen unterstütze, sämtliche Waffen noch aus sowjetischen Beständen stammten, man diese in den Kohlegruben des Donbass gefunden oder den Streitkräften der ukrainischen Armee als Trophäen abgenommen habe. Ganz nach der Devise: „wir sind nicht dort, werden aber gewinnen“.
Außerdem hat Putin vor kurzem einen Erlass zur Anerkennung von „Dokumenten“ (Pässe, Ehe-, Geburts-, und Sterbeurkunden) unterzeichnet, die von den Behörden der selbsternannten Republiken ausgestellt wurden. Die staatliche „Sberbank Russland“ erklärte sich bereit, Bürger mit derartigen „Dokumenten“ zu bedienen (auch andere in Russland tätige Banken, A.d.R.). All das tut Moskau ausschließlich aus „humanitären Überlegungen“ und sieht darin keine Widersprüche zum Minsker Abkommen.
Das ukrainische Außenministerium sieht in dem Schritt jedoch eine bewusste Eskalation des Konflikts. Umso mehr als Putin seinen Erlass über die Anerkennung der falschen „Dokumente“ am selben Tag unterschrieb, an dem ein Treffen zwischen den Außenministern der Ukraine, Russlands, Deutschlands und Frankreichs stattfand. In Ergänzung zu russischen Panzern, russischen Schulbüchern, russischen Medien und russischen Rubeln, in denen die Okkupanten Gehälter und Renten auszahlen, gibt es nun auch von Russland anerkannte Ausweise.
Faktisch wird die Region in ein weiteres „Transnistrien“, oder wenn man so will einen „Transdonbass“ umgewandelt. Die Ausplünderung und „Nationalisierung“ der Industrieunternehmen in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten, die aber nach ukrainischen Gesetzen registriert wurden, unterstreichen nur ein weiteres Mal den Okkupationscharakter der Marinetotenrepubliken. So wurden bereits einige Fabriken im Donbass nach Russland „evakuiert“, worüber die russische Regierungspresse auch prompt berichtete.
Daher ertönen in der Ukraine immer öfter Stimmen, die ORDLO zu zeitweilig okkupierten Gebieten zu erklären und damit die gesamte Last der Verantwortung dem okkupierenden Staat zu übertragen. Entsprechende Gesetzesentwürfe wurden schon im Parlament registriert. Es wird auch mit einem Ausstieg aus dem Minsker Abkommen, welches nicht funktioniere, oder einem Wechsel des Formats geliebäugelt.
Die Kritiker vergessen dabei, dass die Umsetzung von „Minsk“ eng an die Sanktionen des Westens gegen Russland gebunden ist. Solange es keinen Fortschritt bei der friedlichen Beilegung des Konflikts gibt, wird es auch keine schrittweise Aufhebung der wirtschaftlichen und personellen Beschränkungen geben, wofür sich Russland derart aktiv einsetzt. In dieser Situation kommen ukrainische Experten zum paradoxen Schluss: „Minsk“ wird zwar nicht umgesetzt, funktioniert aber. Und bisher gibt es keine Alternativen. Andere Formate (unter Beteiligung Großbritanniens und Polens) sind ohne das Einverständnis Russlands nicht möglich.
Rufe nach einer Blockade des Donbass und der faktischen Aufgabe der Gebiete vonseiten oppositioneller Kräfte und einigen Teilnehmern der Kampfhandlungen treffen in der Präsidialadministration und der Regierung auf Ablehnung. Bisher hat die ukrainische Regierung der Gesellschaft jedoch noch keine klaren Strategien zur Beendigung der Okkupation und Reintegration der östlichen Gebiete sowie der Krim vorgeschlagen. Genau für diese Aufgabe wurde aber eigens ein Ministerium geschaffen. Bisher beschränkten sich die Aktivitäten der Regierung auf deklarative Konzepte und Programme zur Wiederherstellung des Friedens. Diese sollen zeigen, dass die Ukraine bereit ist, sich um alle ihre Bürger zu kümmern, dass der Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen nicht weniger wichtig ist, als die Befreiung der besetzten Gebiete.
23. März 2017 // Serhij Schebelist
Quelle: Zaxid.net