Nach dem Maidan: Ist ein Sieg möglich?
Nach den tragischen Geschehnissen vom 18.-20. Februar hat die talentierte Autorin Natalja Jeromenko einen Artikel unter dem Titel „Einen Sieg wird es nicht geben“ veröffentlicht. Der Text ist in den schwierigsten Zeiten der Revolution entstanden und sehr gewaltig und stark geschrieben worden. Vielleicht ist es ein Zeichen schlechten Geschmacks, auf Worte zu reagieren, die vor über drei Monaten geschrieben wurden, aber es lohnt sich, zu einigen wichtigen Dingen zurückzukehren, die dieses Thema berühren.
Mit der Mehrheit der Thesen der Autorin kann man sich ganz zufriedengeben, aber, wie Swjatoslaw Wakartschuk [der Sänger der berühmten ukrainischen Band „Okean Elzy“, Anm.d.Ü.] singt, das alltägliche „Aber“ hindert uns daran, ans Meer zu gehen. Ihren Text beginnt Natalja mit dem Satz: „Wenn nach dem Holocaust keine Dichtung mehr möglich ist, so ist nach dem 18. Februar ein Sieg nicht mehr möglich“, vergessend, dass der Autor des erstens Teils dieser Sentenz, Theodor Adorno, später seine Meinung geändert hat. Und dies ist nur natürlich, weil sich mit der Zeit die Emotionen legen, und man beginnt, die Welt wieder mit anderen Augen zu betrachten. Einen Sieg gibt es nicht – das ist wissentlich falsch, das ist zum Scheitern verurteilt. Ja, es gibt ihn zu diesem Zeitpunkt nicht, aber wir müssen entscheiden, was diesen Sieg ausmacht und wie er zu erreichen ist.
Die Ukrainer unterscheiden sich von den Russen und einer Reihe anderer Völker dadurch, dass die einen überwiegend den „Siegertyp“ verkörpern, während die anderen zum „Opfertyp“ gehören. Für die „Siegertypen“ heiligt der Zweck die Mittel und die Anzahl an Opfern spielt keine Rolle. Das auffälligste Beispiel dafür könnte der Zweite Weltkrieg sein – als es keine Rolle spielte, wie viele Leute starben. Das Wichtigste war der Sieg, um den herum man praktischerweise eine Mythologie erschuf. Ein nicht weniger eindrucksvolles Beispiel dieses kollektiven Bewusstseins der Russen sind die zwei Tschetschenienkriege. In der Dimension des Kremls enthält dieses Verhaltensmodell einige ungesunde und gefährliche Anzeichen mit manischen Zügen von Messianismus, von Denk- und Verhaltensweisen von Straßenjugendlichen [den sogenannten „Gopniki“, einer meist kriminellen und aggressiven postsowjetischen Subkultur, Anm.d.Ü.] und von Verfolgungswahn, wodurch allen in der Nähe die Diagnose der Propaganda sowie eine Reihe weiterer Diagnosen gestellt wird.
Die ukrainische Gesellschaft ist dagegen viel humaner. Die Ukrainer sind sich leider darüber im Klaren, dass die ukrainische Geschichte nicht ohne Beruhigungspillen gelesen werden kann [Anspielung an ein Zitat des Dichters Wynnytschenko, Anm.d.Ü.]. Dies deutet auf die tiefe Verwurzelung der Opfer-Mentalität hin, zu der sehr gut die These „einen Sieg wird es nicht geben“ passt. Der Humanismus und die Wertschätzung eines jeden einzelnen menschlichen Lebens sind schön und gut, aber die andauernde Betonung der Opferrolle führt zur Herausbildung eines Opferkomplexes. Deshalb sollte das nationale ukrainische Narrativ nicht zu einer Erzählung über kontinuierliches Leid und Verlust verkommen. Die Erinnerung an die Gestorbenen sowie ihre Ehrung sind ein wichtiges Element in der nationalhistorischen Politik. Aber in der nationalen Erinnerungspolitik sollte man nicht den Tod in einen Kult umwandeln, man sollte nicht alles Nationale nur um die gefallenen Helden herum schmücken. Das Gedenken sollte genauso wenig spaltend wie pathetisch mythologisierend sein.
Schauen wir uns mal im Kalender wichtige Ereignisse und Gedenktage an, die unsere Nation feiert. Wenn wir kirchliche und andere Feiertage außer Acht lassen, dann gibt es außer einer Reihe sowjetischer Atavismen im Kern eigentlich nichts. Einige Feiertage sind Gedenktage und Ehrungen der Gefallenen im Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine. Wir feiern keine unserer siegreichen Schlachten in entsprechendem Ausmaß – weder den Sieg der Schlacht bei Schowti Wody [wichtiger Sieg des Kosakenführers Bohdan Chmelnyzkyj gegen die polnisch-litauischen Truppen 1648, Anm.d.Ü.] noch den der Schlacht bei Konotop [im Polnisch-Russischen Krieg 1659, unter dem Kosakenführer Iwan Wyhowskyj, Anm.d.Ü.] noch irgendeinen anderen Sieg, aus Angst, die Nachbarn zu beleidigen. Einige der Nachbarn dagegen schlagen kühn vor, gemeinsam unsere Niederlagen zu feiern. Und, was am seltsamsten ist, bis jetzt haben die Ukrainer dieses Vorgehen gutgeheißen. Deswegen ist es nicht merkwürdig, dass im kollektiven historischen Bewusstsein der Ukrainer die Opfermentalität und das Gefühl ewiger Niederlage vorherrschte.
