Modernisierung durch Krieg



Der Krieg im Donbass hat dem Rest der Ukrainer das Gesicht eines modernen Feindes gezeigt.

Wie auch immer ukrainische Historiker versucht haben zu zeigen, dass es keine Besonderheiten bei der Bildung der politischen Nation Ukraine gebe, dass es keinerlei Verzögerung bei der Modernisierung der Gesellschaft gab, früher oder später wird es uns beschieden sein, über „Verschlafenheit“ und Modernisierungs-Sprünge sprechen.

Es wird wahrscheinlich auch dies keine große intellektuelle Entdeckung sein, dass die großen Kriege die Lokomotiven für die verspätete ukrainische nationale Modernisierung wurden. Es ist bekannt, dass der Krieg und das Wettrüsten die wichtigsten Antriebe für technischen Fortschritt sind.

Wir wissen, dass mobile Kommunikation, Internet und viele andere technische Innovationen primär für das Militär entwickelt wurden. Aber Kriege haben nicht nur wissenschaftliche Entdeckungen beschleunigt und zur industriellen Entwicklung beigetragen, sondern haben auch eine Rolle gespielt als mächtiger gesellschaftlicher Modernisierer.

Die beiden letzten Weltkriege haben es den Ukrainern trotz der enormen menschlichen und materiellen Verluste, Verstümmelungen und Leiden ermöglicht, wirkliche Sprünge bei der Bildung einer modernen politischen Nation zu vollführen. Aber noch viel wichtiger ist in dieser Hinsicht der gegenwärtige Krieg, der im Donbass tobt.

Wenn es ans Kämpfen geht …

Der gegenwärtige Krieg im Donbass hat nicht nur einen Teil der nicht völlig der Ukraine gegenüber loyalen Bevölkerung abgeschnitten, er zeigte dem Rest der Ukrainer das Gesicht eines modernen Feindes: russischer Terrorismus, Donbasser Separatismus und Oligarchen-Clans im Osten des Staates. Wenn ich so eine Aussage treffe , verstehe ich, dass es von einem moralisch-ethischen Standpunkt aus nicht gerade korrekt ist, einen bedeutenden Teil der Mitbürger Feinde zu nennen. Aber wie soll man das Verhalten von Menschen bezeichnen, die den Staat, in dem sie leben, hassen, ihn für ein vorübergehendes Missverständnis halten und eng mit dem Angreifer an seiner Zerstörung arbeiten?

Menschlich kann man diejenigen Bürger verstehen, die Geiseln der Situation sind und leiden, die nicht die geringste Möglichkeit haben, den Lauf der Dinge zu beeinflussen. Aber man kann und darf nicht diejenigen verstehen, die mit Waffen in Händen gemeinsam mit dem ausländischen Aggressor gegen unseren Staat kämpfen.

Das Geschrei verschiedener „Barmherziger“, der Donbass habe das Recht auf Lostrennung, es sei ein echter Bürgerkrieg und es litten Zivilisten – findet keinen Widerhall in der ukrainischen Gesellschaft. Warum? Die Antwort ist furchtbar einfach: weil der Krieg im Donbass Teil eines Plans ist, wenn nicht der vollständigen Vernichtung so doch der Unterwerfung der Ukraine. Was bedeutet das? Die gesamte Zeit ihrer Unabhängigkeit, fast 22 Jahre lang, verweilte die Ukraine vollkommen im Fahrwasser Russlands. Russland behandelte die Ukraine wie der Bauer seine Kuh, die er nicht füttern wollte, der er daher erlaubte, eine Weile zu grasen, aber nicht nach Belieben. Und als diese begann, auf den benachbarten Bauernhof zu schielen, wo es reichlich Futter gab, wo ein gut gebauter Stall stand, und vor allem wo der Betrieb ein reiner Milchviehbetrieb war und keiner von Milch und Fleisch, da begann er sie zu schlagen und drängte sie zurück in ihren windschiefen Verschlag.

Vielleicht ist das nicht das zutreffendste Gleichnis, aber seine Pointe ist völlig verständlich. Als die Ukraine der Korruption, der Gaunerei, der Gesetzlosigkeit müde war, als sie erkannte, dass sie aus eigenen Kräften nicht viel bewältigen werde, dass sie die Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft benötige, da verkündete sie den Kurs der europäischen Integration.

