Nadeschda Sawtschenko - ein Gast aus der Vergangenheit



Drehbuchschreiber haben ein Lieblingsszenario über die Verlegung der Hauptfigur in der Zeit. Wenn ein Mensch aus einer Realität herausgerissen und in eine andere geworfen wird. Und sein weiteres Schicksal läuft auf die Suche nach seinem Platz hinaus.

Jetzt ist es die Geschichte über Nadeschda Sawtschenko.

Hier sehen wir, wie sie auf dem Flughafen versucht schreiend zu denen vorzudringen, deren Verwandte im Krieg starben. Und hier ist sie barfuß auf dem Asphalt umgeben von Kameras. Und nachfolgend bei der Verleihung des Titels „Heldin der Ukraine“ – sie durchpflügt die Luft mit prägenden Phrasen. Und wir schauen auf dieses Bild und versuchen zu begreifen, welcher Art sie ist – die ukrainische Nadeschda.

Und sie ist ein Mensch aus unserer kürzlichen Vergangenheit. Aus dem Juni des Jahres 2014. Desselben, als in Slawjansk noch Strelkow war. Aus Mariupol werden die Separatisten vertrieben. In Lugansk wird die IL-76 mit den Fallschirmjägern abgeschossen. Irgendwo im Norden der Stadt kämpft Aidar und die Separatisten nehmen die Pilotin gefangen.

Als sie in ihr letztes Gefecht zieht, übt Turtschinow noch die Präsidentenpflichten in der Ukraine aus – Pjotr Poroschenko schwört seinen Amtseid erst drei Tage später. Die Rakete der Buk schießt die malaysische Boeing erst einen Monat später ab. Und die ukrainische Armee gerät in den russischen Kessel bei Illowaisk erst zwei Monate später.

Die Minsker Vereinbarungen, der Abzug schwerer Waffen, die Legalisierung der Freiwilligenbataillone, der Syrieneinsatz – all das weiß Nadeschda Sawtschenko im besten Fall aus den Erzählungen ihrer Anwälte.

Als sie in Gefangenschaft genommen wurde, galt Semjon Sementschenko als aussichtsreicher Befehlshaber. Kolomojskij war Chef der Dnepropetrowsker Gebietsverwaltung. Die Gruppe der Freiwilligen (im Parlament A.d.Ü.) existierte noch nicht. Die russischen Medien diskutierten ernsthaft die Bildung von „Neurussland“. Meinungsführer wurde jeder, der Reime auf den Familiennamen des Präsidenten der Russischen Föderation machte.

Das Fenster der Möglichkeiten im Land war derart groß, dass jeder der wollte, hindurchsteigen konnte.

Alle nachfolgenden Monate verengte es sich: die Hoffnung auf die sofortige Revolution machte der Wette auf eine lange und ermüdende Evolution Platz. Doch damals, im Juni 2014, war der öffentliche Streit Alexander Wilkuls mit Boris Filatow in dem Maße unmöglich, wie eine Revanche des Oppositionsblocks.

Denn Nadeschda Sawtschenko kommt eben von dort – aus dieser Realität, die es bereits vermochte in unserem Gedächtnis abzukühlen.

Sie kommt aus dem Raum des schwarz-weiß, aus der Logik des Krieges, die keinen Platz für Halbtöne lässt. Sie ist aus einer Welt, in der ein Zugeständnis die Niederlage bedeutet und ein Kompromiss der Kapitulation gleichkommt.

Es versteht sich, dass sie die letzten zwei Jahre nicht in einer Anabiose weilte. Doch ist es naiv zu denken, dass ihre Vertiefung in die ukrainische Tagesordnung derart detailliert war, wie bei jedem der Leser dieses Textes. Dazu kommt, dass sie diese zwei Jahre im Kampf mit einem System verbrachte, das versuchte sie zu verdauen. Und ihr Kampf war kompromisslos.

Doch in diesen zwei Jahren vermochten wir alle uns zu ändern.

Im Sommer 2014 schienen die Worte Jurij Birjukows darüber, dass er für die Freiwilligenbataillone Winteruniformen kauft, defätistisch. Doch heute sind wir daran gewöhnt, dass der Krieg nicht nur eine Schlacht der Soldaten ist, sondern auch ein Wettkampf der Rückräume. Und in der Rolle dieses Hinterlandes erwies sich das gesamte Land. Das gezwungen ist, nicht vom Raum des Wünschbaren, sondern des Raumes der Möglichkeiten auszugehen.

Man sagt, dass als Michail Chodorkowskij in Freiheit kam, er die ersten Monate aktiv die sozialen Netzwerke studierte. Einfach deswegen, weil der Ex-Chef von Jukos bereits 2003 hinter Gitter geriet, als Mark Zuckerberg noch ein Telefon mit Knöpfen benutzte und nicht einmal über den anstehenden Ruhm nachdachte. Und die ersten Monate konnte der Pressedienst des ehemaligen Oligarchen ihm sein Tablet nicht abnehmen: er schrieb in Facebook selbstständig, stritt sich mit jedem Troll und vermochte es in den Kommentaren nicht wenige Dinge auszusprechen, die jeden Pressesprecher um den Verstand bringen können.

Das ist eine Frage der Anpassung.

Im Unterschied zu Chodorkowskij hat Nadeschda Sawtschenko keine zehn Jahre hinter Gittern verbracht. Doch vom Sättigungsgrad her könnten sich die vergangenen zwei Jahre für die Ukraine als vielleicht noch konzentriertere Periode erweisen. Und in diesen siebenhundert Tagen vermochten Idole und Outsider einige Male ihre Plätze zu tauschen und die vorherigen Wasserscheiden gerieten ins Vergessen, dabei Platz für neue machend.

Nadeschda Sawtschenko steht ein Eintauchen in die Ukraine bevor. In den Staat, den es im Juni 2014 noch nicht gab. Es ist kaum dasselbe Land, von dem die ukrainische Pilotin träumte, als sie im Rostower Untersuchungsgefängnis saß. Doch in diesen zwei Jahren gewöhnten sich viele ihrer Mitbürger an den Gedanken, dass noch bevorsteht, die Ukraine zu errichten. Und dass die derzeitige Etappe eine zwischenzeitliche und noch nicht die abschließende ist.

Und auf dem Weg steht uns noch bevor, Nadeschda Sawtschenko kennenzulernen.

Die Offizierin, die Wasser und Feuer durchlief, und jetzt an die schwere Prüfung mit den Kupferrohren geht. Wir sind auch gewöhnt daran, sie lediglich als Symbol zu sehen: der Standfestigkeit und Verzweiflung, der Selbstlosigkeit und Unbeugsamkeit. Doch ist sie ein lebendiger Mensch und der Versuch ihr blind unser symbolhaftes Cliché überzustülpen, wird unvermeidlich Enttäuschung hervorrufen. Sie hat uns zwei Jahre ihres Lebens geschenkt im Verlaufe derer sie als Ikone und Denkmal diente.

Doch es wäre ein Fehler ihr das Recht Mensch zu bleiben zu nehmen, der bekanntlich vor nichts gefeit ist.

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 872

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