Aber die Opferrolle hat noch eine andere Dimension. Es geht nicht nur um die Bereitschaft, sich selbst für andere zu opfern, sondern auch um den Wunsch zu leiden. Also dieser Wunsch, als Märtyrer zu erscheinen, damit dich die anderen bedauern, oder sich selbst sehr stark zu bedauern. Diese Lesart muss man einmal einer genaueren Betrachtung unterziehen. Dieses Selbstbemitleiden ist nicht weniger eine Störung als ein paranoides und unverdientes Lob der eigenen unbedeutenden Handlungen – im Kern sind das die beiden Seiten derselben Medaille.
Die Verhaltensweise des „Opfers“, in der es keine positiven Botschaften und Signale gibt, kann sich negativ auf die Gesundheit und Psyche der Menschen auswirken. Kein Wunder also, dass die Ärzte vom Maidan Alarm schlugen, dass tausende Demonstranten psychischer Hilfe bedürfen, und zwar schon in der ersten Woche, nachdem Demonstranten vom Maidan auf der Institutska-Straße erschossen wurden. Diese Geschehnisse vom 18.-20. Februar hat alle sehr mitgenommen, besonders schwer war es für jene, die Zeugen schrecklicher Mordszenen wurden oder ihnen nahestehende Menschen verloren. Damit kann man nur schwer leben, und diese Gefühle nicht richtig zu verarbeiten, ist sehr gefährlich.
Die Geschehnisse um die Krim und den Donbass verstärken nur die Spannung in der Gesellschaft. Die Nachrichten sind voll von düsteren Berichten von der Kampffront der antiterroristischen Operation. Jeden Tag erfahren wir von neuen Opfern. All das kann die Menschen nur bedrücken. Sogar die Präsidentschaftswahlen und die Erklärung der EU, ein Abkommen über die Freihandelszone zu unterzeichnen, sind keine richtige Lösung. In der Tat kann man sich nicht wirklich über etwas freuen. Wie Natalja Jeromenko schreibt: „Da, wo es Tote gibt, gibt es keinen Sieg.“
Es ist dringend notwendig, dass man von all diesen Varianten der „Opferrolle“ loskommt, so dass nur die Menschlichkeit und die Erinnerung übrig bleiben, also der gesunde Teil dieser menschlichen Verhaltensweisen.
„Einen Sieg wird es nicht geben“ – das ist das tatsächliche Motto der zivilisatorischen Wahl der Ukraine und dessen extreme Offenbarung: Human, mit einem menschlichen Gesicht also, und mit dem Bewusstsein, dass wir im 21. Jahrhundert leben. Im Falle unseres Nachbarn Russland dagegen haben wir es jedoch mit einem Staat zu tun, der mental irgendwo zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert steckengeblieben ist, mit den diesen Zeiten entsprechenden Merkmalen der Kriegsführung, jedoch gleichzeitig die modernen Errungenschaften in militärischen Angelegenheiten nutzend.
Die Aggression Russlands im Osten der Ukraine illustriert sehr anschaulich diesen Unterschied zwischen unseren Ländern und den beiden Verhaltensmustern – dem ??„Sieger“??-Modell und dem ??„Opfer“??-Modell. Zwischen diesen beiden Wertesystemen – dem östlichen und dem westlichen, die auf eine zivilisatorische Störung deuten, liegt das, was sich jetzt irgendwo im Donbass ereignet.
Adorno hat später seine Frage in etwa so geändert: „Kann man ein Gedicht über den Holocaust schreiben?“ Wenn man diese Frage an unsere Situation anpasst, so würde sie in etwa so lauten: „Kann man den Sieg des Maidan feiern?“ Man kann es, wenn er wirklich endlich eintritt, aber nur, wenn man nicht jene vergisst, die ihn möglich gemacht haben. Ohne übermäßigen Pathos und Prunk. Und dieser Sieg kann ein Fundament einer grundlegend anderen Ukraine sein: Ohne Korruption, ohne Neid aufeinander, ohne verdreckte Straßen, ohne eine übermäßige Opfermentalität, dagegen mit einem neuen effektiven Regierungssystem und neuen Politikern, die die Interessen der Nation wahrnehmen und nicht ihre eigenen; mit einer Gesellschaft, die diese nicht entgleisen lässt, und ihre Tätigkeiten ständig kontrolliert; mit einer leistungsstarken Armee und – entschuldigen Sie die Banalität – einem friedlichen Himmel über dem Kopf.
Und um das alles zu erreichen, genügt es nicht, einfach nur im Land aufzuräumen. Bisher haben wir es mit einem halbverrückten Russland und seiner nicht weniger verrückten Regierung zu tun. Die größte Ironie des Schicksals besteht darin, dass man für die humanistischen Ansichten, in denen das Leben den höchsten Wert darstellt, bis zum Tode kämpfen muss. Und dies muss man mit einem Staat und seinen fügsamen Untertanen tun, für die das menschliche Leben keinen einzigen Pfennig wert ist.
02. Juni 2014 // Nasarij Sanos
Quelle: Zaxid.net