Genau dies sahen Russland und seine Gefolgsleute, die Donezker-Luhansker Oligarchen nicht. Nachdem klar geworden war, dass der Staatsapparat die Bürgerprotestbewegung nicht mit Gewalt bezwingen konnte, da gaben sie den Weg frei für die zynischsten Methoden. Sie annektierten die Krim und begannen einen umfassenden Krieg im Donbass. Der Plan war einfach. Sollte es etwa nicht gelingen, ihn vollständig umzusetzen, also den gesamten Osten und Süden der Ukraine unter Kontrolle zu bringen, so würde er zumindest eine riesige klaffende Wunde schlagen, die jahrzehntelang bluten würde und, was am wichtigsten war, der Ukraine nie gestatten würde, sich zu erneuern und der Europäischen Gemeinschaft beizutreten. Diese Strategie hat der Kreml bereits einige Male gutgeheißen. Auf diese Weise wurde die Enklave der Unruhe in Transnistrien geschaffen, um so die gesamte Region zu kontrollieren und den Austritt Moldaus aus der Einflusssphäre Russlands zu verhindern, so wurde der Krieg gegen Georgien begonnen mit der Bildung von zwei marionettenartigen Quasi-Staaten.

Bei der ukrainischen Version hat sich Russland verrechnet. Erstens: Die Hoffnungen auf prorussische Stimmungen im Osten und Süden der Ukraine waren stark übertrieben. Zweitens: als Grundlage für seine strategischen Pläne wählte Russland das Postulat, dass es keine eigene ukrainische Nation gebe, und deshalb auch niemand diesen „Nicht-Staat“ besonders verteidigen werde. Drittens: trotz einer massiven, Jahre währenden Informationskampagne, ein Image der Ukraine als eines modernen faschistischen, nazistischen und antisemitischen Staates zu schaffen, ist es Russland nicht geglückt, hierin die internationale Gemeinschaft zu überzeugen. Dem russischen Märchen glaubte weithin nur die Bevölkerung des Donbass.

Am Schlimmsten ist: die Elite des Donbass hat nicht nur diesem Plan zugestimmt, sie unterstützte ihn nachdrücklich und versuchte damit auch Kyjiw zu erpressen. Die Erpressung ist fehlgeschlagen und der Angriff im Sande verlaufen. Ein Großteil der Bevölkerung des Donbass hat, ohne zu ahnen, zu welchen katastrophalen Folgen dies führen könnte, das Feuer praktisch auf sich gezogen. Ich vermute, man rechnete damit, dass Russland ein zweites Mal die Krim-Geschichte wiederholen würde, diesmal im Donbass. Wenn aber auf der Krim, wo keine ernsthafte Unterstützung seitens der lokalen Bevölkerung zu spüren war, die Ukrainer sich ohne Kampf zurückgezogen haben, so musste es im Donbass unbedingt in einem Krieg enden. Im Donbass musste man bereits jeden Meter ukrainischer Erde verteidigen, damit sich der verheerende Flächenbrand nicht auf den Rest der Oblaste ausdehnte.

Krieg wofür?

Sehr oft kann man hören, dass man für „diesen“ Donbass möglicherweise nicht kämpfen solle, „sie“ nicht das Blut unserer besten Patrioten wert seien. Aber wenn man sich die Situation ohne Vorurteile anschaut, so kämpfen in der Tat die ukrainische Armee und die Freiwilligen nicht so sehr für den Donbass, als dass sie versuchen, den Feind aufzuhalten und ihn nicht weiter in das Landesinnere hereinzulassen. Sie kämpfen nicht dafür, um die der Ukraine gegenüber illoyale Bevölkerung des Donbass zu demütigen, sondern dafür, um den Staat zu schützen und ihm eine friedliche europäische Perspektive zu sichern.

Natürlich ist Krieg eine Tragödie. Aber wenn er begonnen hat und andauert, dann gibt es keinen anderen Ausweg als sich zu schützen und die Aggression abzuwehren. Nun aber einiges zum Leiden der Bevölkerung im Donbass. Gab es im Donbass eine andere Wahl außer Krieg? Es gab sie. Wären die Finanz- und Industrie- und Polit-Eliten des Donbass nicht dem feindlichen antiukrainischen Plan zu Beginn des Konfliktes beigetreten, hätten sie deutlich ihre Position artikuliert und ohne Erpressung ihre Forderungen gegen Kyjiw formuliert, dann hätte das Problem auf völlig legitime Weise gelöst werden können.

Hätte die Elite des Donbass in der für das Land schwierigsten Zeit Kyjiw nicht erpresst, die Abtrennung angedroht und gefordert, „Tribute“ zu zahlen in Form jährlicher Abgaben in Höhe von 15 Milliarden Hrywnija (nach dem Wert vor dem Krieg, etwa 1,5 Milliarden Euro), und die Idee der Dezentralisierung des administrativ-politischen Systems in der Ukraine vorgebracht, dann wäre es nicht zum blutigen Gemetzel gekommen. Hätten sich die Donezker Oligarchen nicht in die Gewänder der Verteidiger des „Arbeitervolkes des Donbass“ gekleidet und es nicht mit Waffen ausgestattet, und dabei gegen den ukrainischen Staat aufgehetzt, um zu versuchen, Rache zu nehmen für die Vertreibung vom Futtertrog in Kyjiw, dann wäre es auch nicht zum Krieg gekommen.

Und die Hauptsache, was hat die Ukraine dem „Volk“ des Donbass so Schlimmes zugefügt, dass es so leicht jeglichem Unsinn russischer und Donezker Propaganda glaubte? Wessen hat Kyjiw sich so schuldig gemacht und was hat es angestellt, außer dass es das gaunerische Regime Donezker Herkunft von der Macht in der Ukraine entfernt hat, dass es solch einen gerechten Zorn und Hass in der Bevölkerung des Donbass verursacht hat, welche nun an die Geschichten von der „faschistischen Junta“ und die „Vernichtungskommandos“ glauben?

In Wirklichkeit war der Donezker Schrei „Hört den Donbass!“ nichts anderes als ein Aufruf, das Spiel zu ändern, die Ukrainer von den Plänen der Euro-Integration abzubringen, die staatliche Unterlegenheit der Ukraine anzuerkennen und vor Russland zu kapitulieren. Aus den Worten „Hört den Donbass“ war zu vernehmen: „Vergiftet nicht unser Leben, wir wollen nach Russland, wir hassen die Ukraine, erlaubt uns zu gehen!“

Aber da Russland den depressiven und subventionierten Donbass nicht brauchte, so war auch Moskaus Forderung an ihn in Wirklichkeit eine ganz andere: „Wir nehmen Euch nur unter der Bedingung auf, dass Ihr uns in den Zähnen den Leichnam des ukrainischen Staates mitbringt.“ Genau hierdurch hat sich im Rest der ukrainischen Gesellschaft die Einstellung zur Bevölkerung im Donbass grundsätzlich verändert. Wenn man nämlich in einer Reihe mit dem Feind steht, dann wird man selber in einen Feind verwandelt. Man wünschte hier gerne toleranter und korrekter formulieren, insbesondere in Hinblick auf das Leid der Zivilbevölkerung in der Konfliktzone, aber das gelingt nicht.

Eine Region, die die ukrainische Regierung nicht erreicht hat

Nun ein wenig über die Politik des ukrainischen Staates im Ost-Gebiet. Die Zentralregierung in Kyjiw ist nicht einmal in der gesamten Geschichte der Unabhängigkeit den Kadern aus dem Osten oder Süden geraubt worden. Im Gegenteil, genau von hier wurden Ministerpräsidenten, Schlüsselminister und Präsidenten (der Autor unterschlägt, dass beispielsweise Leonid Krawtschuk aus der Westukraine und Wiktor Juschtschenko aus der nördlichen Zentralukraine stammen, A.d.R.) rekrutiert. Krim und Donbass waren immer jene besonderen Regionen, von denen sich das hauptstädtische Kyjiw sich seinerseits kaufen lassen musste: Subventionismus, Sondervorrechte bei den staatlichen Aufträgen und beinahe vollständige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten dieser Regionen.

Um ehrlich zu sein, dort hat es niemals eine ukrainische Regierung gegeben. Erinnern wir uns nur an die Zeiten der Präsidentschaft Juschtschenkos, als es ihm und seinen Ministern nicht erlaubt war, sich im Donbass sehen zu lassen. Donbass und Krim waren die wirklichen Erhalter der Oligarchen und der Politiker von der Partei der Regionen. Dank ihrer Zahl konnten diese Regionen die Innen- und Außenpolitik der Ukraine so „korrigieren“, dass von keiner Entwicklung und Euro-Integration die Rede sein konnte.

In dieser Hinsicht waren sie treue Verbündete Russlands, denn sie hätten nie den Ukrainern erlaubt, auf einen demokratischen, legitimen Weg aus seinem Einflussbereich auszubrechen. Diese Regionen hätten weder den NATO-Beitritt noch den EU-Beitritt gestattet. Jedes Mal funktionierten entweder die alten Propaganda-Stereotypen oder die Angst vor Verlust der Arbeit durch Schließung unrentabler Fabriken. Außerdem ist es den Ukrainern nicht geglückt, das Oligarchen-Clan-System zu überwinden, denn dort ist ihre „Heimat“, dort liegt das „Koschtschej“-Herz. [W.R. verweist hier auf eine nahezu unsterbliche russische Mythen-Gestalt]. Genau in dieser – und nicht in menschlicher Hinsicht – wurden Krim und Donbass ein wirklicher Ballast für die Ukraine.

Interessant ist auch das Phänomen der Beschwerden in der Ukraine, ein Groll über die Schwäche der ukrainischen Regierung und gleichzeitig, dass der Staat von Zuwanderern aus dem Donbass regiert wurde. Dies verursachte in den Köpfen der Einwohner des Donbass und der Krim keinen Widerspruch. In ihnen baute sich irgendwie eine parallele Wahrnehmung der Wirklichkeit auf: Die Donezker und die Ukrainische. Hierbei wurde alles Ukrainische automatisch mit negativem Beigeschmack aufgefasst.

Vor kurzem konnte man die Ansicht hören, dass die Bürger der Ukraine das erste Mal in ihrer ganzen Geschichte sich nicht über die Ergebnisse der Parlamentswahlen Sorgen machten. Selbst trotz eines verworrenen gemischten Wahlsystems, ohne die Krim und ohne einen Großteil des Donbass, machte das Ergebnis keine Angst mehr. Jener Teil der Partei der Regionen, der unter dem Deckmantel des „Oppositionsblocks“ ins Parlament einzog, kann bereits kein politisches Wetter erzeugen, kann weder Reformen noch die Bewegung der Ukraine nach Europa anhalten. Und er ist notwendig für das Funktionieren eines demokratischen Parlaments.

Aber worin besteht die Modernisierungs-Funktion dieses Krieges? Auch wenn das zynisch klingt, lautet die Antwort: In der Konsolidierung der Nation, er rief in der Gemeinschaft Ziele für die Zukunft hervor, und gerade in der Gegenwart des gemeinsamen Feindes.

Der renommierte Politikwissenschaftler Karl Deutsch hat seiner Zeit die These aufgestellt, dass nichts eine Nation so sehr vereint wie ein gemeinsamer Feind. Es ist sehr bedauerlich, dass sich diesem kollektiven Feind ein großer Teil der Mitbürger angeschlossen hat.

Auf den ersten Blick mag sich der Eindruck ergeben, dass in der Ukraine ein Bürgerkrieg andauert. Man könnte argumentieren, wenn es nicht davor die Annexion der Krim gegeben hätte, wenn der Krieg nicht begonnen hätte durch die externe Aggression Russlands gegen die Ukraine, dann wäre der Donbass nicht ein bequemes Sprungbrett für die Umsetzung des Plans geworden, den ukrainischen Staat zu zerstören. Und tatsächlich haben wir bislang einen Krieg für die Unabhängigkeit der Ukraine.

P.S. Im zweiten Teil wird die Rede sein vom Ersten und Zweiten Weltkrieg als Rolle der Modernisierung, von dem, wozu sie führten, und von der Notwendigkeit zu einem Abschluss eines neuen Gesellschaftsvertrages.

22. Januar 2015 // Wassyl Rassewytsch

Quelle: Zaxid.net

Lesen Sie die Fortsetzung im zweiten Teil. und dritten Teil.

Übersetzer:    — Wörter: 2124

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.